Название | Die Leben des Gaston Chevalier |
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Автор произведения | André David Winter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907475 |
»Sie wissen schon, wen ich meine«, sagte der Lehrer und blickte ihn streng an.
So kam es, dass der Pfarrer bei Madame Chevalier vorsprach. Er war selbst regelmäßiger Gast im Haus, um den Filles de joie von Zeit zu Zeit moralischen Beistand zu leisten, wie er es nannte.
Natürlich war es Madame Chevalier nicht entgangen, wie die Leute bei ihren gelegentlichen Einkäufen im Dorf hinter ihrem Rücken tuschelten. Auch sie machte sich Gedanken. Gaston wurde älter, neugieriger, verständiger. Schon jetzt stellte er Fragen, die nicht mehr leicht zu beantworten waren.
»Warum ist der Bürgermeister, der doch schon verheiratet ist, nun auch mit Odette verheiratet?«
»Von wem hast du das?«
»Sie selbst hat es mir gesagt.«
Ein andermal fragte er, warum Monsieur Roux, der Arzt, der doch kein Kind mehr war, an Madeleines Brust nuckelte.
Gütiger – sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Wenn sie nur daran dachte, der Junge könnte etwas davon in der Schule erzählen, wurde ihr kalt und heiß zugleich. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Sie wusste, dass auch Gaston litt. Sein Lachen erklang viel seltener, er weinte nachts im Schlaf. Trotzdem würde sie ihn auf keinen Fall ins Waisenhaus geben, wie es der Pfarrer vorgeschlagen hatte. Schließlich war er nicht Waise, er hatte einen Vater.
Als Yves das nächste Mal zu Besuch kam, erinnerte sie ihn an seine Pflichten und sein Versprechen, etwas Passenderes für den Jungen zu finden. Natürlich wusste sie, dass er dafür nicht das Geld hatte.
»Mais alors – was kümmert’s mich«, gab ihr Yves zur Antwort. »So wird Gaston eben ein Zirkuskind. Wie sein Vater.« Und wie ich, als ich jung war, erinnerte sich Yvonne. Alle Chevaliers waren Zirkusleute. Sie sieht sich auf den Schultern ihres Vaters stehend durch die Manege reiten. Hört den Applaus des Publikums. Waren es nicht schöne Jahre?
In der Remise stand noch ihr alter Zirkuswagen. Sie beschloss, Yves das Geld für die Reparatur und einen Gaul vorzustrecken. Er würde es ihr so wenig zurückzahlen wie die Ausgaben für Gaston, die sie fein säuberlich auf eine Seite in ihr großes Kassenbuch eingetragen hatte. Dafür hätte sie ein Maul weniger zu stopfen.
Sie riss das Blatt aus dem Kassabuch. Es war entschieden. Für Gaston würde ein neues Leben beginnen.
III
Gaston war außer sich vor Freude, als sein Vater ihm sagte, dass er ihn nun mitnehmen werde.
»Kannst du denn jetzt schon schreiben?«
»Ja, nur noch nicht so schön.«
»Es wird reichen, um aufzuschreiben, wie viel Geld wir verdienen.«
»Werde ich jetzt Alceste kennenlernen? Oder die Frau mit Bart?«
»Oh, nein – wir werden alleine auftreten, der Grand Cirque ist in Amerika auf Tournee.«
Gaston machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Warum gehen wir nicht mit?«
»Weil Amerika viel zu groß ist für uns Winzlinge und weil wir zwei unseren eigenen Zirkus machen. Yves, der Schlangenmensch, und Gaston, der Bär.«
Das Gesicht des Jungen hellte sich wieder ein wenig auf.
Am Tag ihrer Abreise standen, trotz der frühen Stunde, alle im Hof, um die beiden zu verabschieden. Madame Taillard und die grandes Sœurs weinten, auch Madame Chevalier verdrückte eine Träne. Alle hatten ein Abschiedsgeschenk für sie, obwohl sie den Wagen schon mit Vorräten und Spezereien gefüllt hatten. Gaston saß in einem Matrosenanzug, ein Hütchen mit einem lustigen Pompon auf dem Kopf, neben seinem Vater und weinte ebenfalls. Aus Freude oder Schmerz. Er wusste es nicht. Als ahnte er das Glück und die Not der kommenden Jahre, in denen er, wie alle, irgendwann in der Rolle verschwand, die er für das wirkliche Leben hielt.
»Kommt uns besuchen, versprecht es«, riefen die Mädchen und liefen neben dem Wagen her.
»Nächsten Sommer, versprochen«, antwortete Yves und knallte mit der Peitsche. Die Pferde fielen in Trab.
Paulette rannte mit und drückte Gaston ein kleines Päckchen in die Hand.
»Pass darauf auf und bring es mir zurück«, rief sie ihm zu.
»Pass auf dich auf.«
Sie drückte noch einmal seine Hand.
»Komm zurück, mein Junge.«
Gaston sah Tränen über ihre Wangen rollen.
Als sie am Pfarrhaus vorbeifuhren, hielt die Pfarrköchin sie an und gab ihnen einen gut durchwachsenen Speck und einen Sack Kartoffeln mit.
»Mit liebem Gruß vom Pfarrer.«
»Bestellen sie ihm einen ebensolchen«, nickte Yves und lüpfte den Hut.
Sogar der Lehrer stand beim Schulhaus und schenkte Gaston das Lexikon, das er ihm einst ausgeliehen hatte.
Alle begleiteten sie Vater und Sohn bis zur Brücke. Dort blieben sie stehen und winkten ihnen lange nach. Bis ihr Wägelchen zu einem Punkt wurde, der mit einem Mal verschwunden war.
Schon im nächsten Ort musste Gaston seinen Anzug aus- und irgendwelche Lumpen anziehen. Statt seines Hütchens trug er die abgewetzte Schiebermütze seines Vaters, Yves setzte sein altes Béret auf.
»Der Anzug ist ein Geschenk von Mémère. Warum muss ich ihn ausziehen?«
»Darum.«
»Ich will aber nicht.«
Statt einer Antwort bekam er eine Ohrfeige.
Bald schon war ihm klar, weshalb er seine geliebten Kleider nicht mehr tragen durfte: Lumpen erregten Mitleid, die Leute gaben einen Sou oder zwei mehr.
Ebenso rasch musste er erkennen, dass der Mann, der ihn besucht hatte, ein anderer war als der, mit dem er die nächsten Jahre durchs Land ziehen sollte. Yves Chevalier war nicht nur ein Céphalopode, oft stand bei ihm alles Kopf, war er sein eigenes Gegenteil und selbst wie umgedreht. Von einem Moment auf den anderen wurde er aufbrausend und jähzornig. Es kam aus heiterem Himmel. Wie ein Gewitter. Und so schnell, wie es gekommen war, war es meist wieder vorbei. Zu Beginn sah Gaston es nicht kommen, aber er lernte schnell, dass am besten mit Papa auszukommen war, wenn er für seine Pernods sorgte. Oder ihm half, eine petite Fille für ein Stündchen oder eine Nacht zu finden. Am besten beides. Dann konnte man alles von ihm haben.
»Ist das Leben nicht schön, Gaston. Willst du noch eine Portion? Wirt, bringt noch eine Portion für meinen Jungen. Und zwei Gläser vom Cidre für mich und die Kleine.« Er knuffte der Kleinen in die Seite, die vor Vergnügen quietschte.
So zuckelten sie mit ihrem Klepper von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Durch ganz Frankreich und Belgien.
Schon bald kannte Gaston den Ablauf, er war überall gleich: früh aufstehen, Kaffee machen, mehrere Stunden Exercises, am Schluss eine halbe Stunde Boxen. Gaston hasste es.
»Du wirst noch einmal froh sein darum«, meinte Yves nur und nutzte Gastons mangelhafte Deckung.
»Aua …«
Danach essen, eine kurze Pause und endlich: Le grand Spectacle!
Nachdem sie ihr Plakat auf dem Dorfplatz aufgestellt hatten, legte Yves seinen Teppich aus und wartete im Kopfstand aufs Publikum. Winkte den Vorbeigehenden zu und fragte nach dem Weg. Schob sich ein Ei in den Mund und holte es aus einem Ohr heraus.
Gaston zog seine Schiebermütze in die Stirn und ging durchs Dorf. Mit hoher Stimme rief er die Leute herbei:
»Messieurs, Mesdames, kommen und staunen Sie. Yves Chevalier, der Mann ohne Knochen, verknotet sich vor ihren Augen. Das hat die Welt noch nicht gesehen. Kommen und staunen Sie, sehen Sie selbst …«
Eine Handvoll Leute kam immer und sah, wie