Название | Die Leben des Gaston Chevalier |
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Автор произведения | André David Winter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907475 |
Es war, wie Yves gesagt hatte, Gaston war noch da. Wie durch ein Wunder hatte er seine Jahre als Tier überlebt. Und nun war immer jemand für ihn da, spielte, tanzte, sang mit ihm. Rasch lernte er laufen und sprechen, ja sogar lesen. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis. Mit vier las er bereits einfache Kinderreime und plapperte oder sang sie seinen Sœurs vor:
Un, deux, trois, nous avons un gros chat.
Quatre, cinq, six, il a de longues griffes.
Sept, huit, neuf, il a mangé un œuf.
Dix, onze, douze, il est blanc et rouge.
Großmutter Yvonne schloss ihn ebenfalls ins Herz, auch wenn sie dies nach außen hin selten zeigte. Sie brachte ihm Tischmanieren bei und sorgte dafür, dass er ein gepflegtes Französisch sprach.
»Auch an ihren Worten werdet ihr sie erkennen«, hob sie jeweils mahnend den Zeigefinger, wenn Gaston ein schlüpfriges Wort entfuhr, das er von den Mädchen gehört hatte. Sie war auch die Einzige, die streng mit ihm sein konnte, wenn es ihr zu wild wurde.
»So, Schluss jetzt, er ist nicht euer Spielzeug. Hier geht es ja zu wie im Bordell. Zeit für dein Schläfchen, Gaston.«
Die Mädchen kicherten.
»Nur noch ein bisschen, Mémère.«
»Was habe ich gesagt, Gaston?«
»Oui, Mémère.«
Mit gesenktem Köpfchen stieg er auf seinen Beinchen die Stufen zum Zimmer hoch.
Zu den Mädchen gewandt, meinte sie:
»Ihr verzärtelt ihn zu sehr, bald kommt er in die Schule. Dort wird es anders zu- und hergehen, das wisst ihr selbst.«
»Oui, Madame Yvonne«, sagten auch sie folgsam und zwinkerten Gaston zu, der sich auf der Treppe noch einmal umgedreht hatte.
Denn die nächste Albernheit wartete schon. Nach dem Schläfchen.
Mit Kindern konnte er nur selten spielen, manchmal besuchte Mémère mit ihm seinen Vetter Maxime, der eine Halbtagesreise entfernt, in Bayeux, wohnte. Meist streifte er alleine oder mit Paulette, die er von allen Mädchen am liebsten hatte, durch die Felder oder badete seine kleinen Füße im Bach. Er schaute den Forellen und Schmetterlingen zu oder den fetten normannischen Kühen beim Grasen. Manchmal, wenn sein Blick lange auf ihrem Fell verweilte, erkannte er darin plötzlich die Flecken, die er stundenlang angestarrt hatte. Er wusste nicht mehr, wo das war, aber die Flecken hier machten ihm Angst. Er hatte vor vielem Angst. Davor, was hinter Türen lauerte. Vor seinen schlimmen Träumen, den tiefen Stimmen der Männer. Vielleicht waren sie gar nicht wegen der Mädchen hier, sondern waren gekommen, um ihn zu holen. Gaston war ständig auf der Hut.
Um sich von seinen dunklen Gedanken abzulenken, half er Madame Taillard, der alten Wirtschafterin, oft beim Wäscheaufhängen und versteckte sich zwischen den frisch gewaschenen weißen Laken. Er liebte es, auf ihrem Schoß zu sitzen und ihr ein Gedicht aufzusagen oder ein Lied vorzusingen, bevor er ihr in der Küche zur Hand ging. Oder er legte sich, wenn die Männer fort waren, zu Paulette ins Bett und weinte, und Paulette weinte mit ihm.
»Alles wird gut, Jacques«, flüsterte sie ihm schlaftrunken ins Ohr. Sie nahm ihn in den Arm, streichelte seine Wangen mit ihren zarten Händen, wischte seine Tränen weg.
Es machte Gaston nichts, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte, solange sie ihn nur festhielt und er ihren Duft einatmen durfte.
Paulette las als Einzige der Mädchen leidenschaftlich gern. In ihren freien Stunden saß sie oft mit einem Buch auf einer Decke unter dem alten Birnbaum hinterm Haus.
»Darf ich bei dir sein?«, fragte Gaston.
»Nur, wenn du mucksmäuschenstill bist.«
»Das werde ich, versprochen.«
Gaston saß neben ihr und las in seiner Fibel. Er schielte zu ihr hinüber, sah ihr blondes Haar in der Sonne glänzen, ihre Sommersprossen, das kleine Muttermal auf ihrer linken Wange. Er sah sich das Buch an und las den Titel: Nana. Das Buch war alt und abgegriffen, sein Rücken zerbrochen. Es passte nicht zu Paulettes Schönheit.
»Warum ist es so alt?«, fragte er plötzlich.
»Bitte, sag es mir.«
Sie blickte ihn nachdenklich an.
»Weil in alten Büchern mehr Geschichten sind.«
Er verstand nicht.
»Mehr als in neuen?«
»Sicher, schau selbst.«
Sie hielt ihm das offene Buch hin. Einzelne Sätze waren unterstrichen. Am Rand hatte jemand etwas hingeschrieben. Er konnte es nicht lesen.
»Die Menschen, die es schon gelesen haben, haben ihre Gedanken, ihre Geschichten hineingeschrieben. Ich liebe es, mir vorzustellen, wann und wo und warum sie das getan haben. Was sie sich dabei dachten. Siehst du, viel mehr Geschichten als in einem neuen Buch.«
»Bitte, lies mir vor.«
»Du hast versprochen, still zu sein.«
»Das bin ich wieder, wenn du mir vorliest.«
»Das ist nichts für Kinder.«
»Bitte, bitte.«
Eine Träne rollte über seine Wange.
»Du erzählst keinem ein Sterbenswörtchen.«
»Niemandem.«
»Unser Geheimnis.«
Er nickte.
»Schwöre es.«
Er hielt drei Finger in die Luft.
»Ich schwöre.«
Sie begann zu lesen. Er schmiegte sich an sie und lauschte. Noch nie war er so glücklich gewesen.
An Regentagen lagen sie zusammen auf dem Bett in Paulettes Zimmer. Wenn sie fertig vorgelesen hatte, schwiegen sie eine Weile. Danach machten sie meist einen Spaziergang auf der geblümten Tapete, gingen von Blume zu Blume, sprachen mit ihnen.
»Guten Tag, liebe Hyazinthe, genießt du den Tag? Was sagst du, eine böse Larve frisst an deiner Zwiebel. Haben Sie gehört, Monsieur Gaston, ist das nicht empörend?«
Gaston nickte und schimpfte mit der Larve.
»Du böse Larve.«
»Oh, Madame Rose, was erzählen Sie mir da, Sie lassen mich erröten. Wer hätte das gedacht, in so jungen Jahren, ein veritabler Skandal. Seien Sie versichert, ich werde es niemandem erzählen, nicht einmal Monsieur Gaston. Grüßen Sie ihre Mutter von mir.«
»Was hat sie gesagt? Bitte erzähle es mir.«
»Nein, ich darf nicht, ich habe es versprochen.«
»Bitte, bitte, du darfst es mir auch ins Ohr flüstern.«
Paulette verschränkte die Arme, schüttelte den Kopf.
»Ich werde es niemandem weitererzählen, heiliges Ehrenwort«, bettelte er.
Paulette schüttelte noch immer den Kopf, schielte aber zur Rose hinüber.
Gastons Mundwinkel fingen an zu zittern, er kämpfte gegen die Tränen.
»Also gut.«
Paulette flüsterte Gaston Madames Roses Geheimnis ins Ohr.
»Oh«, sagte er nur und schüttelte ebenfalls den Kopf.
Beide schwiegen eine Weile, bis sich