Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

Читать онлайн.
Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



Скачать книгу

theologische und liturgische Schwerpunkte

      Um Mitternacht in die Kirche gehen oder vor Sonnenaufgang? Dazu muss es schon besondere Anlässe geben wie Weihnachten und Ostern. Und diese Anlässe führen auch zu besonderen Gottesdiensten wie die Christnacht oder die Osternacht.

      Die Osternacht wird seit der Frühzeit der Christenheit besonders gefeiert. Anfangs begingen Christen die Osternacht am Passahfest, also in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan des jüdischen Kalenders. In der Passahnacht, in Ex 12,42 als »Nacht des Wachens« bezeichnet, wurde des Befreiungshandelns Gottes beim Exodus gedacht. In der jüdischen Auslegung und Frömmigkeit verband sich damit früh die Erinnerung an die Schöpfung, an Abraham und die Bindung Isaaks sowie an die Erwartung des Kommens des Messias samt der damit einsetzenden endgültigen Erlösung am Ende der Zeit. Diese Elemente prägten auch die frühen christlichen Feiern der Osternacht. Anfangs wohl aus zwei Phasen, einer Trauer- und einer Freudenfeier, bestehend endete hier das gemeinsame Fasten. Das Fasten und Wachen diente der intensiven Erwartung des wiederkommenden Christus, der als »Passahlamm« (1Kor 5,7) die entscheidende Wende zum Heil der Menschen vollbracht hat und dessen Kommen (»Maranatha«, aram.: »Komm, o Herr« [1Kor 16,22; Didache 10,6]) erfleht wird.

      Auf dem Konzil von Nizäa (325) wurde nach heftigen Streitigkeiten, die über 100 Jahre gedauert hatten, der Ostertermin auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond festgelegt und damit vom jüdischen Festkalender getrennt; damit waren gleichzeitig die theologisch bestimmten Festgehalte der Schöpfung, der Auferweckung Jesu als Neuschöpfung und der endzeitlichen Vollendung (»achter Tag«) verbunden. Um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert entwickelte sich, ausgehend von der Osternachtfeier in Jerusalem, eine vierteilige Grundform, die bis heute prägend ist: Lichtfeier, Lesungen, Taufe, Abendmahl. In dieser Grundform ist viel Raum für unterschiedliche Gestaltungen, theologische Deutungen sowie für sakramentale und spirituelle Akzente. Selbstverständlich steht die Feier der Auferweckung Jesu im Zentrum, aber sie ist umgeben von den reichen Themen und Motiven der Schöpfung, der Befreiung aus Ägypten, der Völkerwallfahrt zum Zion am Ende der Zeit, der Belebung der Totengebeine nach Ez 37, der Taufe als Mitsterben und Mitauferstehen. In christlicher Umformung sind damit auch die Gehalte der Passahtradition aufgehoben und bewahrt. Auch wenn die Termine nicht mehr identisch sind, feiert die Kirche die Osternacht in bleibender und achtsamer Verbundenheit mit der Heilsgeschichte und den Hoffnungen Israels.

      Nach Jahrhunderten des Verfalls und Verschwindens der Osternacht wurde sie zunächst unabhängig voneinander in der evangelischen und der katholischen Kirche seit der Mitte des 20. Jahrhunderts neu entdeckt. Mit großem Elan wurden Liturgien zur Osternacht entworfen, ausprobiert und je nach kirchenrechtlicher Konstellation agendarisch geordnet. In den evangelischen Kirchen und Gemeinden gibt es heute eine Vielzahl an Osternachtgottesdiensten in pluralen Gestaltungen und Stilen: in agendarischer oder frei entworfener Gestalt, verbunden mit alter Tradition, ausgerichtet auf die Möglichkeiten und Herausforderungen vor Ort. Auch die Uhrzeiten des Beginns sind verschieden: Einige beginnen vor Mitternacht und enden kurz nach Mitternacht, andere beginnen kurz vor Sonnenaufgang, wieder andere feiern und wachen mehrere Stunden vom Karsamstagabend bis zum Ostermorgen. Auch damit werden theologische Schwerpunkte gesetzt: die Feier des göttlichen Geheimnisses »in der Mitte der Nacht«, der erlebnisreiche Transitus vom Dunkel zum Licht, die strapaziöse Nachtwache und das Aushalten der Dunkelheit von der Nacht bis zum Morgen.

      Die vierteilige Grundform kennzeichnet auch heute evangelische wie katholische Osternachtfeiern. In der Lichtfeier wird die Osterkerze vorbereitet, entzündet und mit dem alten Liedruf »Christus, Licht der Welt« in die dunkle Kirche getragen. Von ihr wird das Licht an jeden weitergeben. In der vom schimmernden Kerzenlicht geprägten Atmosphäre wird das Osterlob noch verhalten gesungen, traditionell mit dem um 400 in Norditalien oder Südgallien entstandenen »Exsultet« (»Frohlocket nun, ihr Engel und himmlischen Heere«), das die universale Weite des Heilshandelns Gottes aufzeigt und im bekannten Dialog (»Der Herr sei mit euch […] erhebet eure Herzen […]«) auch das Abendmahl anklingen lässt. Die drei bis zwölf Lesungen spannen den Bogen von der Schöpfung über den Exodus bis zur Neuschöpfung. Die Taufe und das Taufgedächtnis bieten mit Röm 6 auch eine sperrige Tauftheologie, vertiefen aber gleichzeitig die ökumenische Ausrichtung des gemeinsamen Sakraments. Nach Osterevangelium, freudig gesungenem Halleluja und Predigt ist die Feier des Abendmahls von der Nacht des Verrats, der Lebenshingabe Jesu, der Mahlgemeinschaft mit dem auferweckten und erhöhten Herrn und der Bitte um seine Wiederkunft theologisch reich gestaltet und um Kreuz und Auferstehung zentriert.

      Nicht wenige Gemeinden laden anschließend zum Osterfrühstück. Dies ist einerseits eine wünschenswerte gesellige Fortsetzung einer auch anstrengenden und langen Liturgie, nimmt andererseits aber auch altes Brauchtum der Segnung von Speisen (z. B. Brot, Butter, Eier und Fleisch), auf die in der Fastenzeit verzichtet worden war, wieder auf und lässt schließlich ein fröhliches Fastenbrechen gemeinsam begehen, zu dem je nach örtlichen Gegebenheiten auch Nachbarn aus anderen Religionen eingeladen werden können. Die Osternacht ist theologisch wie liturgisch anspruchsvoll: der Höhepunkt und die Herzmitte des Kirchenjahres! Und sie öffnet weite Horizonte: Konfessionalistisch Ostern zu feiern ist ein Widerspruch in sich. Denn die Osternacht zeigt nicht nur ökumenische Konvergenzen in Gebeten, Lesungen, Riten und der gesamten Feiergestalt, sondern verbindet die gegenwärtige Gemeinde vor Ort mit der zeit- und raumübergreifenden Kirche und dem in ihr bezeugten Gottesbekenntnis. Die Kirche bekennt und lobt den einen Gott, der sein Volk aus der Sklaverei befreit, Christus von den Toten auferweckt und zu sich erhöht hat und der kommen wird, den Kosmos zu verwandeln. Daher hat Karl Barth recht: »Wer die Osterbotschaft gehört hat, der kann nicht mehr mit tragischem Gesicht umherlaufen und die humorlose Existenz eines Menschen führen, der keine Hoffnung hat.«1 Fröhliche und gelassene Lebenszuversicht: Das ist evangelisch!

       Österlich feiern, denken und leben

       Praktisch-theologische Aspekte zur Osternacht

       Zusammenfassung

      Aus der österlichen Feier, die in besonderer Weise in der Feier der Osternacht wesentliche Dimensionen von Liturgie und Theologie zur Darstellung und zur Erfahrung bringt, erwächst österliches Denken und Leben. Die Osterbotschaft findet das zeigen ihre musikalischen Realisationen Resonanz, indem sie Menschen zu einer Glaubenshaltung verhilft und ihnen zur Lebenskunst wird.

      Evangelische Frömmigkeit und evangelisch getönte Spiritualitäten sind selten österlich. Das hat verschiedene Gründe: Traditionsgebundene Kirchlichkeit wird nach wie vor stärker durch den Karfreitag geprägt, während Kultur, Brauchtum und Medien religiöse Sinnstiftungen eher im Jahreshöhepunkt des Weihnachtsfestes wahrnehmen und dies entsprechend propagieren, gestalten oder konsumieren. Allenfalls zeigen hochkulturelle Milieus nicht nur Interesse am Weihnachtsoratorium, sondern seit dem 19. Jahrhundert auch an den Passionsvertonungen Johann Sebastian Bachs, die nach wie vor flächendeckend in der Karwoche aufgeführt werden und die in der Regel besser besucht sind als Karfreitagsgottesdienste. Bachs Osteroratorium hingegen wirkte als kleinformatigere Kantate nicht kulturprägend; vergleichbare österliche Werke anderer Komponisten sind nicht in Sicht. Gegenwärtige Kunstaustellungen und performances – gerade solche in Kirchenräumen – scheinen ebenfalls stärker an den Leidens- und Unrechtserfahrungen anzuknüpfen, was angesichts kritischer Zeitgenossenschaft mehr als verständlich ist.

      Durch die akademische Theologie und ihre notwendig vereinfachenden Vermittlungen ist zudem immer wieder die Gleichsetzung von theologia crucis mit Karfreitag und theologia gloriae mit Ostern naheliegend. Manche erkennen darin sogar konfessionelle Typisierungen und Abgrenzungen, die wiederum durch den evangelischen Hauptgottesdienst am Karfreitag und die katholische Messe zu Ostern (samt medialem päpstlichen Segen) rituell dargestellt werden. Da die genannte Gleichsetzung ein theologischer Kurzschluss ist, hatte sie manche Dunkelheit zur Folge.

      Ich plädiere angesichts dessen für Aufklärung und für die Wiederentdeckung und Gestaltung der grundlegenden österlichen Dimension in Kirche und Protestantismus.

       1.