Название | Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens |
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Автор произведения | Helmut Schwier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783374063826 |
Ostern zu denken, bedeutet eine theologische Revolution: Gott, die Gottesrede und das gesamte Verständnis von Leben und Wirklichkeit sind radikal verändert. Unsere traditionelle Weltsicht und Alltagsontologie erhält einen Riss.10 In Kontinuität zum Handeln des Gottes Israels, die Paulus als das Lebendigmachen der Toten und als ›sein Rufen des Nichtseienden, dass es sei‹ systematisiert (Röm 4,17), erschließt sich Gott nicht nur als Verändernder, sondern auch als Veränderter: in Christus als unwiderruflich Liebender, dessen Reich und Herrschaft schon jetzt im Kleinen anbricht, in Zuwendung, Vergebung, Heilung und im Tun des Gerechten, und dessen Kommen Ziel, Grenze und Verwandlung des Kosmos bedeutet.
Dass ein Mal der Tod besiegt wurde, dass ein Mal Gott sich als Auferweckender hat erkennen lassen, hat prinzipielle Auswirkungen auf Leben und Denken. Österlich zu denken, ist daher die Aufgabe, die nicht nur systematischtheologisch,11 sondern auch praktisch-theologisch gestellt ist. Die Auferweckung ist die Auferweckung des Gekreuzigten, und das Bekenntnis der Kirche und Einzelnen geschieht angesichts individueller und gesellschaftlicher Leidens- und Todeswirklichkeiten, in Anfechtung und Hoffnung, als Bekenntnis zur Auferweckung und Erhöhung des Menschen Jesus durch Gott. Diese Spannung lässt die Osternacht erfahren und regt dadurch zu je neu veränderter Reflexion und Praxis an, die in allen kirchlichen Handlungsfeldern und bei allen religiösen Sinndimensionen an der Relation zu Gott und zur Welt im Licht des coram Christo resurrecto et exaltato festhält, welches zugleich die Gegenwart umfassend bestimmt.12 Schon daher ist Praktische Theologie als Theologie nicht an Vergangenheit und Traditionsbewahrung orientiert, sondern neugierig und offen für die Veränderungen der Zukunft und die Gestaltung der Gegenwart. Österliche Zeitwahrnehmung und -diagnose gehören dann zu den zentralen Aufgaben praktisch-theologischer Reflexion.
3. Österlich Leben: Fröhlich, trotzig, verwegen und dankbar
Österlich zu leben, ist Gabe und Aufgabe für Kirche und Christenmenschen. Vor allem die Gottesdienste der Karwoche und die Osternacht zielen gerade nicht auf eine Vermittlung von abstrakten Heilstatsachen oder lebensferner Dogmatik, sondern zeigen ihre Stärke in der engen Verknüpfung mit menschlichen Grunderfahrungen wie Liebe und Verrat, Unterdrückung und Fanatismus, Reue und Verzweiflung, Angst und Vertrauen. Vermutlich liegt gerade die große Resonanz beispielsweise der Bachschen Matthäuspassion – zumal ja heutzutage keine soziale Verpflichtung zum Besuch der mehrstündigen Aufführung besteht – in der künstlerischen Inszenierung und Verarbeitung des Humanum. Daher kann man sie »nachchristlich« hören und ihre musikalische Großzügigkeit nachverfolgen13 oder in ihr Potentiale und Ressourcen zur Lebenskunst und Lebensbewältigung wahrnehmen und sich zu eigen machen.14 Ihre nach meinem Eindruck sowohl ästhetisch wie theologisch atemberaubende Aufführung in der Berliner Philharmonie unter Sir Simon Rattle (2010; Wiederaufführung am 19. 10.2013) war gleichzeitig eine Inszenierung von Peter Sellars und sollte als Meditation oder als »Ritualisation« erfahrbar sein.15 Dies wurde gerade dadurch ermöglicht, dass in ihr die menschlichen Grunderfahrungen transparent wurden, jedoch nicht unmittelbar in der Person Jesu, der hier im wahrsten Sinne entrückt agierte,16 sondern vor allem im Spiel und in der Verkörperung durch den Evangelisten und einiger anderer: Der Mensch, der die Geschichte erzählt, erlebt sie exemplarisch für uns; der Erzähler ist der Protagonist, der zum Wiedererkennen einlädt. Welche österliche Musik wäre hier als Fortsetzung denkbar? Persönlich würde ich auf Bachs Osterkantaten »Erfreut euch, ihr Herzen« (BWV 66) und vor allem »Der Himmel lacht, die Erde jubiliert« (BWV 31) hinweisen, da hier der Osterjubel überwältigend aus der Stille, der Sprachlosigkeit und der Verletztheit menschlicher Trauer losbricht – ein musikalisches Osterlachen,17 das die vermeintlichen Endgültigkeiten und Mächte nicht akzeptiert und eine Siegesgewissheit zumindest ahnt – auch angesichts des eigenen Sterbens.
Es ist die besondere Stärke der Osternacht, dass sie das Evangelium so inszeniert, dass es Gottes und unsere Geschichte samt der Spannungen und Abgründe mitteilend darstellt, aber über Karfreitag und Karsamstag hinausführt. Daher – und nicht aus Gründen ehrwürdiger Liturgietraditionen – wird sie zur »Herzmitte« christlicher Spiritualität und österlich zu leben konkretisiert sich in einem unbedingten Ja zum Leben und zur Leiblichkeit der Kreaturen. Das schließt Ehrfurcht und Achtung ihrer Würde in unbedingter Weise ein.18 Schon alle Drohungen mit Gewalt, Tod, Folter und Leiden oder – moderater – mit Einschüchterungen, Dominierungsversuchen oder Abhängigkeitsverhältnissen widersprechen Ostern und damit dem Gott, der Christus auferweckte, und müssen auf den öffentlichen Widerspruch einer österlichen Kirche und österlich lebender Menschen treffen. Dies ist besonders schwer, wenn solche tötenden Mächte innerhalb der Kirche wirken und in Neid, Missgunst, Engstirnigkeit oder Ängstlichkeit starke Verbündete finden. Da hilft oft nur ein Osterlachen.19
Österlich zu leben heißt im eigentlichen Sinn zu glauben, also auf Gottes Gnade zu vertrauen und dies zu bekennen. Das zeigt sich in einer mutigen Lebenshaltung, die, in Anlehnung an Luther formuliert, eine verwegene Zuversicht ist und fröhlich, trotzig und lustig gegenüber Gott und allen Kreaturen macht und dem Nächsten zugeordnet bleibt.20 Die mit der theologia crucis unentbehrlich verbundene theologia gloriae bestimmt christliches Leben in seiner Fülle als Dankbarkeit und glorificatio.21 Daran erinnert und das feiert das jubilierend-lachende Osterhalleluja (EG 103), dazu ermuntert das tänzerisch-leichte »Auf, auf, mein Herz, mit Freuden, nimm wahr, was heut’ geschieht […] ist Christus wieder frei und ruft Viktoria« (EG 112) das Denken, das erweitert sakramental und diakonisch der Calypso »Erde, atme auf, Wort, nimm deinen Lauf! Er, der lebt, gebot: Teilt das Brot« (EG 229).
»Eine Auferstehungsfeier und irgendwie die Wurzel meines Glaubens …«
Theologische und liturgische Überlegungen zur Feier der Osternacht
Die Osternacht wird in vielen evangelischen Gemeinden gefeiert und bildet einen liturgischen Höhepunkt im Kirchenjahr. Beispielsweise gab es in einer aktuellen Umfrage innerhalb der Badischen Landeskirche Rückmeldungen aus 23 von 27 Kirchenbezirken, aus denen hervorgeht, dass 2012 in Baden ca. 60% der Pfarrer in ca. 50% der Gemeinden eine Osternachtfeier gehalten haben; von ihnen wurden 44% am Samstag, 56% am Sonntag gefeiert.1 Dies ist eine erstaunlich hohe Zahl. Infolge von Kooperationen und Einladungen zu zentralen Feiern ist deren Verbreitung sogar als noch etwas höher einzustufen.
Kann man als allgemeinen Trend eine größere liturgische Gestaltungsfreude in den evangelischen Kirchen und Gemeinden beobachten, die auch durch neue Agenden und Gottesdienstentwürfe gefördert wird, so hat – wohl nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit den Thesen Gerd Lüdemanns – auch die theologische Reflexion über Ostern neu an Kontur gewonnen. Diese Konstellation ermöglicht eine theologische wie liturgische Zwischenbilanz, die hier vorgelegt wird.