Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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der biblischen Tradition in bewusster Zeitgenossenschaft und Solidarität mit den Menschen. Nötig sind Praktische Theologinnen und Theologen, die die Bibel kennen, zu verstehen suchen und dabei traditionskritisch für die Tradition einstehen.

       2. Terra incognita – PTund Exegese

       2.1 Wahrnehmungen: Ein weitgehendes Defizit und zwei Angriffe

      Die Bibelwissenschaften spielen in den prinzipiellen Reflexionen der Praktischen Theologie keine erkennbare Rolle. Bis auf einen eher allgemein bleibenden Hinweis innerhalb eines Schaubildes, das die Wechselbeziehung von Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte, Systematischer Theologie, Religionswissenschaft sowie anderen Fächern einerseits und PT andererseits als Provokation und Korrektur beschreibt, wobei interessanterweise die PT stets provoziert und die anderen korrigieren,51 ist in den von mir gesichteten neueren Veröffentlichungen ein weitgehendes Defizit zu konstatieren. Selbst das vorzügliche Arbeits- und Lernbuch zur Praktischen Theologie von Michael Meyer-Blanck und Birgit Weyel bietet hier keine Ansätze, strukturiert aber gleichzeitig die Wissenschaftsgeschichte so,52 dass eine Ursache für dieses Defizit erkennbar wird: PT hat sich in ihren Versuchen wissenschaftlicher Selbstvergewisserung entweder systematisch oder historisch oder empirisch orientiert. Und selbst in den Zeiten, in denen im Gefolge der Dialektischen Theologie das Paradigma »Verkündigung« die PT dominierte, war dies über das systematische Sola-scriptura-Prinzip, nicht über die Exegese verankert; eine Gesamtdarstellung der PT hat es dann ja auch hier nicht gegeben.53

      Drei Ausnahmen sind allerdings innerhalb der Defizitbeschreibung wahrzunehmen. In dem 1997 erschienenen Lehrbuch der Praktischen Theologie von Eberhard Winkler, in dem PT pointiert als »Lehre von der Mitteilung des Evangeliums«54 verstanden wird, spielen biblische Bezüge eine nicht geringe Rolle. Leider tauchen sie oft nur in Gestalt von Zitathäufungen auf und sind außerdem mit der praktisch-theologischen Theorie nicht verbunden. Letztere wird vielmehr abgewertet als ein Unternehmen, dass kaum jemanden interessiere und weder in ein Repetitorium noch ins Examen gehöre.55 Bleiben diese Bezüge eher an der Oberfläche, so sind sie bei der zweiten Ausnahme, den ihrerseits nur Fragment gebliebenen Entwürfen des früh verstorbenen Praktischen Theologen Henning Luther in der Tiefe aufzuspüren. Gerade in Auseinandersetzung mit neuzeitlichoptimistischen Identitätskonzepten verweist Luther auf biblische Anthropologie und die paulinische theologia crucis; dies führt ihn zum »Annehmen der Fragmentarität des Lebens«, zum »Verzicht auf dauerhafte Ganzheit« und zur Erweiterung der Dimension der »Sehnsucht« nach dem Unendlichen um die des »Schmerzes«56. Diese für Henning Luther zentralen Einsichten bleiben allerdings auf der Ebene biblischer Grundmotive, deren Status innerhalb der ihn stark interessierenden Religions- und Alltagstheorien unklar bleibt.57 Schließlich hat Henning Schröer immer wieder die Bibelfrömmigkeit beschrieben, die Berechtigung verschiedener Zugänge zur Bibelauslegung betont und für eine praktischtheologische Hermeneutik votiert, die über eine Texthermeneutik zu einer Hermeneutik gegenwärtigen Lebens und Handelns fortschreitet.58

      Ob insgesamt den Defiziten auf Seiten der Praktischen Theologie auch solche auf Seiten der Exegese entsprechen, kann hier nicht weiter geprüft werden. Es ist immerhin der Trend wahrzunehmen, dass die historisch-kritische Exegese allmählich in die Defensive gerät. Konnte Gerhard Ebeling vor 50 Jahren die historisch-kritische Exegese noch in ihrem inneren Sachzusammenhang zur reformatorischen Rechtfertigungslehre systematisch würdigen,59 sah sich Werner H. Schmidt vor 15 Jahren veranlasst, im Herausgeberkreis der Zeitschrift »Evangelische Theologie« eine »kleine Verteidigungsrede« für die historischkritische Methode zu halten.60 Im Frühjahr 2000 konnte man darüber hinaus Zeuge eines internen und eines externen Angriffs werden: Ein Kirchenführer polemisierte gegen die »desaströse Lage evangelischer Bibelforschung deutscher Sprache«, machte sie für alle Schwierigkeiten bei der Weitergabe des Glaubens verantwortlich und verkündigte sogleich deren Ende;61 eine gute Resonanz in den evangelikalen Pressediensten war ihm sicher.62 Der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach veröffentlichte in der »Zeit« seine Abrechnung mit dem Christentum, zu deren Geburtsfehlern auch der »strategische Umgang mit der historischen Wahrheit« gehöre, der von der modernen Bibelwissenschaft seines Erachtens nur entschuldigt und damit letztlich bestätigt würde.63 Auffällig ist, dass die ansonsten vorzügliche Replik von Richard Schröder, aber auch die Leserbriefe auf diesen Punkt nicht eingehen.64 In der zweiten Replik, die der Philosoph Robert Spaemann verfasst hat, heißt es immerhin: »Auf das Feld neutestamentlicher Exegese mich einzulassen, fehlt mir die Kompetenz fast ebenso wie Schnädelbach.«65

      Die Beziehung zwischen Praxis bzw. PT und Exegese stellt sich also einerseits als ein ungestörtes Nebeneinander dar, kann aber andererseits auch zu aggressiven Ausfällen führen. Beides erfordert eine neue Sachbezogenheit und ein Ausloten der Möglichkeiten und Chancen, die PT und Exegese einander bieten.

       2.2 Theorien: Pluralität in der Exegese

      Die historisch-kritische Methode, so lernt man bereits im Proseminar, besteht aus einem Ensemble verschiedener Fragestellungen,66 die einander ergänzen, aber aus unterschiedlichen Ansätzen der Forschungsgeschichte zusammengewachsen sind.67 Die Pluralität ist also bereits in der klassischen Methode selbst verankert. Neuere Fragestellungen können und müssen, wollen sie diskursfähig bleiben, hier anknüpfen und Ergänzungen bringen: Soziologische und sozialgeschichtliche Forschungen fanden einen klaren Anknüpfungspunkt in der Frage nach dem »Sitz im Leben«, der nun konkreter, z. B. sozioökonomisch, bestimmt wurde; linguistische Analysen widmen sich vor allem dem Text in seiner Endgestalt, der infolge literarkritischer Entdeckungsfreuden mitunter verloren gegangen war. Zu dieser Pluralität tritt die Pluralität der sogenannten »engagierten Lektüreformen«68, also beispielsweise der christlich-jüdischen, der befreiungstheologischen, der feministischen, der psychotherapeutischen oder auch der fundamentalistischen Lektüren, sowie deren Konkurrenz untereinander und zur historisch-kritischen Exegese.

      Die Pluralität in Exegese und Lektüreformen ist nicht deren Verhängnis, sondern deren Chance. Diese These sei zunächst erläutert. Im Anschluss an Gerd Theißen lässt sich formulieren: Exegetische Methoden sind »bewährte Dialogregeln über Texte, die Konsens ohne Zwang und Dissens ohne Feindschaft ermöglichen sollen«.69 Die Anwendung der exegetischen Methoden zielt auf die Eröffnung eines Spielraums von Auslegungen, nicht auf die Suche nach der einen richtigen Interpretation. Dazu gehören eine Grenzziehung gegenüber unangemessenen Auslegungen und eine Gewichtung der wahrscheinlichen Auslegungen; hier erweisen sich ExegetInnen als AnwältInnen der Texte. Grenzziehung und Gewichtung, Konsens- und Dissensfeststellungen werden argumentativ vorgenommen. Auch hier gibt es Vorverständnisse und der wissenschaftliche Diskurs ist nicht immer herrschaftsfrei, aber die Prämissen und Interessen können durch methodische Disziplin, durch die Beachtung des Kohärenz- und des Korrespondenzkriteriums,70 sowie durch die gegenseitige Kritik offengelegt und begrenzt werden. Deshalb kann man auch in einer exegetischen Proseminararbeit mit der Kraft eines Arguments sogar exegetischen »Staranwälten« widersprechen.

      Während solch eine wissenschaftliche Exegese, die Auslegungspluralität ermöglicht, applikationsfern und identitätsoffen geschieht, also auf Verstehen statt auf Einverständnis gerichtet ist, prinzipiell von Christen wie von Atheisten betrieben werden kann, zielen die genannten »engagierten Lektüreformen« auf Anwendung, Identitätsbegründung und Änderung der Praxis. Deren Konkurrenz untereinander ist zudem härter als bei der wissenschaftlichen Exegese und an einigen Stellen auch nicht integrativ aufzulösen: Fundamentalistische Bibellektüre steht beispielsweise im Gegensatz zu den emanzipationsorientierten Lektüren, weil sie bereits die Möglichkeit jeglicher Sachkritik kategorisch ausschließt. Die Notwendigkeit der engagierten Lektüren ist nicht zu bestreiten. Denn sie eröffnen gerade verschiedenen Menschen und Gemeinschaften neue Zugänge zur Bibel und zeigen gleichzeitig eine große Nähe zur Parteilichkeit der biblischen Botschaft und zu deren Identifikationsangeboten.71

      Wie steht es aber nun mit der Konkurrenz zur wissenschaftlichen