REVOLUTION AUTOMATON. Hendrik Kühn

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Название REVOLUTION AUTOMATON
Автор произведения Hendrik Kühn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958354777



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warnt Professor für Politikwissenschaften Gerd Schwarz.

       SIE TESTEN EINE INTERKONTINENTALRAKETE MIT ATOMSPRENGKOPF. DAS GEHT ÜBER DIE PROVOKATION HINAUS, SAGT DER NACHBARSTAAT, UND MOBILISIERT WEITERE TRUPPEN IN DER GRENZREGION.

       Die NATO stationiert Einheiten im Baltikum.

       DIE NEUE ULTRANATIONALISTISCHE REGIERUNG BRICHT VERHANDLUNGEN NACH AUSWEISUNG DER DIPLOMATEN AB. Es wird zu Zurückhaltung gemahnt und im nächsten Moment mit einem Erstschlag gedroht.

       DAS MILITÄRISCHE WETTRÜSTEN, ANGESTOSSEN VOM KAMPF GEGEN DEN TERROR, BELASTET DIE INTERNATIONALEN BÜNDNISSE …

      Die Buchstaben werfen Schatten, auf denen meine Augen ruhen, weil sie das allein vom Papier gefilterte Licht nicht ertragen können. Ich erinnere mich nicht genau, aber irgendwann habe ich die Zeitung auf mein Gesicht gelegt und nun ist sie zu einer zweiten Haut geworden. Mein Puls wird immer langsamer und mir fallen die Augen zu. Ich träume. Ich träume schlecht und bleibe gefangen in einer Phase zwischen Wachen und Schlafen, kann meine Augen nicht öffnen, kann mich nicht bewegen und Albträume jagen mir durch den Kopf, in denen ich verfolgt von uniformierten Männern durch die Nacht fliehe. Aber all das mit einer Bewusstheit, die mich anstrengt. Ich schwitze, wälze mich kraftlos im Bett hin und her und höre aus der Nachbarwohnung alte französische Chansons, die durch die Wand summen. Früher oder später muss ich in die Tiefschlafphase gekommen sein, denn als mich von draußen Lärm weckt, fühle ich mich wie aus einer anderen Welt gerissen.

      Ich sitze aufrecht in meinem Bett und lege eine Hand auf meine Brust, um den Druck zu lindern. Sirenen! Panisch springe ich auf, lösche das Licht und laufe zum Fenster hinüber, das rhythmisch im blauen Warnlicht aufscheint. Es ist die Polizei. Drei Wagen kommen angeschossen und halten direkt vor meiner Haustür. Es war klar, dass sie mich nicht freiwillig gehen gelassen haben, und in meiner Wohnung suchen sie natürlich als Erstes nach mir. Du bist so ein Idiot, Simon! Die Türen öffnen sich und die Beamten laufen in das Haus. Ich sehe es vor meinem geistigen Auge wie ein Film, aber die Türen bleiben geschlossen und stattdessen kommt der Polizei ein großer Müllwagen entgegen. Er schlängelt sich in eine Lücke und sie rasen lautstark daran vorbei. Das Blaulicht enteilt nun meinem Fenster und die Sirenen werden mit der Zeit immer leiser und leiser, bis es bald wieder ganz still ist. Ich stehe noch einige Minuten vor dem Glas, in Sorge, dass sie sich lediglich in der Adresse geirrt haben und wieder zurückkehren.

      Noch vom Bett aus schaue ich bekümmert zum Fenster, doch ich bin so müde, dass mir wie bei einer Überreizung alle Sinnesorgane schmerzen. Ich schließe meine wunden Augen. Kaum drifte ich meinen Albträumen entgegen, höre ich die Sirenen wieder. Ich eile zum Fenster und sehe weitere Polizeiwagen, die an meiner Wohnung vorbeirauschen. Sie folgen den anderen, vermute ich. »Irgendetwas muss passiert sein.« Noch zwei- oder dreimal wiederholt sich das Spiel, ich erinnere mich nicht genau, denn ich bin zu erschöpft. Doch gegen Mitternacht stelle ich fest, dass ich nicht mehr einschlafen kann.

      Erschöpfung, Müdigkeit und Schmerz sind Eindringlinge, die versuchen, meinen Körper in einer blutigen Schlacht einzunehmen, aber etwas in mir muss die Zugbrücken hochgezogen und sich im Inneren verschanzt haben … etwas, das mich triezt und mich auf meine Beine zurückzwingt. Schwerfüßig hebe ich mich durch den Flur zur Küche, um meinen pausenlosen Durst zu stillen, und am Arbeitszimmer zieht ein kalter Wind unter der Tür hindurch. Beiläufig registriere ich ihn, aber erst mit der Orangensaftflasche am Mund wird er mir richtig bewusst. Ich gehe zurück, öffne die Tür und klirrende Kälte schlägt mir entgegen, als hätte das Zimmer kein Dach. Die Leuchtstoffröhre an der Decke geht an und wirft eine verschattete Helligkeit auf das Chaos vor mir. Es dauert eine Weile, bis die grelle Strahlung sich mit einem satten Licht füllt und ich Details im Zimmer erkennen kann. Einen zugemüllten Schreibtisch, zerknittertes Druckerpapier und ausgetrocknete Fasermaler, denen die Kappen fehlen. Alte Technik auf den Schränken, zerschundene Magazine auf dem Boden und Dutzende Blu-ray- und DVD-Filme wohin mein Auge nur reicht. Einzig die Bücherregale zeigen ein Ordnungsmuster, dem lediglich einige Bücher entflohen sind. Dan Browns Illuminati und Diabolus sowie John Colemans Das Komitee der 300 liegen aufgeschlagen auf dem Tisch, und vor meinen Füßen sehe ich ein Buch über die Rothschilds. Wo ist Browns Sakrileg? Ich mache ein paar Schritte in die Tiefe des Raumes hinein, beuge mich hinab und hebe die ausgesprochen schönen Exemplare von Orwells 1984 und Huxleys Schöne neue Welt auf. Dann gehe ich zum Regal und stelle sie zu den anderen Klassikern, zwischen Die sieben Säulen der Weisheit von T. E. Lawrence und Leo Tolstois Krieg und Frieden. Letzteres hatte ich als Mängelexemplar auf einem Bücherbasar der Uni erstanden. Fünfzig Seiten fehlen in der Mitte, das habe ich leider zu spät bemerkt, da war ich schon auf Seite dreihundert.

      »Ach, da!« Sakrileg liegt unter einer alten Tageszeitung. Ich falte sie zusammen, nehme den Roman zur Hand und blättere darin herum. Er ist voll mit neongrünen Anstreichungen. Ich habe ein Faible für kühne Behauptungen wie die von Dan Brown, der meint, dass auf Da Vincis berühmtem Wandgemälde nicht Apostel Johannes die langhaarige, bartlose, feminine Person zu Jesus’ Rechten ist, sondern seine Ehefrau Maria Magdalena. Ein wirklich subversives Gedankenspiel – ich wünschte, es wäre mir eingefallen. Beim Zurücklegen des Buches fällt mir eine Notiz neben dem Kreuzworträtsel der Zeitung auf. Johannes und Maria Magdalena sind ein und dieselbe Person! Wurden in der Bibel nie gemeinsam erwähnt(?) Das sieht wie meine Handschrift aus. Ein gedankliches Fragezeichen markiert die Stelle.

      Ich gehe weiter zu meiner Reiseschreibmaschine – eine schwarze Remington Portable von 1928, noch voll funktionsfähig – wo ich gerne Ideen spinne, ziehe das beschriebene Blatt heraus und lese: Madison setzte sich breitbeinig auf seinen Schreibtisch und lehnte sich zurück. Nun war es klar, sie wollte gar nicht wissen, wo ihr Ehemann war, dachte Jackson und steckte sich eine Zigarete an … Da fehlt ein t in Zigarette. Nach der Arbeit, oft nachts, versuche ich mich gern an Kriminalromanen und habe bereits erfolgreich einen Onlineschreibkurs abgeschlossen. Das Zertifikat habe ich ausgedruckt. Es muss hier irgendwo rumfliegen. Wie dem auch sei, die goldenen Regeln habe ich alle verinnerlicht, aber ich feile immer noch am Charakter meines Privatdetektivs.

      Der Wind zieht mir in den Nacken und ich drehe mich zum Fenster um. Eines der beiden Elemente steht sperrangelweit offen und lässt die Kälte ungehindert parieren. War das nicht vorhin geschlossen? Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Vorsichtig gehe ich hinüber und werfe einen diskreten Blick auf das Vordach, das direkt unter meinem Fenster liegt, und dann auf den halbbeleuchteten Hinterhof. Doch niemand ist zu sehen und als das Licht, das vermutlich von einer Kellerbeleuchtung stammt, plötzlich erlischt, schließe ich schnell das Fenster und dränge den aggressiven Windstrom aus dem Raum. Zurück bleibt eine kühle Stille. Ich ziehe die Gardinen zu, grün-linierte Staubfänger, die bei mir stets eine Allergie auslösen. Doch beim Schließen erheischt mein Blick etwas und ich ziehe sie schnell wieder auf. Es ist ein gelber Klebezettel auf der Glasscheibe, ähnlich wie jener in meinem Auto. Ich nehme ihn vom Fenster, um ihn mir genauer anzuschauen. Die sehen für mich alle gleich aus – mehr oder weniger die gleiche Farbe, gleiches quadratisches Format, alle haben eine Klebefläche auf der Rückseite – aber das Jeansblau der Tinte, die krakelige Handschrift und die stark nachgezeichneten Lettern deuten auf dieselbe Herkunft hin. Auf diesem steht Bereitschaft zur Unterordnung. Ich überlege, was auf dem anderen stand. Und dann diese Klaue. Ist das wirklich meine Handschrift? Auf den ersten Blick ja, doch so unsauber und ungleichmäßig könnte sie auch von jeder anderen Männerhand stammen. Von Kinderhänden sogar. Mein Blick wandert nun ein weiteres Mal auf den Hinterhof und ich fixiere einen schwarzen Punkt in der Finsternis. Ich verstehe das nicht. Ist das irgendeine Botschaft?

      Tatort Hotel

      Bald ist es ein Uhr in der Nacht, der Minutenzeiger dreht die ersten Runden an Tag zwei n. BK – nach Bundeskanzler – und ich sitze wieder in meinem Auto. Dieses Mal auf dem Weg nach Berlin Mitte, aufgeschreckt aus dem grässlichen Schlaf und ich versuche mir die Klebezettel aus dem Kopf zu schlagen. Sie ergeben keinen Sinn und ich bezweifele mittlerweile, dass das meine Handschrift ist. Ich habe Sorge, dass ihr Urheber über das Fenster in meine Wohnung kam, und bin zugleich