Название | REVOLUTION AUTOMATON |
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Автор произведения | Hendrik Kühn |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783958354777 |
Der Schleier fällt. Allmählich normalisieren sich meine Sinne, meine Augen sehen Farben, fokussieren wieder und meine Ohren befreien sich von der Dumpfheit und nehmen die Töne in ihrer Höhe und ihrem Klang wahr.
Ich bin zurück und das Erste, was ich erblicke, ist das vernarbte Gesicht des Vernehmers. Es ist dick, schweinefarben und dünkelhaft – ein Kandidat für Albträume. Der kräftige Kerl mit den kurz geschorenen Haaren, der kaffeebraunen Lederjacke und der tiefblauen Jeanshose lehnt sich auf den Tisch wie ein militärischer Ausbilder. Zigarettenstummel springen mit jeder Handbewegung über die mürbe Tischplatte und einer fällt zu Boden. Meine Augen folgen ihm wie zur Übung nach einer überlangen Auszeit. Die Gestalt verlässt uns, das ist, was ich höre, aber ich sehe nur die farblose Wand am Ende des Raumes, als ich meinen Kopf drehe.
»Du hast also als Wachmann in dem Hotel gearbeitet?«
Aber klar, jetzt erinnere mich wieder! Zumindest an das Hotel, wo ich zuletzt gearbeitet habe. Es war ein festlicher Abend und es galt in Erwartung von Prominenz die höchste Sicherheitsstufe. Gesprächsfetzen mit dem Sicherheitschef Urban finden sich nun in meinem Kopf wieder, aber kein wirklicher Inhalt, der auf den gesamten Abend schließen lässt. Ich weiß nicht, ob der Bundeskanzler da war, aber ich vermute es. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
»Schtimmt …«, murmele ich, aber es wird nicht deutlicher. Meine Lippen müssen wohl aufgeplatzt oder geschwollen sein, die Worte kommen nur breiig heraus.
»Aha, wir machen offenbar Fortschritte. Gestern hattest du angeblich gar keine Erinnerungen.«
An gestern erinnere ich mich auch nicht. Wieder versuche ich, mich aufrechter zu positionieren, und wische meinen Mund an der Schulter ab. Ich will erst jedes Wort abwägen und es dann mit gespitzten Lippen formen, damit wir uns nicht falsch verstehen. »Als Sischerheitsexperte … ähm … aber isch habe niemanden umgebracht.«
»Was sagst du da?« Meine Worte scheinen ihn zu amüsieren. »Sicherheitsexperte? Oh, der studierte Herr ist also gar kein einfacher Wachmann, sondern ein Sicherheitsexperte. Deine Eltern müssen stolz auf dich sein. Beachtlich, Wächter, beachtlich!«
Ich spüre, wie mir die Schamesröte ins Gesicht steigt. Die Worte hätten von meinem Vater stammen können. Es ist genau dieselbe Art von Gehässigkeit, die gerade aus dem Mund des blasierten Kerls vor mir kommt. Aber mein Vater zog Direktheit stets der Ironie vor und hätte mir deshalb gesagt, dass er nicht stolz auf mich ist. Was er getan hat. Ich könnte lachen.
»Ich habe nur meinen Job gemacht«, erkläre ich. »Ich war es nicht. Ich habe niemanden …«
»Ich verstehe«, unterbricht er mich, »du willst also sagen, dass du es nicht geplant hast.«
Beiläufig bemerke ich, dass eine Pistole auf dem Tisch in meine Richtung zeigt und seine Hand darauf ruht. Vor Schreck fahre ich zusammen. Ich räuspere mich, ehe ich eine Antwort gebe, und lehne mich zur Seite gegen die Armstütze, um mich der Schusslinie zu entziehen. »Nein, das wollte ich nicht …«
»Natürlich nicht. Obwohl du es könntest, bist ja ein schlaues Kerlchen, aber ich glaube nicht, dass du das allein geplant hast. Welche Organisation steckt hinter deinem Attentat? Wer hat dich angeleitet und dich dabei unterstützt? Sag mal, Wächter, welcher Religion gehörst du eigentlich an?«
Es zieht unsere Blicke zur Decke, da das Licht abermals flackert. Er erhebt sich vom Stuhl und schaut sich erschrocken um, aber ich verstehe nicht warum. Plötzlich geht ein ungeheures Vibrieren los, das wie seismische Wellen durch die Bodenplatte stürmt und uns und das spärliche Mobiliar schwer erschüttert. Dreck, Krümel und Zigarettenstummel fallen vom Tisch und springen am Boden wie heißes Öl in der Pfanne auf und nieder. Der hochfrequente Druck steigt von den Füßen bis in den Nacken und lädiert die Festigkeit meiner Knie. Dann ertönt ein Bersten, als bräche etwas Großes entzwei. Schreie auf dem Flur, ein Schlag oder Knall, und ich höre, wie Menschen hektisch am Raum vorbeilaufen. Fragend schaue ich zum Vernehmer, der furchtsam und kleinmütig die Quelle des Übels ausfindig machen will. Wider Erwarten steckt er seine Pistole in das Halfter und läuft zur Tür, als sie im selben Moment auch schon vor ihm aufspringt. Ich denke noch, dass er die Pistole besser griffbereit hätte halten sollen und stelle mir vor, wie ihn jemand attackiert, während ich die Szene vom hinteren Teil des Raumes aus hilflos mit ansehen muss. Aber was folgt, ist keine Überraschung. Die Person auf der anderen Seite der Tür ist jene, die mir das Wasser gegeben hat. Ich kann die Gestalt anhand ihrer kehligen Stimme zweifelsfrei identifizieren, obwohl ich kein Wort verstehe. Der Vernehmer ist mit irgendeinem Umstand nicht einverstanden. Er schüttelt den Kopf, weist die Gestalt mit der Hand ab, doch diese brüllt: »Vergiss den! Los, sofort!« Das kam auch bei mir an. Beide verschwinden daraufhin und die Tür fällt ins Schloss.
Das Dröhnen von Laufschritten und vereinzelte Schreie dringen durch die dünnen Wände. Sie alle laufen und schreien sich in das Angstzentrum meines Gehirns. Ich kann ihn nicht abwenden, meinen Blick von der Tür, mental gefesselt starre ich anderthalb Minuten – ich habe die Sekunden gezählt – auf den Griff, in Erwartung, dass der Vernehmer zurückkehrt. Nicht in froher Erwartung, denn ich wünsche ihn mir natürlich nicht zurück. Aber er kann mich doch nicht einfach so allein lassen. Hundertachtzehn, hundertneunzehn, zwei Minuten sind es jetzt bereits. Schüsse fallen. Ich schrecke auf. Zwei, drei, vier an der Zahl, ein paar Räume weiter. Mein Blick wird von einem Vibrieren des Türgriffs gefangen genommen, das langsam beginnt, sich in ein Klappern zu steigern und in einer heftigen Erschütterung mündet. Wie von einem Erdbeben von hoher Stärke, aber mit einer abnormen Frequenz, die meine Füße, Schienbeine und Knie schmerzlich durchschüttelt. Es folgt ein brutales Geräusch vom Flur her, das wie das Zusammenschlagen regloser Körper klingt; dumpf und fleischig. Dann ein Schleifen über den Boden, ein Türöffnen, wieder das Schleifen, wieder die Tür und das Licht erlischt. Mein Herz trommelt bis zum Hals, ich atme schwer und rutsche ruhelos über den Stuhl. Schweißperlen sammeln sich an meinem Haaransatz und rollen mir über meine feurigen Wangen. Aus der Ferne erschallen nun undefinierbare Tumulte und von den Nebenräumen schnelle Schritte. Ich weiß nicht, was hier geschieht, aber alles deutet auf eine Attacke hin. Eine Attacke auf das Gebäude, und der Vernehmer hat mich allein gelassen — auf seine Wiederkehr hingegen deutet nichts. Ich glaube, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen kann, wenn ich das hier überleben will.
Nach wenigen Sekunden flackern die Leuchtstoffröhren an der Decke erneut und spenden wieder Licht. Zögerlich erhebe ich mich von der Sitzfläche und schleiche auf die andere Seite des Schreibtisches. Ich ziehe die Schublade auf und finde zwischen Taschentüchern und Minzbonbons, einen Halfter mit einer Pistole, meine Auto- und Haustürschlüssel, mein Handy und mein Portemonnaie … so als hätten sie auf mich gewartet. Auch die Handschellenschlüssel sind dort. Voller Zweifel schaue ich auf die Handschellen, und nachdem ich mich von ihnen befreit habe, auf meine Hände. Es ist nicht falsch, was ich mache, aber richtig ist es auch nicht, doch es fühlt sich an, als ob freie Hände einen freien Mann aus mir machen. Mehr noch hat mich das Lösen von den Handschellen von der Präsenz gelöst, und es hebt meinen Geist wenige Zentimeter über meinen Körper. Es entrückt mich in etwas Traumhaftes, genau jene Zentimeter fern von der Bedrohung. Ist die Wirklichkeit defekt oder ist das alles nur ein Traum? Ich schaue mich um. Ich weiß es nicht.
Schnell stecke ich die Sachen in die Taschen, gehe zur Tür und öffne sie. Nur einen Spalt, groß genug, um mich vorsichtig in den Flur zu lehnen. Es ist niemand zu sehen. »Hey, Kumpel, bist du da?«, rufe ich mit halber Lautstärke und sehe, dass die Tür einen langen Riss im Holzfurnier hat und dadurch ihr wabenförmiges Innenleben offenbart. Vorsichtig trete ich aus dem Raum. Weißer Dunst hängt an den grellen Leuchtstofflampen, der sich bis zum Flur-Ende zieht. Mein Blick richtet sich auf den Boden. Zu meiner Linken ist der PVC-Bodenbelag mit Bluttropfen übersät, Schuhspuren führen durch einige hindurch, und rechts sehe ich längliche Spuren einer blauen Flüssigkeit. Das Leuchten erscheint mir karibisch schön und chemisch toxisch zugleich, aber identifizieren kann ich es nicht. Ich will mich gerade hinunterbeugen, da schießt plötzlich ein blitzförmiger Schatten die Wand entlang. Als er im Dunkel eines Lichtflackerns