REVOLUTION AUTOMATON. Hendrik Kühn

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Название REVOLUTION AUTOMATON
Автор произведения Hendrik Kühn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958354777



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dümmlichen Klebezetteln auf. Das ist mal wieder typisch, ich kann diesen Pedanten in mir einfach nicht auskurieren und verabscheue mich dafür. Konzentriere dich auf die wichtigen Dinge, Simon! Ist doch alles gut ausgegangen. Du bist wieder auf freiem Fuß und die Polizei sucht nicht nach dir. Verstehst du das? Die wollen dich nicht!

      Darum fahre ich zum Hotel, dem angeblichen Ort des angeblichen Anschlags, und werde der Sache selbst nachgehen. Denn niemand macht mich zum Täter und niemand zum Opfer, ich nehme die Zügel selbst in die Hand, wie meine Kindheitshelden aus den Comicbüchern und Groschenromanen, die ich immer so gern gelesen habe. Für mich waren Privatdetektive stets die wahren Helden, weil sie immer genau wussten, wann sie das Gesetz übertreten mussten, um das Richtige zu tun. Sie waren schroffe, labile Charaktere mit Ecken und Kanten, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Ich liebte sie dafür und auch für ihr fragwürdiges Leben, das sich stets im rechten Moment wendete. Sie waren authentisch, nicht wie diese falschen Gesichter und diese synthetischen Fratzen, die man mittlerweile tagaus, tagein im Fernsehen, in der Politik und auf der Arbeit sieht. Das erträgt ja niemand. Gibt es denn keine Helden mehr?

      Diese Gedanken machen mich hellwach, mein sechster Sinn und mein Näschen für Gefahr kehren zurück, und ich fange alles mit meinem akribischen Blick auf; kiecke jenau, wie der Berliner sagen würde. Verlassene Autos am Straßenrand, einsame Gehwege und finstere Wohnblöcke, die sich wie lichtscheu in der Kulisse verstecken. Nur wenige Fenster erlauben einen Einblick in die Wohnungen. Die Letzten, die zur Ruhestunde noch nicht ihre Ruhe gefunden haben. Supermärkte, Banken und Lädchen wirken verlassen, die Müllerstraße ist geisterhaft leer gefegt und die alte Nazareth-Kirche steht wie ein kubischer Schatten auf dem Leopoldplatz. Erst auf der Chausseestraße kommen mir ein paar Autos entgegen. Sie sind schnell und drängen sich fast von der Straße, bemerke ich später. Ihnen folgt mein Blick über den Rückspiegel, dann sehe ich ein Polizeiauto über den Asphalt rasen, mit Blaulicht und Sirene. Das geschieht hinter mir und weit vor mir entfernt erkenne ich einen Brand. Er bläst glühende Teilchen in die Luft und imitiert mit seinem Lichtwurf die längst vergangene Dämmerung. Oberkörperfreie Männer stehlen ihm brennendes Holz, entzünden daran Molotowcocktails und werfen beides mit Wut auf einen schwarzuniformierten Polizeiblock.

      Ich verlangsame mein Auto, weil ich die Lage nicht einschätzen kann, und plötzlich landet lautlos irgendetwas auf meiner Frontscheibe. Mit dem gedimmten Licht der Innenraumbeleuchtung erkenne ich, dass es ein Flyer ist. Wehr dich, Bürger! Auf die Straße mit dir!, steht darauf und das ist alles, was ich lesen kann, denn dann fliegt er wieder von dannen, um den nächsten Unwissenden des Weges zu begleiten. Warum sollen wir uns wehren? Was zur Hölle ist da los? Als ich näherkomme, sehe ich, dass es nicht nur ein paar gewaltfrönende Rowdys sind, die die Ordnungshüter in Schach halten, sondern ein Mob von Menschen jeglicher Couleur, massenhaft und ungehalten. Ein regelrechter Bürgeraufstand, mitten in der Nacht, der die ganze Seitenstraße füllt und auf die Chausseestraße hinausführt. Es ist auch nicht nur ein Polizeiblock, der das Feuer und die Steine abwehrt, sondern erprobte Hundertschaften von Gesetzeshütern. Beide Parteien haben sich voreinander aufgestellt, provozierend die eine, passiv die andere, und es ist klar, dass die Zusammenmischung wie chemisch zu reagieren droht. Es sind nur Sekunden, schon beflügeln Kampfschreie die aufgebrachte Menge und sie stürmen auf die Polizisten los, die sich wie in der Phalanx-Taktik der römischen Legion formiert haben. Es kracht schrecklich, als sie zusammenstoßen. All die bewaffneten Hände erheben sich in die Höhe, um mit voller Kraft nach unten geschlagen zu werden. Auf und ab, auf und ab.

      »Was zur Hölle ist hier los?« Das ist Krieg, denke ich, und fahre langsam an dem Aufstand vorbei. Plötzlich fallen Schüsse und ich muss beschleunigen, weil diese die Menschenmenge panisch auf meine Straßenseite treiben. Eine Frau drückt sich in letzter Sekunde von meiner Motorhaube weg und geht — nur ein paar Meter weiter — von irgendetwas getroffen zu Boden. Zwei Männer eilen ihr zu Hilfe und ein halbes Dutzend Polizisten drischt sie nieder. Es ist ein Molotowcocktail, der im hohen Bogen angeflogen kommt, mit einem Feuerschlag an einem Polizeihelm zerspringt und alles in Brand setzt. Ich beobachte das durch die Heckscheibe, mit Vollgas fliehend vor dem Chaos, und sehe, wie der Kampf auf die anliegenden Straßen übergreift und eine Flamme spiritusbefeuert an einer Hauswand hinaufklettert. Ist eine Demonstration aus dem Ruder gelaufen oder was passiert hier gerade? Das ist ja der blanke Wahnsinn!

      Auch Minuten später sitzt mir der Schock noch immer in den Knochen und es gesellt sich Bruder Nervosität dazu, als ich hinter dem Hotel eintreffe. Die anfängliche Motivation ist jetzt einem Druck auf der Brust gewichen, der die Sauerstoffversorgung meines Körpers abschneiden will. Angeschlagen von den Symptomen einer eventuellen Unterbeatmung — ich bin mir nicht sicher, aber das ist zumindest das, was ich fühle — stelle ich das Auto vor dem Lieferanteneingang ab, hebe mich bleiern aus dem Auto und taumele zur Tür. Statt anzuklopfen, übergebe ich mich in eine der nahe stehenden Mülltonnen, und der Gestank von faulen Essensresten lässt mich kaum stoppen. Ich wische mir den Mund ab, versuche es noch einmal und hämmere mit den Fingerknöcheln an das Metall. Urban, der alte Glatzkopf, eigentlich ein lustiger Geselle mit stets zu groß geratenen Anzügen, macht mir persönlich auf. Sein grau-gestreifter Anzug ist mal wieder zu groß und anstelle einer Krawatte stellt er hinter dem aufgeknöpften Hemd seine Brustbehaarung zur Schau. Wie ein mafiöser Nachtklubbesitzer steht er breitbeinig vor mir und schaut mich bitter an.

      »Hey, Kumpel! Bist du allein?«, flüstere ich, und es klingt konspirativ, doch das bemerke ich erst zu spät.

      »Du hast vielleicht Nerven, hier aufzutauchen!«, sagt er patzig und seine tiefe Stimme rollt dabei wie ein massiver Stein vom Berghang. »Ich hab mich für dich eingesetzt, damit du hier arbeiten kannst! Und das ist dein Dank?«

      »Können wir reden?«

      »Nachdem, was du getan hast?«

      »Nichts habe ich getan«, versichere ich ihm. »Man hat mich wieder gehenlassen, wie du siehst. Ich bin unschuldig.«

      Es ist nicht böse gemeint, aber er ist nicht gerade die hellste Kerze im Leuchter, wie wir im Team zu sagen pflegen. Wenn er nachdenkt, braucht es seine Zeit. »Ich bin unschuldig«, wiederhole ich, da rattert es noch immer in seinem Kopf.

      »Ja, Mann, ich hab`s ja verstanden«, grummelt er, sieht sich kurz um und hält mir dann die Tür auf. Ich schlängle mich durch den schmalen Spalt an seiner aufgepumpten, ältlich hängenden Brust vorbei. »Du siehst beschissen aus.«

      »Du bist auch keine Schönheit, Urban.«

      Er schaut mir angewidert auf die rechte Wange, dann auf den Hals.

      »Ist es wirklich so schlimm?«

      »Sieh doch selbst.«

      »Kann ich kurz dein Bad benutzen?«

      Mit einer Handbewegung schickt er mich den Flur entlang und ich gehe in das Mitarbeiterbad, das am Ende liegt. Unsicher stehe ich vor dem riesigen, quecksilbrigen Wandspiegel und traue mich gar nicht, hineinzusehen. Möglicherweise ist es ja halb so wild, denn Gopal hat kein Wort gesagt und Urban neigt bekanntlich gern zur Übertreibung. Ich wage einen vorsichtigen Blick. Aus diesem Winkel sehe ich nichts, aber als ich einen Schritt nähertrete, erschrecke ich mich. Ich kann mich selbst nicht wiedererkennen. Mein Gesicht ist auf der rechten Seite komplett geschwollen, blutverschmiert und die Haut ist bis zum Hals hinab rot gereizt. Mit meinem Finger fahre ich vorsichtig darüber. Sie fühlt sich rau an, wie die eines Reptils, und die offenen Stellen sind schleimig. Bei der Berührung spüre ich ein schmerzhaftes Brennen und ich erinnere mich wieder, dass mein Gesicht schon beim Verhör unablässig gebrannt hat. Ich tupfe das Blut vorsichtig mit nassem Toilettenpapier ab, aber viel kann ich nicht tun. Es sieht schlimmer aus, als es ist, denke ich, und die Medizinerin Zeit wird das schon heilen, so wie sie es mit all meinen anderen Wunden getan hat. Wie sagte Friedrich Wilhelm N. schon: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker! Ich gehe zurück zu Urban.

      »Was ist das?«, frage ich ihn und zeige mit dem Finger auf mein Gesicht. Urban zuckt mit den Achseln und weist auf einen der zweckmäßigen Holzstühle vor seinem Schreibtisch, die mich immer an meine Schulzeit zurückerinnern – jeden Tag klebte ich ein benutztes Kaugummi unter die Sitzfläche, bis der werte Hausmeister sie entdeckte und alle mit einem Spachtel abkratzte. Der Verlust