Название | REVOLUTION AUTOMATON |
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Автор произведения | Hendrik Kühn |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783958354777 |
»Alles okay mit dir?«
Urban nutzt diesen Raum als eine Art Büro, wenn er nicht gerade im Videoraum die Überwachungskameras kontrolliert. Anders als der Publikumsbereich des edlen 5-Sterne-Hotels, gleicht dieser eher einer Abstellkammer. Dunkelblaue Aktenschränke aus Blech, alte Pappkartons, aussortierte oder auf Reparatur wartende Hotelmöbel bis unter die Decke gestapelt, ein verdreckter Schreibtisch und ein alter Pirelli-Kalender mit entblößten Frauenbrüsten an der kalkweißen Wand. Das Wertigste hier ist die komfortable Polstercouch in der Ecke, auf der ich schon einmal geschlafen habe. Es war furchtbar, aber daran trug die Couch keine Schuld, sondern eher Urbans Füße, denn wenn er sich ungestört glaubt, zieht er unter dem Schreibtisch immer seine Schuhe aus – und dieser Schweißfußgestank hat diesen Raum nie verlassen. Nach stundenlanger Inhalation in der Nacht ging das gasförmige Gift aggressiv meine Schleimhäute an. An Ruhe war nicht mehr zu denken – ich hatte Albträume!
»Alles okay mit dir, Simon? Was willst du überhaupt hier?«
Ich räuspere mich, denn von dem Gestank bekomme ich sofort wieder einen Frosch im Hals. »Ja, ähm, ich habe vorhin in den Zeitungen gelesen, dass unser Bundeskanzler an einer mysteriösen Krankheit gestorben ist. Weißt du etwas darüber?«
Er lächelt mich schmierig an und scheint emotional vollkommen teilnahmslos, aber das wundert mich nicht, der Typ hat immerhin dreißig Jahre tagaus, tagein verrückte Hotelszenen am Monitor beobachtet. Den überrascht wahrscheinlich nichts mehr.
»Hast du mich jemals Zeitung lesen sehen? Das ist doch totaler Quatsch und du weißt es am besten.«
»Nein, nein, ich kann mich an überhaupt nichts erinnern«, beschwöre ich ihn.
»Ach komm schon!«
»Totaler Blackout, kannst du mir glauben. Die Bullen haben so getan, als hätte ich Bertolt Engel persönlich umgebracht. Ich meine anfangs, aber dann haben sie mich gehenlassen.«
»Du erinnerst dich echt an gar nichts mehr?«
»An gar nichts, wirklich.«
Er erhebt sich vom Stuhl und läuft an mir vorbei.
»Was ist los?«
»Komm mal mit.«
Ich folge ihm durch die Gänge, die vom Dämmerlicht der müden Leuchtstoffröhren so dunkel sind, dass ich ihre weiße Wandfarbe und die zerschlissenen Böden aus meiner lädierten Erinnerung abrufen muss. Keine Menschenseele ist zugegen und niemand zu hören, nur pfeifende Geräusche, die, glaube ich, von der Heizung im Keller stammen. Meine Augen schwelen und lodern in innerer Hitze, lassen mich vage sehen, und als die Lampen zu flimmern beginnen, verschwindet Urbans Silhouette für einen Bruchteil einer Sekunde. Er geht schnell für sein Alter und es ist mühsam, ihm zu folgen, aber er wartet an der Tür auf mich, der liebenswürdige Glatzkopf. Ich nicke ihm zu, er nickt zurück, dann klirrt es über uns und es wird stockfinster. Einige Lampen schalten sich sofort wieder ein, doch die über uns bleibt ohne Funktion.
»Verdammt!«, ruft Urban wütend. »Jetzt muss Gerd die Glühbirnen schon wieder wechseln!«
»Ist das heute schon mal passiert?«
»Ja, ein paarmal schon. Gerd sagt, da stecken Hacker hinter, Jungs an Computern, die seit der Geschichte mit dem Bundeskanzler die ganze Stadt verrückt machen.«
Wir nehmen eine Treppe in den Keller und folgen dann einem langen, deprimierenden Gang, der in der Mitte einen 90-Grad-Knick nach rechts macht. Ich war hier oft, das weiß ich, es ist eine Abkürzung für Mitarbeiter, die das ganze Hotel unterführt. In der Mitte, genau im Knick, bleibt er stehen und sagt: »Hier.«
»Was ist hier?«
»Hier ist er gestorben.«
Bei diesem Gedanken fühle ich mich plötzlich unwohl. Gibt es nützliche Hinweise hier? Ich sehe mich um, suche nach Dingen, die den Ermittlern entgangen sein könnten. Urban beobachtet mich dabei achtsam. Vielleicht glaubt er, es bestehe die Gefahr, dass ich die Spuren verwischen könnte. Ich suche am Boden, ich gehe auf Zehenspitzen und schaue mir jede Ecke und jede Kante ganz genau an, aber alles ist sauber und nichts scheint auf einen Mord hinzudeuten. Der rutschhemmende Bodenanstrich glänzt, als wäre er frisch aufgetragen und die Wände haben keine Schramme.
»Hier ist nichts«, stelle ich fest, »sieht aus wie neu.«
»Der Tatortreiniger war schon hier. Handwerker haben alles renoviert, das ging ganz schnell.«
Ich fasse mir ungläubig an die Stirn. »Warum hast du mich denn dann überhaupt hergebracht?«
»Ich dachte, du würdest dich dann wieder erinnern. Das macht man doch mit Leuten, die unter Gedächtnisverlust leiden. Funktioniert es?«
Zugegeben, das war eine gute Idee, aber ich erinnere mich an nichts, an nichts Aktuelles zumindest. An nichts, was mit dem Tod des Bundeskanzlers zu tun hat. Ich habe meine Zweifel, ihn überhaupt getroffen zu haben. Ich würde mich doch schließlich an so etwas erinnern, oder etwa nicht?
»Leider nein. Wie ist er eigentlich gestorben?« Urban sieht mich mit einem leeren Ausdruck an. »Was denn? Wie ist er gestorben?«, frage ich noch einmal.
»Ich dachte, ich weiß es, aber jetzt wo du wieder auf freiem Fuß bist, bin ich mir nicht mehr sicher.« Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf, wo ein paar seiner spärlichen Haare nach oben zeigen.
»Sieht man denn nichts auf den Überwachungskameras?«
»Doch, schon, in gewisser Weise zumindest. Ich kann es dir zeigen.«
Ich gehe drei Meter weiter, mühe mich auf die Knie und schaue mir die Wand knapp über der Bodenkante an. Dort ist ein blauer Fleck, ein länglicher Spritzer – ich reibe meinen Daumen darüber – er ist trocken, fast pulvrig. Ich erinnere mich nun wieder an die blaue Flüssigkeit, die ich auf dem Flur nach der Vernehmung gesehen habe, informiere Urban aber nicht darüber.
»Wovon könnte der blaue Fleck stammen?«, frage ich ihn stattdessen.
Er beugt sich herunter, fährt mit dem Zeigefinger darüber und riecht daran. Ich traue meinen Augen kaum, als er seinen Finger in den Mund steckt, um die unbekannte Flüssigkeit zu testen.
»Igitt!«, ruft er aus und verzieht vor Ekel sein Gesicht. »Ich muss dich enttäuschen, das ist kein Blue Curaçao. Es schmeckt sehr bitter.«
»Das ist nicht witzig. Überhaupt nicht. Das Zeug könnte lebensgefährlich sein.«
»Jetzt mach mal kein Drama draus, so ein bisschen bringt schon niemanden um. Das haben wir immer so gemacht.«
»In den Hotelzimmern habt ihr das immer so getan, wirklich? Das ist widerlich, weißt du das?«
»So habe ich das nicht gemeint. Es gibt nun mal Dinge, die man nicht mit dem bloßen Auge erkennen kann. Wie das hier«, er zeigt auf den blauen Fleck an der Wand.
»Na gut, und was ist blau, bitter und nicht zum Verzehr geeignet?«
»Keine Ahnung. Vielleicht eine Chemikalie von der Spurensicherung.«
»Sehr hilfreich, vielen Dank, Urban. Zeig mir lieber mal die Aufnahmen der Überwachungskameras, bevor noch andere Flecken dein amouröses Verlangen wecken.«
»Quatsch nicht immer so geschwollen und versuch mich mal lieber zu verstehen«, grummelt er beleidigt und zieht los.
Ich lache. »Was meinst du damit?«
Der Videoraum ist im Erdgeschoss und er trägt zurecht seinen Namen, denn in dem schmalen Areal ist eine der Wände komplett mit Monitoren gespickt und es hat ansonsten nur noch ein Pult, zwei Stühle und den typischen, beißenden Geruch von Technik,