Ypsilons Rache. Lou Bihl

Читать онлайн.
Название Ypsilons Rache
Автор произведения Lou Bihl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949286032



Скачать книгу

im Café ankam. Von der Torte war nur noch ein Häufchen abgekratzter Bitterschokoladeschnipsel übrig. »Das ist für dich, Opa, mehr gibt’s nicht, du bist mal wieder zu spät!«

      Mit sanftem Schütteln hob ich sie hoch und fletschte die Zähne. »Na gut, mein Schokokrümel, wenn’s so ist, fress ich eben dich.«

      Micky quietschte und fletschte dagegen. Ihre Mutter schimpfte: »Du sollst doch nicht Schokokrümel sagen.«

      Maren fand meinen Kosenamen für ihre Tochter rassistisch. Außerdem wurde sie ungern daran erinnert, dass Micky das Resultat einer ekklesiogenen Ekstase mit einem Gläubigen der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche auf dem evangelischen Kirchentag war, einem Event, das Maren seit ihrer ersten Verliebtheit in einen CVJM-Jungmann alle zwei Jahre besuchte.

      »Lass Opa doch!«, vermittelte Micky, die den Spitznamen mochte und die Entrüstung ihrer Mutter zu genießen schien. Maren schüttelte den Kopf, nannte uns Kindsköpfe und brach auf, um Heideröschen fürs Grab zu kaufen.

      Micky schnappte meine Hand und ließ mich nur kurz los, solange ich zahlte.

      Der Friedhof verbannte den Hauptstadtlärm hinter seine Mauern und ließ uns in die grüne Stille mit schattigen alten Bäumen eintauchen. Ich mochte den Kontrast zwischen der bombastischen Dekadenz mancher Mausoleen und der rohen Schmucklosigkeit anderer Gräber, die den Ruhm ihrer Namensträger verspottete oder auch betonte.

      Kaum war ihre Mutter außer Hörweite, blieb Micky abrupt stehen, schaute mich aus großen Augen an und fragte mit brüchigem Stimmchen: »Tina sagt, wer Krebs kriegt, kratzt bald ab. Stimmt das?«

      »Quatsch. Tina ist ’ne blöde Kuh und weiß gar nicht, was Krebs bedeutet. Den Krebs gibt es sowieso nicht, Krebs ist einfach ein Wort, mit dem dumme Menschen ganz verschiedene Krankheiten in einen Topf werfen. So wie Auto, das kann ein Sportflitzer sein oder ein dicker Lastwagen …«

      Micky nickte und sah mich hoffnungsvoll an.

      »Beim Krebs gibt es dicke Hummer, wie bei Omas Geburtstag, oder Nordseekrabben.«

      Micky war noch nicht ganz überzeugt und wollte wissen, warum man mit Krebs krank würde. Ich zeigte ihr ein üppig bepflanztes Grab, das offensichtlich schon einige Zeit nicht mehr gepflegt wurde. »Schau mal, hier: viele schöne Blumen, aber auch einige Unkräuter. Wenn zu viel Unkraut wächst, gehen die Blumen kaputt. So was Ähnliches passiert bei manchen Krankheiten, wenn im menschlichen Körper etwas wächst, das da nicht hingehört. Dann muss der Patient zum Arzt, und der muss dafür sorgen, dass das Unkraut ausgerupft wird oder wenigstens nicht weiterwächst.«

      »Dein Krebs ist hoffentlich eine Nordseekrabbe?«

      »Na ja, sagen wir mal eine kleine Garnele.«

      Das Strahlen kehrte in Mickys Augen zurück und sie umarmte mich gewohnt stürmisch. Dann zerrte sie mich weiter.

      Am Grab von Bert Brecht blieb ich kurz stehen und erzählte ihr, dass da ein berühmter Dichter und seine Frau, eine Schauspielerin, ruhten. Micky fand dieses Grab langweilig – Brechts Grabstein, den unbehauenen Felsblock in Form einer aufragenden Bergspitze, daneben Helene Weigels Stein: nur halb so hoch wie der ihres Mannes, dafür aber von geduckter Breite.

      »Der Dichter hat sich einen Grabstein gewünscht, an den jeder Hund pinkeln möchte, deshalb ist der so einfach.«

      Sie runzelte die Stirn. »Dann kriegt der Dichter die schönen Bernhardiner und seine Frau nur die blöden Pinscher.«

      Zurück am Grab meiner Ex-Schwiegermutter stürmte Micky in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.

      »Mami, Opa hat gesagt, er hat gar keinen Krebs, sondern bloß eine Krabbe. Er stirbt auch nicht; und Tina ist ’ne blöde Kuh.«

      Meine Tochter sah mich erst verständnislos, dann dankbar an, bevor sie mich in die Umarmung einschloss.

figure

      Verstohlen sah ich mich um, ehe ich das Schweizermesser zückte und ein Adonisröschen auf einem der Gräber abschnitt.

      Wolfgang Herrndorfs Grab trug nur einen schmucklosen Betonstein mit minimalistischer Aufschrift, eingezwängt lag es zwischen einem sozialistischen Wirtschaftswissenschaftler und einem Ost-Opernintendanten, dem hundertzwei Lebensjahre vergönnt gewesen waren. Ich legte mein Röschen zwischen Flaschenpost und Bleistift zu den anderen Devotionalien.

      Hi Mann, gegen dein Glioblastom hattest du keine Chance. Ob ich mit meiner Prostata fertig werde? Du hast es immerhin geschafft, die Kürze deines Restlebens in ein Kunstwerk zu verwandeln. Wann fängt man damit an, jeden Tag so zu leben, als wäre es der letzte, wenn man die eigene Restlaufzeit nicht einschätzen kann? Ich wüsste zu gern, was du an meiner Stelle getan hättest. Zumindest kenne ich einen sanfteren Exit als Kopfschuss. Aber nicht so bald. Friedhof macht hungrig auf Leben.

figure

      Die kupferblonde Perücke machte mich zu blass, also griff ich zu aschblond. Ich verzichtete auf die Netzstrumpfhose und stieg in die Lackstiefel. Dann schlüpfte ich in das Kleid aus der neuen Diane-von-Fürstenberg-Kollektion. Mit seinem Eingriff bietet das klassische Wickelkleid den Zugriff bei voller Bekleidung; unter anderem deshalb hatte es mich fast mein ganzes Leben lang begleitet. Ihren ersten Auftritt hatte die Kultklamotte in den Siebzigern, in einem nachtblau geblümten Seidenexemplar aus einer der ersten Serien hatte Mutter in der Stuttgarter High Society damit Aufsehen erregt. Jahre später rangierte sie es aus, nachdem Vater ihr versehentlich ein Glas Negroamaro ins Dekolleté geschüttet hatte. Klammheimlich hatte ich es aus dem Karton für die Kleiderspende geklaubt. Als ich mich das erste Mal in den schmeichelnden Stoff wickelte, machte die antizipierende Erregungdas Handanlegen überflüssig. Bis zum Studium prägte Mutters Kleid mein Ritual, dann tauschte ich es gegen ein neues, für dessen Finanzierung ich zehn Nachtwachen absolvieren musste. Später ging ich alle paar Jahre mit Alex shoppen, wenn eine neue Kollektion auf den Markt kam, bis der Internethandel uns diese Mühe abnahm und direkt an ihre Adresse lieferte.

      Zufrieden betrachtete ich vor dem Ganzkörperspiegel, wie der zarte Stoff zu beiden Seiten an mir herunterfloss. Bei der Schminke blieb ich minimalistisch, Lippenstift, ein Strich Kajal unter die Augen, auf Wimpertusche verzichtete ich. Puder verbot sich, da er auf Bartstoppeln kalkig wirkt und ich zu faul war, mich noch mal zu rasieren. Ein Tropfen Femme kam auf das linke Handgelenk, für die rechte Hand musste ein rot lackierter Mittelfingernagel genügen.

      Aber diesmal ließ sich Ypsilon nicht vertreiben: Als ich in den Spiegel schaute, sah ich weder mich noch Kristina, da erschien nur der alternde Männerbody von Kris, noch dazu teilweise im Streikmodus. Weder zartes noch härteres Streicheln, auch nicht der Anblick des rotlackierten Nagels auf der Schaftvorderseite oder das Schnüffeln von Femme am Gelenk der freien Hand konnten den Schwanz heute seiner Sollgröße näherbringen, geschweige denn ihm zum Stand verhelfen.

      Also Kopfkino. Ich sitze hinter Gemma auf der Harley, die sie ihrem mörderischen Alten geklaut hat. Sie ist nur mit Lederhelm und Stiefeln bekleidet, ihr praller Hintern schmiegt sich in den harten Sattel, der holprige Highway lässt ihre Titten schwappen. Doch zu mehr als lustlosem Wippen konnte selbst Gemma meinen Schwanz heute nicht inspirieren.

      Filmwechsel – ich visualisierte die Kathoey-Zwillinge aus Bangkok, Sanya mit der Mädchenmuschi, Suna mit dem Prachtschwanz.

      Meiner verharrte im Streik. Von wegen Eros als Lebenstrieb!

      Frustriert schminkte ich mich ab und entfernte den Nagellack. Die Rückkehr in mein Kris-Leben war diesmal nicht die gewohnte schmerzliche Selbstvertreibung aus dem Paradies – stattdessen eine trostlose Leere, in der sich ein Friedhof zwischen mich und mein eigentliches, nie gelebtes Leben schob.

      Als ich die Truhe schloss, zitterte der Schlüssel in meiner Hand und mein Herz raste, als hätte ich mein Ritual erfolgreich zu Ende gebracht. Kalte Schweißperlen bahnten sich ihren Weg durch die Augenbrauen und meine Brust fühlte sich an wie in einer Schraubzwinge. Als das Rasen auch nach Minuten nicht nachließ, dachte