Название | Ypsilons Rache |
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Автор произведения | Lou Bihl |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949286032 |
Meine Alex. Die Einzige, die mich mit allen Untiefen kennt und mag – den ängstlichen Kris ebenso wie die verstörte Kristina, die nun dagegen aufbegehrt, dass die Ypsilon-Krankheit ihr die Bedeutung streitig macht. Den Menschen, der sich hinter einer Glaswand aus Sarkasmus verschanzt, sobald es emotional ans Eingemachte geht, der aber weiß, dass Alex seinen Seelenzustand durch diese gläserne Barriere, wie durch eine Lupe, noch deutlicher erkennt. Die ihn festhält, wenn er wehrlos und verletzlich ist, und ihn mit herber Herzlichkeit schützt.
Im Morgenlicht konnte man ihrem Gesicht ansehen, dass sie die Spuren der Jahre nie bekämpft hatte. Ihre Wimperntusche war nicht wasserfest, die offensichtlich lange nicht gezupften Augenbrauen verliehen ihr einen zusätzlichen Hauch androgyner Herbheit, und die furchig vertiefte Zornesfalte über den Augen zeugte davon, dass ihre letzte Botoxinjektion gegen Migräne auch schon einige Zeit zurücklag.
Sie schnitt ein Brötchen auf und reichte mir die obere Hälfte. »Also?«
»Ist das jetzt die psychoprofessionelle Gesprächseröffnung?«
Alex köpfte ihr Ei. »Okay. Dann eben anders. Falls dich meine Meinung interessiert: Du musst dich operieren lassen.«
»Wie kommst du auf diese Expertenempfehlung?«
»Was weg ist, ist weg. Für solche Logik braucht man kein Expertentum.«
Damit hatte sie sich auf mein ureigenes Terrain gewagt. Auch ich köpfte ausnahmsweise mein Ei und hielt ihr das abgeschnittene Oberteil vor die Nase. »Hausfrauen- und Chirurgenlogik! Weg ist nur, was der Wegschneider mit bloßem Auge sieht, also das Makroskopische. Wenn ein Chirurg verkündet, ein Tumor wäre nach der Operation weg, dann ist das bestenfalls nicht gelogen. Die Wahrheit des Wegseins erkennt frühestens der Pathologe, wenn er das, was angeblich weg ist, unter dem Mikroskop sieht. Wenn irgendwo noch Tumorzellen sind, bedeutet das: nix Heilung, sondern Metastasen!«
Eigentlich wäre jetzt einer ihrer sarkastischen Kommentare fällig gewesen, von wegen Pathologensprech. Aber sie senkte nur den Kopf und winkte ab. »Stop, Kris, sprich über das Medizinische mit Leuten, die du ernst nimmst! Aber rede mit mir über das, was dich bewegt …«
Jetzt hatte sie mich da, wo ich nicht zu Hause war. Ich konnte nichts erwidern.
Alex kam um den Tisch und nahm mich in die Arme. Ich hörte ihr Herz hämmern. Jeder Schlag zerbröselte ein Stück meiner Fassade und als der Damm gebrochen war, klammerte ich mich an ihr fest, geschüttelt von Schluchzen, das nicht zu mir zu gehören schien. Sie hielt mich für eine gefühlte Ewigkeit, streichelte meinen Kopf und murmelte Unverständliches. Ihre Bluse wurde nass.
Als ich mich beruhigt hatte, ging sie zurück zu ihrem Stuhl und reichte mir zwei Stück Küchenkrepp.
»Es ist ja nicht nur, dass der Krebs mich möglicherweise impotent oder inkontinent macht, falls er mich nicht gleich ganz umbringt. Viel mehr würfelt mich, dass mein Leben vielleicht vorbeigeht, ohne dass ich es so gelebt habe, wie es vielleicht meins wäre.«
Ich sprang auf, fischte die halb durchweichte Marlboroschachtel aus dem Mülleimer, zündete mir eine an und inhalierte, ohne zu husten. Alex ließ das unkommentiert. Nach einem Moment des Schweigens schaute sie mir in die Augen und sagte leise:
»Alors, mon cher, dann fang doch jetzt damit an. Aber bitte erst mal ohne OP!«
»Schon klar«, murmelte ich. Meine einzige Transvertraute hatte mich immer ermuntert, zu meinem Wunschgender zu stehen, mir von einer totalen, operativen Geschlechtsangleichung aber eher abgeraten. Sie hielt den Penis als Sinnbild des Männlichen für überbewertet, schließlich sei die Essenz einer Person unabhängig davon, ob das Teil dran oder ab wäre – und mein armer Schwanz habe das Skalpell nicht verdient.
»Du kannst leicht reden als Frau«, maulte ich, doch ihr Lächeln steckte mich an und löste den Tränenkloß in meiner Kehle.
Ich wollte nicht abheben, ertrug aber die Schrille nicht. Auf dem Display stand Irmgard.
Ich solle zum Abendessen kommen, es gebe Königsberger Klopse. Die Phase meiner Klopspräferenz war seit zwanzig Jahren vorüber, aber damit wollte ich meine Exfrau nicht kränken. Also Kopfschmerzen. Die Klopse hielten auch bis morgen, meinte sie. Die Dringlichkeit in ihrem Tonfall ließ Alarmglocken schrillen und mich fragen, ob sie am Vortag bei ihrer Freitagsrunde im Fitnessstudio gewesen sei.
»Ja, wieso?«
»War Kimi auch da?«
Nach kurzer Pause kam ein zaghaftes »Ja, schon. Warum?« Wie vertraut war mir dieses Zögern aus all den Situationen unserer Ehe, in denen ich sie ertappt hatte oder sie sich so fühlte. Zum Beispiel auf der Party, als sie im Vollrausch Sex mit Wolff gehabt hatte. In seinem Hobbykeller. Seinerzeit hatten mich alle Kerle um meine Frau mit ihrer 90-60-90-Figur beneidet, und zu diesen Kerlen gehörte auch Wolff, damals noch wampenlos. An uns allen hatte zwischenzeitlich der Zahn der Zeit genagt, den Irmgard aber eisern und nicht ohne Erfolg beim Freitagstraining bekämpfte. Mit Kimi, die eigentlich Kriemhild hieß und Wolffs Frau war.
»So viel zur ärztlichen Schweigepflicht.«
Diesmal war die Pause länger, durch den Lautsprecher drang Schluchzen. Entnervt stellte ich die Freisprechtaste aus.
»Okay, Kimi hat es mir erzählt und ich musste versprechen dir nichts zu sagen. Ich dachte, wenn du zum Essen kommst, sagst du es mir und ich kann dich trösten.«
Meine Abwehr schmolz. Ich sagte ihr für den nächsten Abend zu. Und nahm mir vor, Blumen mitzubringen.
Die vertraute Strecke über die Moabiter Brücke erschien fremd, das Tageslicht grell. Selbst die alten Bäume im Englischen Garten, sonst Oase grüner Geborgenheit, wirkten heute nur knorrig. In meinem Kopf lieferten sich Roboter, Linearbeschleuniger und Hormonbehandlung eine unausgewogene Schlacht. Das Joggen, sonst ein zuverlässiges Instrument zur Auflösung von Hirnchaos, versagte als Sortierfunktion. Nach dem ersten Kilometer wurden die Muskeln sauer, das Atmen mühsam und mein Herz pumpte altmännermüde, als nähme es vorweg, wie die Krankheit oder deren Behandlung ihm einmal die Schlagkraft rauben würden. Das geht vorbei. Ich gelobte mir, Marlboro aufzugeben.
Bei der Altonaer Straße warf ich das Handtuch und opferte den Tiergarten der Couch und meiner Lieblingsserie, den Sons of Anarchy, die heute komplett an meiner Aufmerksamkeit vorbei auf ihren fetten Harleys durch die kalifornische Wüste ratterten. Nicht einmal Gemma, die Old Lady, konnte mich inspirieren, obwohl die androgyne Sexbombe in Leder und genagelten Stiefeln, wenig jünger als ich selbst, mich sonst verlässlich beflügelte.
Als ich den Bikern bei ihrem Ritt in die untergehende Sonne nachsah, kam mit dem Fernweh die Idee: die Hormontherapie vorzuziehen, mich erst dann für Bestrahlung oder Operation zu entscheiden und damit drei Monate Aufschub zu gewinnen. Drei Monate Zeitgewinn für eine Reise, ohne dabei etwas zu versäumen.
Ridin’ through this world vor mich hin summend, warf ich den Trainingsanzug in die Wäsche, suchte den blassblauen Kaschmirpullover heraus, den Irmgard mir zum Geburtstag geschenkt hatte, und bändigte die Haare mit einem Spritzer Styling-Gel. Die Spuren der schlafarmen Nacht, die sich in schwarzen Runzelringen um meine Augen eingegraben hatten, ließ ich unter einem Hauch Concealer verschwinden. Kurz war ich versucht, Alex’ Blumenstrauß für meine Exfrau zu zweckentfremden, entschied mich dann aber für den Umweg zum Floristen im Hauptbahnhof.
Irmgards Hosenanzug spannte über Bauch und Hüften, sie roch nach Chanel No. 5 und Pastis. Ihre Umarmung war ungewohnt umschlingend und ihre Augen schimmerten verdächtig, als sie mir die Blumen abnahm. »Alles wird gut, ich bin für dich da.«
War das die Chance? Wann, wenn nicht jetzt, wo nichts mehr ist wie immer? Vielleicht