Название | Ypsilons Rache |
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Автор произведения | Lou Bihl |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949286032 |
Mich würde niemand auf einen Sockel stellen, nicht mal in der Erinnerung. Aber einen Grabstein wollte ich auch nicht.
Als der Anorak durchnässt war, brach ich den ziellosen Marsch ab und flüchtete in die nächstbeste Kneipe. Ein Schwall aus Alkohol, altem Bratfett und ungewaschenen Körpern schlug mir entgegen. Die wenigen Gäste, ausschließlich Männer, starrten mit grauen Gesichtern und leerem Blick in halbvolle Biergläser. Das Neon über dem Tresen flackerte grünlich, Helene Fischer dröhnte atemlos durch die Nacht. Ich bestellte ein Pils und zwei Buletten, die auf der Theke unter einer Plastikabdeckung schwitzten, dazu eine Portion Kartoffelsalat, bei dem die Mayonnaise schon Krusten bildete. Trotz der frühen Stunde orderte ich einen Korn dazu, ohne mich an den Fingerabdrücken auf dem Schnapsglas zu stören, mein Befund machte die Sorge um hygienische Belange belanglos.
Nach dem dritten Pils ging ich auf das Unisexklo. Es tröpfelte so zögerlich, als hätte Wolffs Diagnose mir eine Stahlklammer um die Harnröhre geschraubt. Auf dem Rückweg in den Gastraum kam mir die Idee, eine Schachtel Marlboro zu ziehen. Selige Zeiten, als man sechzehnjährig für zwei Mark zwanzig Zigaretten bekam, dachte ich, als der Automat den Nachweis meiner Volljährigkeit verlangte.
Zu Hause fand ich bei den Teelichtern ein Päckchen Streichhölzer und inhalierte den ersten Zug seit zwanzig Jahren mit lustvoller Hingabe. Den Hustenreiz ignorierte ich, auch der Schwindel war nicht unangenehm, wohl aber das Aufstoßen: Bier, Bulette und Marlboro. Die Notration Underberg fiel mir ein, ich fand zwei Viererpackungen von 2-cl-Flaschen in der hintersten Ecke des Hängeschranks. Die bittere Schärfe ätzte sich durch die Speiseröhre und räumte den Magen auf.
Ich konnte ich es nicht lassen, klappte den Laptop auf und wurde bei PubMed fündig. Was die Überlebensraten betraf, gab es keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Operation und Strahlentherapie, sehr wohl aber deutliche Differenzen bei Inkontinenz und Impotenz. Zu Ungunsten der Operation. Dann gab ich Gender Affirming Surgery und Prostate Cancer ein, fand aber nur in einem Artikel die lapidare Aussage, Patienten mit vorangegangenen Operationen oder einer Strahlentherapie im Beckenbereich müssten über erhöhte Risiken und Schwierigkeiten bei der operativen Konstruktion einer Neovagina aufgeklärt werden. Und dann noch die Aussage, bei Rauchern sei die Komplikationsrate höher. Ich warf die Zigaretten in den Müll.
Der blinkende Posteingang lenkte mich ab.
Wie war’s bei Wolff, ich warte seit Stunden!! Gruß A.
Alex, die ich vergessen hatte. Ich klickte auf Antworten und tippte:
Liebste Alex, wer, wenn nicht du, sollte die Erste sein für den Hiob? Ich könnte mich in den Hintern beißen, dass ich den Routinecheck gleich am Anfang des Sabbaticals absolviert habe, statt erst mal die freie Zeit zu genießen und das Buch zu schreiben. Will der heilige Sankt Ypsilon mir das jetzt vermasseln, indem er mich dafür bestraft, dass ich ihm die Dankbarkeit fürs Geschlechtschromosom verweigere? Prostatakrebs! Noch nie habe ich mich so verkehrt in meinem Körper, so völlig im falschen Film gefühlt. Auf dem Pathobefund stand Kristian Starck, der musste ja wohl ich sein, aber der war mir fremder als je zuvor. Leider war auch Kristina wie von einer Nebelschwade eingehüllt und ließ sich nicht greifen oder spüren.
Meine Hilflosigkeit habe ich an Wolff ausgelassen, mal wieder mit sarkastischen Sprüchen, und diesmal konnte er nicht einmal zurückschlagen. War wenig übrig von seiner sonst zelebrierten Souveränität. Sein Vorschlag: radikale Prostatektomie. Ob der Künstler entscheidende Nervenstränge schonen kann, stellt sich erst hinterher raus – und das »entscheidend« bezieht sich dabei auf den Erhalt der Potenz. Oder eben deren Verlust … Weiteres Risiko: Inkontinenz. Also Pampers.
Damit ist die OP eigentlich indiskutabel. Dann habe ich Idiot mich noch verquatscht, indem ich ausgerechnet ihn fragte, ob nach einer Prostatektomie noch eine geschlechtsangleichende OP möglich wäre. Bin dann aber sofort eingeknickt und habe vorgegeben, das sei bloß ein Scherz gewesen, was er mir in seiner beschränkten Spießerphantasie auch prompt abgekauft hat. Kristina hat mich einen Feigling geschimpft, aber ich habe es einfach nicht geschafft, sie Wolff vorzustellen, gerade jetzt und zumal er außer dir der Erste wäre … Übrigens: Eine mögliche Nebenwirkung der die Bestrahlung begleitenden antihormonellen Therapie ist eine Schwellung der Brustdrüsen! Titten auf Rezept!
Sorry, Liebste, muss aufhören, hab – wie zu Urzeiten – Bier, Underberg und mehrere Marlboros intus und mir ist ein bisschen schlecht – aber mental schon viel besser, nachdem ich alles bei dir abgeladen habe. Also, alles unter Kontrolle, spar dir bitte jegliches Psycho-Blabla für deine Patienten und verschone mich mit Mitleid, das hole ich mir von der Exgattin. Quasi als Selbstbestrafung dafür, dass ich Depp damals nicht DICH geheiratet habe. Luv, dein Kris
Die Antwort von Alex kam umgehend:
Merde alors!!! Dass sich die Verdachtsdiagnose bestätigt hat, finde ich furchtbar im Wortsinne. Hier geht es nicht um mich, aber da ich dich liebe, musst du mir schon erlauben, mit dir zu leiden, wenn ich mir den Krebs in dir vorstelle. Den Ausdruck Psycho-Blabla lasse ich dir (nur!) heute wegen mildernder Umstände durchgehen, Underberg macht dich seit Studentenzeiten unverschämt. Es hat sicher nichts mit Psycho zu tun, wenn ich wissen will, wie es DIR geht und NICHT, wie brillant du den blöden Wolff und die ganze Situation unter Kontrolle hast – abgesehen von dem kleinen Ausrutscher, ausgerechnet jetzt und ausgerechnet diesen Macho nach einer geschlechtsangleichenden OP zu fragen!?
Dass du dich als halbmilitanter Ex-Raucher mit Zigaretten vergiftest und Schnaps trinkst, ist für den Moment nicht zu beanstanden, ich hoffe, das geht schnell vorbei. Aber wenn du deinen Kater kuriert hast, wirf bitte den Sarkasmuspanzer ab und REDE gefälligst mit mir. Betrachte das als ausdrücklichen Anspruch einer besten Freundin, die du gottseidank nicht geheiratet hast! Ich drück dich. LuvU, deine Alex.
Ich drückte meine Zigarette aus. Spürte die Rinnsale auf den Wangen. Fing an zu summen. Smoke Gets In Your Eyes.
Das Morgenlicht blendete und mein Kopf dröhnte. Gut, dass der Schnaps Hirnmetastasen unwahrscheinlich machte. Der Magen rotierte, und die Zunge fühlte sich an wie mit Nikotinkaugummi an den Gaumen geklebt. Sogar das Zwitschern der Vögel war aufdringlich und die Spatzen tschilpten, als ginge das Leben einfach so weiter. Es half auch nichts, die Augen geschlossen zu halten, um den Augenblick im wattigen Halbschlaf zu verlängern und die Erinnerung hinauszuschieben.
Kein Traum. Wolffs Hiob. Krebs.
Die Blase duldete keinen Aufschub, also quälte ich mich aus dem Bett; das Zähneputzen verstärkte den Brechreiz. Ich stolperte in die Küche, schaltete die Espressomaschine ein und wieder aus, heute nur Kamillentee. Wenigstens Samstag, keine Termine, und eine Krankmeldung nicht nötig. Sabbatical, das lang ersehnte freie Jahr, endlich Zeit für mein Buch, eine Reise ins Blaue und sonstige Träume. Nun war das Reiseziel vom Veranstalter unangekündigt geändert worden. In Krebsbehandlung. Was aus den anderen Träumen würde, stand in den Sternen. Oder auf Messers Schneide. Wie die stereotypen Assoziationen frisch Diagnostizierter: zerschossen von Strahlenkanonen; kastriert von Hormonbomben. Jetzt war auch ich ein frisch Diagnostizierter.
Heute keine Entscheidungen, funkte mein dröhnendes Hirn, das geht vorbei.
»Jeden anderen hätte ich draußen stehen lassen«, brummte ich, als Alex hereinstürmte, eine Brötchentüte und einen Blumenstrauß auf den Tisch warf und mich heftig umarmte. Ihr Parfum war tröstlich, auch wenn ihre geblähten Nasenflügel mich ahnen ließen, dass ich selbst keinen Wohlgeruch verströmte. Sie wuschelte mir durch die strähnigen Haare. »Petit déjeuner!«
Ihr Ton ließ keinen Widerspruch