Название | Ypsilons Rache |
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Автор произведения | Lou Bihl |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949286032 |
Der Applaus war herzlich. Wieder ein Haken auf der Liste. Auch wenn die Leichtigkeit, die frühere Events so vergnüglich gemacht hatte, nicht wiederkehrte, kam zumindest in Leos Augen wieder ein bisschen Kobalt.
»Als Krebskranker darf man doch sicher ein bisschen zu spät kommen, solange man überhaupt noch kommt?«, fragte ich in der Hoffnung auf Milde, als ich, unpünktlich wie immer, im Restaurant eintraf.
»Imbécile! Du mieser Manipulator!«, murmelte Alex über ihrem Glas Champagner, das schon fast leer war, aber ihr Grummeln klang fast zärtlich. Ihre Vorliebe für französische Flüche war eine Reminiszenz an ihre gescheiterte Ehe mit einem belgischen Kriegskorrespondenten.
Wir küssten uns und ich genoss die Kühle ihrer Hand auf meiner Wange. Alex trug einen schmal geschnittenen, moosgrünen Hosenanzug aus Kaschmirseide, dazu Stiefeletten in passendem Grün mit schwarzen Streifen und Stiletto-Absätzen; sonst bevorzugte sie flache Schuhe oder Sneakers. Der neue Stufenhaarschnitt und ein leichtes Make-up zeichneten ihr Gesicht weicher, der Concealer, den sie mir vor Kurzem einvernehmlich entwendet hatte, kaschierte die Ringe unter ihren Augen.
»Du siehst hinreißend aus, ich finde, wir sollten noch mal Sex haben, bevor ich womöglich impotent werde.«
Alex grinste. »Das wär’s mir wert, schon um dein Gesicht zu sehen, wenn ich ja sage.«
»Begleite mich doch einfach auf meiner Reise, ich werfe mich in mein schärfstes Weiber-Outfit, dann ziehen wir durch alle Transkneipen.«
Obwohl Alex schon über Jahrzehnte meine Transvertraute war, hatte sie mich noch nie bei einem meiner Escapes als Kristina begleitet.
»Wird ja Zeit, dass du mich mal mitnimmst«, sagte sie so leichthin, dass es nicht ernst gemeint klang – aber auch nichts ausschloss. Ihr schalkhaftes Grinsen machte sie Jahrzehnte jünger und erinnerte mich an die Zeit unserer Studentenliebe, als ich ihr erstmals meine Transtendenzen gebeichtet hatte. Sie hatte das spannend gefunden und mich vorbehaltlos darin bestärkt, als Frau zu leben. Die Selbstverständlichkeit ihrer Akzeptanz hatte mich sogar hoffen lassen, sie kenne eine solche Disposition aus der eigenen Biografie, zumal sie auf Kindheitsfotos eher knabenhaft aussah. Auf meine Frage, ob sie sich je gewünscht hätte, ein Junge zu sein, hatte sie lachend den Kopf geschüttelt. Allenfalls hätte sie davon geträumt, erster weiblicher Häuptling eines wilden Indianerstammes zu werden – oder erste Kapitänin der männlichen Fußballnationalmannschaft.
In unserem sechsten Lebensjahrzehnt war ich eigentlich keinen Schritt weiter, noch immer gefangen in meinem sporadischen Doppelleben, von dem ich manchmal nicht mehr wusste, ob es nicht längst zum bloßen Liebäugeln mit einer Option geworden war, die ich gar nicht mehr ernsthaft anstrebte. Aber immerhin eine Option, über die ich selbst entscheiden konnte und die ich keinesfalls missen wollte. Bis kürzlich der Krebs in meinen Entscheidungsspielraum eingebrochen war und ihn einengte wie eine Würgepflanze. Und der damit die Bequemlichkeit zerschmetterte, mit der ich mich in einem nicht wirklich erfüllten, aber auch nicht unglücklichen – und mit regelmäßigen Escapes durchaus erträglichen Leben zurechtgekuschelt hatte.
Wir genossen die Vorspeise, klauten uns gegenseitig Froschschenkel und Entenstopfleber von den Tellern, aber irgendwann ließ sich die Frage des Abends nicht weiter hinauszögern: Ob ich mein Karzinom operieren oder bestrahlen lassen wollte. Ob die Reise anschließend meine Belohnung wäre.
»Wahrscheinlich bestrahlen, aber erst Reise und gleichzeitig antiandrogene Therapie.«
»Das ist aber nicht das, was dir Wolff empfohlen hat?«
»Du hast ja die Leitlinie gelesen, so kann man’s prinzipiell auch machen.«
Der Kellner servierte Blutwurst und Kalbsbäckchen, die mir einen kurzen Aufschub verschafften, bevor das eigentliche Thema zur Sprache kam. Nach einigen Minuten genießerischen Schweigens eröffnete Alex: »So, mein Lieber, Butter bei die Fische: Was deine Bereitschaft zum Coming-out betrifft, hat die Diagnose daran etwas verändert?«
Ich stach meine Gabel in ein Bäckchen. Schwierig. Einerseits: Wann, wenn nicht jetzt, wo es wenig zu verlieren gab? Sollte die Angst vor dem Tod nicht die Angst vor dem Coming-out pulverisieren? Eigentlich ja, allerdings nur im Kopf.
Alex nickte nachdenklich. Ich spülte das Bäckchen herunter. »Meinst du, man muss erst Krebs kriegen, um erwachsen zu werden?«
»Erwachsen ist man, wenn man sich hinter sich hat. Stand neulich in meinem Sprüchekalender.«
»Hinter sich klingt ja tröstlich für einen Krebskranken!«
Alex schüttelte den Kopf. »Sich hinter sich zu haben hat nichts mit Sterben zu tun, denn sterben kann man auch, ohne vorher erwachsen zu werden. Sich hinter sich zu haben könnte zum Beispiel bedeuten, dass es dich nicht mehr interessiert, was andere von dir denken. Oder von Kristina.«
»Recht hast du, wie immer«, sagte ich, »fehlt nur noch dein Rezept für die Umsetzung.«
Wir prosteten uns zu und widmeten uns ein paar Minuten schweigend dem Essen, bevor Alex den Gesprächsfaden wieder aufnahm. »Also, auf dem Rezept könnte stehen: erst mal Test-Outing auf einer Reise, in sicherer Distanz zu allen vertrauten Menschen. Und wann willst du Kristina deiner Familie vorstellen?«
Ich musste an Marens Reaktion beim Klopsdinner denken und an Mort Pfefferman, den Protagonisten in Transparent, der mit siebzig Jahren beschließt, fortan als Maura zu leben, und dessen neurotisch auf sich selbst fixierte Kinder die neue »Mapa« dann überraschend beiläufig akzeptieren. Leider war ich nicht so mutig wie Maura – die hatte allerdings auch keine vaterlos aufwachsende Enkelin, für die der Großvater wichtig war. Ob Micky mit einer Zweitoma klarkäme, oder ob Maren ihr dann den Umgang mit mir verbieten würde?
Alex blieb dran. Ich hätte das Transthema vor mir her geschoben und mich vom beruflichen Stress ablenken lassen. Und nun die Krankheit. Eigentlich sollte es jetzt nur darum gehen, die Heilungschancen optimal auszuschöpfen. Andererseits hätte ich vielleicht nicht mehr beliebig Zeit, wenn ich mein restliches Leben als Frau verbringen wolle, denn man könne den Krankheitsverlauf nicht wirklich einschätzen …
Sie brach ab, wir hielten uns einen Moment stumm an der Hand.
»Du sagst es. Im Moment weiß ich gar nichts. Vielleicht bringt mir der Roadtrip ein paar Klarheiten. Ich werde einfach üben, herauszugehen, die Reise quasi als Trainingscamp nutzen.«
Alex schwenkte den Rotwein. »Dann wird das dein Zarathustra Trip.«
Meinen verständnislosen Blick kommentierte sie mit einem Kopfschütteln. »Banause! Nietzsche! Also sprach Zarathustra: Werde, der du bist.«
Auch wenn ich ihre Philosophiezitate mitunter anstrengend fand, lieferte dieses ein perfektes Reisemotto.
Den üblichen Wettstreit um die Bezahlung umging sie, indem sie die Rechnung beim Rückweg von der Toilette hinterrücks beglich, wofür ich sie anschließend rituell beschimpfte.
Lufthungrig machten wir uns Hand in Hand auf den Weg zum nächsten Taxistand, schweigend in Gedanken versunken. Warum waren wir eigentlich kein Paar geblieben, obwohl wir uns in fast allen Grundsatzfragen einig waren und die wesentlichen Prioritäten für die Lebensgestaltung teilten. Unverändert, seit der Studentenzeit, auch wenn wir damals hatten einsehen müssen, dass unsere Studentenliebe wegen divergierender erotischer Präferenzen nicht zukunftsfähig war. Alex mochte Machos im Bett, Kerle, die sich im sonstigen Leben als komplett beziehungsuntauglich erwiesen, ich bevorzugte eher Frauen mit androgynen Manieren, Rockerbräute, die dem Manne untertan sind, indem sie ihn unterwerfen. Dennoch hatte es im Laufe unseres weiteren Lebens sporadische Episoden gegeben, in denen wir einander Trost im Bett gespendet und uns gefragt hatten, ob sich für zwei Menschen, die sich so gut kannten und einander zugetan waren wie Geschwister, die Freundschaft nicht doch zum ultimativen