Ypsilons Rache. Lou Bihl

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Название Ypsilons Rache
Автор произведения Lou Bihl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949286032



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gelang es dem alten Bourbon mühelos, mein Herz wieder in Takt zu bringen, nicht aber den Kopf. In Dauerschleife drehten sich schwarze Spiralen von Krankheit, Gebrechlichkeit und Alter; doch plötzlich war das Alter kein Schreckgespenst mehr, sondern erschien nun wie ein Geschenk, ein Glücksfall, dessen man sich keinesfalls sicher sein konnte.

      Auch der Schlaf brachte keine Erlösung, verschleppte mich in eisige Traumwüsten, deren horizontlose Weite mich panisch und ziellos herumirren ließ, die Lungenflügel brennend von der dünnen Luft. Erst die Morgendämmerung beendete die trostlose Odyssee. Ich schälte mich aus dem schweißnassen Pyjama und rief Alex an.

      Sie klang empathisch, aber nicht beunruhigt.

      »Typische Panikattacke, das passiert besonders den Coolen. Kommt sicher irgendwann wieder, geht sicher auch wieder vorbei. Tagsüber kannst du deine Ängste in Sarkasmus ertränken, aber nachts bist du wehrlos. Mit Whisky kannst du vielleicht die Panik betäuben, aber nicht die Angst besiegen.«

      »Dann hab ich lieber Panik.«

      Ihr Lachen klang unbekümmert. »Kann ich mir denken, Attacken pariert man, Panik geht vorbei. Aber Angst ist bekanntlich eine Grundbefindlichkeit des Daseins, dagegen ist dein Bourbon machtlos.«

      »In meiner Grundbefindlichkeit vertrage ich keine Heidegger-Zitate, schon gar nicht morgens vor acht! Außerdem haben Pathologen keine Angst vor dem Tod.«

      »Nee klar, Pfarrer gehen auch nicht in den Puff. Und wir gehen zum Franzosen.«

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      Schon als sich die Schwingtür zum Institut hinter mir schloss, konnte ich es riechen: Alle wussten Bescheid. Berger und Martens, beide Assistenzärzte, standen plaudernd am Kopierer; als sie mich sahen, unterbrachen sie ihr Gespräch, rafften hastig die Kopien zusammen und murmelten, »Hallo, Herr Professor«, bevor sie blitzschnell in ihren Zimmern verschwanden.

      »Selbstverständlich werden wir uns sofort darum kümmern«, hörte ich Leo aus dem Vorzimmer. Mit ihrem unbeugsamen Charme hatte Frau Leonhard selbst notorische Nervensägen souverän im Griff. Bei meinem Eintreten legte sie auf.

      »Herr Professor, schön, dass Sie da sind. Ich war bei Aldi, der Schampus steht kalt, die Häppchen kommen in zehn Minuten und auf Ihrem Schreibtisch liegen noch zwei Unterschriftsmappen.«

      Untypischer Wortschwall – und das auch noch, ohne mich anzusehen. Leos Augen waren blau wie Kobalt und meist strahlten sie auch so. Heute nicht. Sie schaute weg, üblicherweise ein Zeichen, dass sie etwas verheimlichte oder, um mich zu schonen, unangenehme Sachverhalte geringfügig modifizierte.

      »Danke, Leo, schicken Sie bitte Henning rein. Über alles andere sprechen wir später.«

      Nun sah sie mich kurz an und wirkte verlegen.»Sehr gerne, aber nur, wenn Sie drüber sprechen wollen. Ich finde es scheiße, wie hier getratscht wird. Sie hätten Krebs, heißt es, und Ihr Sabbatical wäre bloß ein Manöver, um Ihre Stelle zu behalten, und dass Sie vielleicht gar nicht mehr zurückkommen. Keiner spricht offen darüber und ich glaub auch nicht, dass sich jemand traut, Sie direkt zu fragen.«

      Jetzt schimmerten ihre Augen verdächtig.

      »Leo, haben Sie gerade wirklich Scheiße gesagt?«

      Sie nickte. »Da sehen Sie mal, wie durcheinander ich bin.«

      Seine Sekretärin war das einzige Privileg, worum ich meinen Chef beneidete. Ansonsten war ich zufrieden mit meinem Stellvertreterposten, ich genoss Gestaltungsspielraum, hatte wenig mit der Administration zu tun und keine wirtschaftliche Verantwortung. Als ich es seinerzeit nach einigen halbherzigen Versuchen aufgegeben hatte, mich um einen Chefposten zu bewerben, hatte Irmgard das maliziös mit »kein richtiges Alphatier« kommentiert und fand meinen mangelnden Ehrgeiz umso befremdlicher, als sie angeblich ihre eigene Karriere »um der Familie willen« hintangestellt hatte. Auch Alex’ Kommentar war nicht gerade aufbauend gewesen: Alpha- und Ypsilon-Gene lägen nahe beieinander, insofern entspräche es meinen femininen Anteilen, mich mit der zweiten Reihe zu begnügen. Ausgerechnet Alex, die mir eigentlich immer gepredigt hatte, Zuordnungen in die Kategorien weiblich / männlich als konventionsgesteuert zu hinterfragen; Alex, die selbst eine Alpha war, ohne das je als unweiblich zu empfinden.

      »Wir reden nach dem Umtrunk«, wiederholte ich und ging in mein Zimmer.

      Auch Henning wirkte verdruckst. Meinem ehrgeizigsten Doktoranden hatte ich versprochen, vor Antritt des Sabbaticals die nächsten Experimente für seine Promotionsarbeit mit ihm durchzusprechen. Ob er sich in meiner Abwesenheit an Kalkofen wenden könne, wollte er wissen.

      Ich sortierte seine Datenblätter zu einem ordentlichen Stapel und reichte sie ihm über den Tisch. »Machen Sie das, wie Sie es für richtig halten.«

      »Also nur, falls ich allein gar nicht weiterkomme«, stammelte Henning. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, checkte ich Mails, signierte Befunde, unterschrieb zwei Anträge und starrte auf die Korallenfische, die sich auf dem Bildschirmschoner durch ein blaues Riff blubberten. Abschiedsgefühle kamen auf, als ließe ich Unwiederbringliches hinter mir, obwohl es nur eine vorübergehende Abwesenheit war. Nun musste ich mich auch noch mit der Frage herumschlagen, ob ich Wolffs Diagnose offenlegen oder mir das ersparen sollte – wenn es sowieso alle schon wussten.

      Bis auf den Chef, der in Tokio einen Vortrag hielt und beim Feiern sowieso nicht zur Stimmung beitrug, waren um 17 Uhr alle zusammengekommen. Ich begrüßte das Team, bedankte mich fürs Kommen, ließ den ersten Korken knallen und eröffnete das Buffet.

      Erst Häppchen, dann Hiob.

      Unsere feierfreudige Gang – ein Team aus schrulligen Individualisten, die der gruppenidentitätsfördernde Aldi-Champagner zu einer verschworenen Spaßvogeltruppe zusammenwachsen ließ. Alle, außer Kalkofen, dem wissenschaftlichem Windhund mit dem Sozialverhalten eines Pitbulls. Heute waren die Stimmen gedämpft, Lachen verebbte im Ansatz, die Anzüglichkeiten blieben aus. Ein Stimmungspegel wie beim Leichenschmaus, bevor Alkohol die Trauer in schrille Albernheit umschlagen lässt.

      Ich wollte gerade mit dem Messer an mein Glas klopfen, als Frau Schröder, die dienstälteste Assistentin, im Nebenraum verschwand und mit einem Paket wiederkam. Aber noch bevor sie mit Räuspern fertig war und zum Sprechen ansetzen konnte, fiel Kalkofen ihr ins Wort: Lassen Sie mich mal«, und nahm das Geschenk an sich.

      Kalkofen hatte mir schon einige Kongresstrips verdorben. Wenn er mitreiste, traute Kristina sich nicht heraus. Als dritter Mann in der Hierarchie war er schon lange scharf auf meine Position, vermutlich spekulierte er seit meiner Diagnose auf die Nachfolge.

      »Lieber Kollege Starck«, begann er, distanzlos wie immer.

      »Wir sind ja alle wahnsinnig froh, dass dies kein echtes Abschiedsgeschenk ist, und wir Sie hoffentlich schon bald, wohlbehalten wiedersehen«, flötete er mit kunsthonigklebriger Scheinheiligkeit.

      »Wir wissen nicht, wohin Ihre Reise jetzt geht, aber wir wissen, dass Sie in Ihrer Jugend eine Vorliebe für Afrika hatten. Deshalb habe ich Ihnen dies hier im Namen des Teams besorgt.«

      Unter dem Geschenkpapier mit den roten Herzen kam ein knallroter Rettungsrucksack hervor, ausgestattet mit allem, was zur professionellen Ersten Hilfe nötig ist. Während ich noch mit dem Geschenkpapier beschäftigt war, konnte ich Berger hinter mir flüstern hören: »Hat der Geizkragen bestimmt auf eBay ersteigert.«

      Ich bedankte mich bei Herrn Privatdozent Doktor Kalkofen für die Reminiszenz an meine vergangene Jugend und betonte, wie schmeichelhaft ich es fand, dass man mir als Pathologen die Notfallversorgung noch zutraute.

      Dann sah ich Kalkofen direkt an und prostete ihm zu. »Sie haben freundlicherweise Ihre Hoffnung bekundet, mich nach meinem Sabbatical wiederzusehen. Da werde ich Sie nicht enttäuschen.«

      Kalkofens Blick flackerte, ich stellte mein Glas ab. »Gerüchte sind wie Ambrosia, sie wuchern wild und richten Unheil an. Deshalb fürs Protokoll: Zu Beginn meines Sabbaticals habe ich einen Routine-Gesundheitscheck absolviert, als Zufallsbefund wurde ein Prostatakarzinom des Stadiums T2NO