Название | Der Adjutant |
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Автор произведения | Jørgen Norheim |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449318 |
»Setz dich«, sage ich, »du musst dich ein wenig ausruhen, bevor wir zum Aussichtspunkt gehen. Helga hat mir gesagt, dass du Kreuzfahrtschiffe von oben betrachten willst.«
»Ja, warum nicht, wenn ich einmal hier oben bin?«
Nach dem Kaffee machen wir uns für den halbstündigen Weg zum Aussichtspunkt fertig.
»Schaffst du es noch? Nicht schlecht für einen Mann in deinem Alter.«
»Es geht nicht ganz so schnell wie früher, aber mit 95 darf man sich nicht beklagen.«
Der Obstgärtner bewegt sich leicht und sportlich. Er ist ungefähr einen Meter siebzig groß, geht auf die Vierzig zu und hat eine Halbglatze. Das macht sein Alter schwer bestimmbar, jugendliche und reife Züge vereinen sich in ein und demselben Mann. Wenn er gesund bleibt, sehe ich ihn mit siebzig noch genauso vor mir.
Wir sind angekommen. Volle Aussicht über den Hauptarm und zwei Seitenarme des Sognefjord.
»Was fasziniert dich so an Kreuzfahrtschiffen?«, frage ich. »Es sind doch bloß schwimmende Hotels für übersättigte Amerikaner und Westeuropäer, die ein bisschen Zeit totschlagen wollen, während sie auf den Tod warten.«
»So kann man es auch sehen.«
Er greift sich an den Kopf. »Dieser Kopf ist – wenn ich das so sagen darf – überdurchschnittlich gut ausgerüstet.« Dann hebt er die Hände und schaut sie an. »Und diese Hände stecken auf einem Obsthof in Sogn og Fjordane in der Erde fest. Was meinst du, wie oft ich mich schon fortgesehnt habe? Mein Leben ist reich genug, das kann ich nicht anders sagen. Ich habe eine wunderbare Tochter, versorge uns ausreichend und mache dabei noch anderen eine Freude, die keinen Obstgarten haben – aber wenn ich nur ein einziges Mal ein anderes Leben erfahren dürfte! Durch europäische Städte wandern. Rom, London, Paris ... Mit den Kreuzfahrtschiffen träume ich mich davon. Wenn ich die Passagiere durchs Fernglas betrachte, phantasiere ich: Der da ist emeritierter Archäologie-Professor in Mailand, der andere Kunstsammler in Paris, mit einem Laden direkt gegenüber von Notre Dame. Die mit den Halsketten hat sich in New York reich geheiratet, und die sportlich gekleidete Dame mit den Büchern unterm Arm ist Verlegerin in München und gibt dort wichtige Bücher heraus. Dann stelle ich mir vor, wie sie es zu Hause haben, was sie zum Frühstück essen und was sie in ihrer Freizeit tun. So leicht bin ich zu erfreuen! Ich reise in der Phantasie und überschreite geographische und soziale Grenzen.«
»Mein guter Gärtner, ich dachte du seist Sozialist? Da schickt es sich aber nicht, die Reichen zu bewundern.«
»Wer sagt denn, dass Sozialisten das Schöne und Gute nicht schätzen? Archäologie, Kunst, Schmuck und Bücher brauchen doch alle, egal in welchem Gesellschaftssystem?«
»Ich meinte den Luxus an Bord.«
»Sei nicht so streng. Die Passagiere da unten sind auch nur einfache, kleine Menschen, vielleicht brauchen sie ein bisschen Luxus. Vielleicht hat die deutsche Verlagsfrau letztes Jahr auf ihren Urlaub verzichtet, um sich die Kreuzfahrt leisten zu können?«
Es fasziniert und ärgert mich gleichzeitig, wie souverän er sich in Haltungen und Lebensweisen hineinversetzt, die er selbst nicht vertritt. Seine Harmonisierung von Gegensätzen provoziert mich.
»Ja, aber was treibt Menschen in ihren besten Arbeitsjahren zu einer mehrwöchigen Seereise? Reicht ihnen die Arbeit nicht aus, um dem Leben einen Sinn zu geben?«
»Je nach Geldbeutel dürfen die Leute mit ihrer Freizeit tun, was sie wollen. Was hast du früher in den Ferien gemacht?«
»Ich hatte nie Ferien! Ferien waren ein Fremdwort für alle, die dem Deutschen Reich dienten. Ferien sind etwas für Arbeiter und andere, die nur fort von ihrer Arbeit wollen! Und gereist bin ich im Staatsdienst so viel, dass ich nur meine Ruhe will. Hier oben in Hylla hole ich alle Ferien nach, die ich nicht hatte.«
»Hört sich an, als hättest du einem strengen Herren gedient.«
Dass muss man ihm lassen, dem Obstgärtner, er hält höflichen Abstand. Anstatt mit der Tür ins Haus zu fallen, schweigt er und hebt das Fernglas vor die Augen. Er stützt es auf einen Ast, damit ich es ruhig halten kann, und überlässt es mir. Mein Blick fängt die gesamte Traumgalerie des Obstgärtners ein: den Professor, den Kunstsammler, die reich verheiratete Frau und die fleißige Verlegerin. Bald wurden die Menschen an Bord zu kleinen Punkten. Auf einem der Fjordarme näherte sich ein neues Kreuzfahrtschiff, diesmal ein britisches.
Wie setzen uns auf zwei Steine und schauen über den Fjord.
»Du hast den Luxus an Bord erwähnt. Ihr Deutschen habt als Erste aus teuren Kreuzfahrten Ferien fürs Volk gemacht – allerdings mit fragwürdigem Beigeschmack. Ich meine die ›Kraft durch Freude‹-Reisen der Nazis, als Hitlers treue Wähler hier in den Fjorden auf Deck tanzten.«
»Ja, diese Geschichte finde ich nur peinlich. Das war nicht mein Staat, der diese Reisen organisiert hat, es waren Reisen vom Pöbel für den Pöbel. Während sie hier auf Deck tanzten, verrotteten Juden und Kommunisten, bürgerliche und adlige Oppositionelle in den Konzentrationslagern.«
»Lass mich eine Geschichte von meinem Vater erzählen. Er liebte es genauso, die Schiffe von hier oben zu betrachten, wahrscheinlich habe ich es von ihm. Eines Tages, im Spätsommer 1939, kam er ganz aufgeregt von Hylla zurück. Sonst war er immer gut gelaunt, wenn er von dort kam, und erzählte uns Geschichten über die Leute und Schiffe, die er durchs Fernglas gesehen hatte. Diesmal hatte er ein KdF-Schiff im Visier gehabt. Es war die ›Wilhelm Gustloff‹, das Juwel der Kreuzfahrtflotte. Sie glitt langsam in den Fjord, die Passagiere standen mit Ferngläsern und Fotoapparaten an Deck, ein paar Paare tanzten. Der Wind stand so günstig, dass er Gelächter und Musik hören konnte. Plötzlich ging der Alarm los. ›Achtung! Achtung!‹ Die Musik hörte auf, alle liefen ratlos umher. Das Schiff drehte landeinwärts nach Steuerbord ab und begann einen Wendebogen. Als es die Fahrrinne wieder erreicht hatte, blieb es eine Weile liegen, als müsse es nachdenken, dann wurden die Maschinen auf volle Fahrt gestellt und es fuhr dorthin zurück, wo es hergekommen war. Sie waren umgekehrt! Mein Vater war gut informiert, wir hatten Zeitungen und Radio, er wusste von der Entwicklung in Deutschland und der polnischen Krise. Aber er war auch ein Mystiker, fast als hätte er prophetische Fähigkeiten. ›Jetzt gibt es Krieg‹, sagte er. Ich erinnere mich genau an seine Worte: ›Wenn Kreuzfahrtschiffe der Großmächte umkehren, ist Gefahr im Verzug.‹ Die Leute im Fährort respektierten ihn als Obstbauern, aber nicht als Propheten. ›Krieg?‹, sagten sie und lachten. ›Im letzten Augenblick wird es Verhandlungen geben, genau wie bei der Tschechoslowakei, und dann können wir normal weiterleben. Die Gustloff hat bestimmt nur einen Motorschaden und muss runter nach Haugesund zur Reparatur, dann kommt sie wieder.‹ Aber mein Vater behielt recht. Sechs Tage später brach der Krieg aus.«
Manchmal ist er seltsam, der Obstgärtner. Mitten im Gespräch hört er auf, packt das Fernglas ein und sagt: »Ja, jetzt muss ich nach Hause.«
Doch jetzt bin ich es, der ihn nicht loslassen will. Die schlafenden Hunde sind geweckt: Wenn Kreuzfahrtschiffe der Großmächte umkehren, ist Gefahr im Verzug. Wenn er wüsste, wie recht er hat. Ich habe es ja selbst erlebt, 1914! Jetzt, wo ich die Hunde nicht mehr beruhigen kann, kann ich genauso gut reden und ihn in einen Teil meines Lebens einweihen.
»Ja, aber es ist noch lange hell«, sage ich. »Wenn wir wieder in Hylla sind, musst du dich kurz ausruhen. Ich habe noch eine Flasche Obstwein vom letzten Jahr.«
Wir gehen den steilen Pfad hinab. Ich stütze mich auf den Stock, mein Hauswirt springt geschmeidig wie ein Luchs. Auf halbem Weg verschnaufen wir auf einem der flachen Felsen, die man hier »Sitzsteine« nennt.
»Sag, mein Vater hat einmal erwähnt, dass du selbst als eine Art Kreuzfahrttourist hierher kamst ...?«
Er weiß also mehr, als er zugibt. Aber es gibt keinen Grund, es zu verheimlichen, ich habe nichts getan.
»Das kann man wohl sagen. Aber es war nicht ganz dasselbe. Sagt dir der Name ›Hohenzollern‹ etwas?«
»Das Geschlecht der deutschen Kaiserfamilie – und