Der Adjutant. Jørgen Norheim

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Название Der Adjutant
Автор произведения Jørgen Norheim
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449318



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      Jørgen Norheim

      Der Adjutant

      Roman

      Aus dem Norwegischen von

      Frank Zuber

      Saga

      Warum denke ich immer an den Tod, wenn ich Kreuzfahrtschiffe in den Fjord gleiten sehe?

      Vielleicht ist es ein inneres Echo: dein Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit. Ich kam auf einem Kreuzfahrtschiff, aber werde ich auch auf einem fortgehen?

      Heute kommt ein norwegisches. Alle wollen die Berge und Wasserfälle sehen. Die Felswände, die sich mehrere hundert Meter senkrecht aus dem Fjord erheben. Wie Brautschleier wirbelt das Wasser über sie hinab. Touristen stehen auf dem Panoramadeck und verrenken sich die Hälse, um ein Stück Himmel am Horizont zu sehen. Dann gehen sie zurück ans Büfett, zu Kaffee und Kuchen oder einem Drink. Beschauliche, selbstzufriedene Leben. Angepasste Leben. Reizüberflutete, lebensüberdrüssige Amerikaner, Japaner und Westeuropäer. Todesreise in der ersten Klasse.

      Auch die Fahrt auf der »Hohenzollern« begann heiter und beschwingt. Wir waren unterwegs nach Norwegen! Wir würden die Mitternachtssonne sehen, ein nordisches Märchen erleben! Doch es sollte eine Todesreise werden. Im Sommer 1914 kam die Order zur Umkehr. Der Kaiser musste nach Berlin. Der Krieg drohte. Am 1. August 1914 fiel der Vorhang, und Europas lange Nacht begann.

      Tief unter mir liegt der Fjord. Still wie an jenem Tag vor fast 80 Jahren, als mich die Natur Westnorwegens zum ersten Mal fesselte. Es war eine Offenbarung, eine plötzliche Einsicht, als würde die Landschaft mich aufsaugen. Ich stand an Bord der »Hohenzollern« und dachte: »Hier willst du dein Zelt aufschlagen.«

      Jetzt habe ich meinen Jugendtraum erfüllt. Aber dazwischen ist vieles geschehen!

      15. Mai 1957

      Als ich ins Leben zurückgerufen wurde

      Das Bellen eines Hundes weckte mich aus dem Mittagsschlaf, begleitet von fröhlichem Kinderlachen. Ich zog mich an und ging hinaus. Neben dem Vorratshaus kam ein riesiger Bernhardiner zum Vorschein, und hinter ihm ein kleines, etwa vier Jahre altes Mädchen. Es hatte rote Wangen von der anstrengenden Tour, kurze, blonde Haare und trug ein kariertes Hemd und eine Strickjacke, die beide schief zugeknöpft waren. Seine grobe, graue Wollhose verschwand in einem Paar Gummistiefeln. Es sah aus, als wäre es in einen Regenschauer geraten. Haare, Schultern und Knie waren nass, obwohl keine einzige Wolke am Himmel hing.

      »Heute Abend gibt es Fisch«, sagte es zur Begrüßung und schaute sich neugierig um. »Nygaardsvold wollte unbedingt eine Bergtour machen, da musste ich mitkommen.«

      Ich atmete auf. Das Mädchen war also nicht allein.

      »Bist du Herrn Nigordswold davongelaufen?«, fragte ich freundlich mit meinem knattrigen deutschen Akzent. »Hoffentlich kommt er bald. Kleine Mädchen sollten nämlich nicht allein in den Bergen herumklettern.«

      »Ich bin gar nicht allein. Nygaardsvold ist doch bei mir«, sagte es.

      »Ach so«, sagte ich und erwartete, dass jeden Moment ein erwachsener Mann um die Ecke kommen würde. Auch nach so vielen Jahren war ich sprachlich noch unsicher. Mein Alltag gab mir wenig Gelegenheit zum Üben. Ich hatte das beklemmende Gefühl, dass ich nicht alles verstanden hatte.

      »Heute Abend gibt es Fisch«, sagte es wieder.

      »Dann wirst du gesund wie ein Fisch im Wasser«, sagte ich und freute mich, ein Sprichwort in dieser fremden Sprache zu kennen. »Schön, dass Herr Nigordswold gesundes Essen für dich macht«, fügte ich aus Verlegenheit hinzu und hoffte, der Erwachsene würde gleich kommen.

      »Aber Nygaardsvold kann kein Essen machen!«, sagte es und kicherte. »Hunde können doch nicht kochen!« Das Mädchen lachte laut.

      Herr Nygaardsvold war also der Hund. Seltsame Hundenamen gab es hier oben.

      »Dann bist du allein?«, fragte ich vorsichtig und dachte an den gefährlichen Weg. Ungefähr zehn Kilometer lang ist der Steig, der sich nur mit gutem Willen als Saumpfad bezeichnen lässt, und der Höhenunterschied beträgt 800 Meter. An einer Stelle durchquert er auf einem schmalen Absatz eine senkrechte Wand, nur mit einem Drahtseil gesichert. Darunter hundert Meter freier Fall. An einer anderen Stelle sind Stufen in den Fels geschraubt. Es war erst Mitte Mai, und der gesamte Berghang war aufgrund der Schneeschmelze wie ein einziger Wasserfall. Einmal geht der Pfad unter einem Wasserfall hindurch. Man läuft wie durch einen Tunnel, dessen eine Seite aus Fels und die andere aus Wasser besteht. Und diesen Weg war das vierjährige Mädchen allein gegangen!

      »Aber wo ist denn dein Vater oder deine Mutter?«, fragte ich ungläubig.

      »Meine Mutter ist tot, das weißt du doch. Und mein Vater sitzt in der Stube und liest Zeitung.«

      Da ging mir auf, wer das Mädchen war. Es war die Tochter des Obstgärtners, von dem ich diesen Ort pachtete. Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, im Herbst, hatte sie auf den Schultern ihres Vaters gesessen.

      »Weiß dein Vater, dass du hier bist?«, fragte ich vorsichtig.

      »Ich konnte es ihm nicht sagen, sonst hätte ich den Bären geweckt. Das sagt mein Vater immer, wenn er Zeitung lesen will. ›Jetzt musst du still sein, damit du den Bären nicht weckst‹, sagt er. Darum hab ich mich leise nach draußen geschlichen.«

      Ich musste sie hineinbitten. Den Hund band ich an einen Zaunpfahl und gab ihm eine Schale Wasser und ein paar Essensreste. Ich war bissige Schäferhunde gewohnt, der Bernhardiner war wie ein Lamm dagegen. Meine einzige Erfahrung mit Kindern hatte ich vor langer Zeit mit meinen Neffen und Nichten in Königsberg gemacht. Siebzig Jahre war dies her! Wie redet man mit einem Kind? Wie kümmert man sich um es? Ich war es gewohnt, allein zurechtzukommen, und erwartete dies auch von anderen. Und nun stand plötzlich ein kleines Kind vor mir, für das ich Verantwortung übernehmen musste. Aber hilflos war ich noch nie gewesen. Ich schürte das Feuer im Ofen und trocknete die Kleider der Kleinen. Sie musste solange eines meiner kratzigen Wollunterhemden anziehen. Ich wickelte sie in eine warme Decke und setzte sie in den Lehnstuhl. Dann kochte ich süßen Tee und gab ihr Brot und Honig. Sie schlief auf der Stelle ein, so dass ich in Ruhe überlegen konnte, was ich mit dem ungebetenen Gast tun sollte.

      Sie war den Sommerweg vom Dorf hinaufgekommen. Im Winter benutze ich immer die viel längere, aber sichere Route über den Berg ins östliche Nachbardorf. Die Schitour dauert mehrere Stunden, ich muss jedes Mal eine Übernachtung am Fährort einrechnen. Weil dies so umständlich ist, gehe ich meist nicht öfter als zweimal pro Winter. Nur, wenn ich wichtige Lebensmittel wie Konserven, Mehl, Salz, Zucker, Kaffee oder Tabak brauche. Die schweren Waren schaffe ich auf dem Transportschlitten nach Hause. Bei guten Verhältnissen ist dies für einen erwachsenen, gesunden Mann eine Tagestour. Jetzt im Mai ist der Schnee so weich, dass man nicht vorankommt. Gleichzeitig aber ist der Sommerweg wegen der Schneeschmelze kaum begehbar, weshalb ich von April bis Mai in der Regel vollkommen isoliert bin. Aber die Kleine hatte den Weg allein geschafft!

      Eins war klar: Ihr Vater suchte bestimmt schon nach ihr. Bald würde er den Lensmann anrufen. Spätestens am Abend würden sie eine Suchaktion mit Nachbarn und Freiwilligen einleiten. Der Vater sollte unbedingt wissen, dass seine Tochter in Sicherheit war. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder ich würde das Mädchen auf dem Weg zurückbringen, der eigentlich erst in zwei Wochen begehbar war, oder ich würde den Hund mit einer Nachricht heimschicken.

      Während ich noch überlegte, suchte ich schon in Schränken, auf dem Dachboden und im Schuppen nach der passenden Ausrüstung für die gefährliche Tour. Der Offizier in mir war durchgekommen und hatte unbewusst eine Entscheidung getroffen. Ein Kribbeln durchfuhr mich, wie früher vorm Ausrücken oder bei Manövern. Endlich geschah etwas! Eine Herausforderung, die mich physisch und logistisch auf die Probe stellte. Aber auch wenn ich bewusst nachdachte, kam ich zum selben Schluss. Wenn der Hund allein zurückkäme, könnte leicht das Gerücht entstehen, der alte Offizier dort oben habe das Mädchen entführt. Hier wollte ich klare Fronten schaffen.

      Nach einer Stunde weckte ich sie, und wir begaben uns auf den Weg ins Dorf. Zuerst der Hund, dann das Mädchen, dann ich. Ich hatte