Название | Der Adjutant |
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Автор произведения | Jørgen Norheim |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449318 |
Königsberg, Freitag 15. Juni 1888
Unser Hoffnungskaiser ist tot! Nur neunundneunzig Tage.
Klare Meinungen. Und doch ich, wenn auch roh und unveredelt. Das Tagebuch eines jungen Prinzen. Schon damals war mir bewusst, dass ich auserwählt war. Ich sprach von »uns« und »ihnen«. »Wir«, das war unser Geschlecht, zum Herrschen vorbestimmt. »Sie«, das war das diffuse »Volk«, das eine starke Hand brauchte. Aber »wir« waren ein fürsorgliches »Wir«. Adel verpflichtet! Verantwortung, Respekt, Ehre. Verantwortung vor Gott, der Tradition und naturgegebenen Prinzipien. Respekt für diejenigen, über die wir herrschten. Auch ihr einfaches Leben war unantastbar! Ehrfurcht gegenüber meinen Vorgängern: Ahnen, Geschlecht und Familie. Und damit auch Ehrfurcht, Respekt und Verantwortung für das christliche Europa.
Aber erst an Bord der »Hohenzollern« begann ich systematisch Tagebuch zu führen. Was ich dort erlebte, musste ich einfach niederschreiben. Vielleicht wurde mir langsam klar, dass es eines Tages nicht mehr selbstverständlich sein würde. Ich schien zu ahnen, dass es nicht so bleiben konnte. Vielleicht motivierte mich auch mein innerer Zwiespalt zum Schreiben, denn ein Teil von mir sagte, dass es nicht so bleiben sollte. Doch nicht einmal der exaltierteste Dichter hätte den Untergang so abgrundtief brutal zeichnen können, wie er werden sollte. Dantes Inferno war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was uns bevorstand.
Meine Tagebücher! Heute geschieht so wenig, dass ein Tag kaum eine Zeile füllt. Mehr scheine ich nicht zu ertragen. Ich sollte ja schon längst tot sein! Geboren 1871, und jetzt schreiben wir 1967. Alle meine Altersgenossen sind tot, ich verstehe nichts von dem, was die jungen Leute heute tun. Stattdessen sitze ich hier und erinnere mich an die Vergangenheit. Ich muss mir eingestehen: Es gibt nichts mehr aufzuschreiben. Was nicht gedacht und geschrieben ist, soll ungedacht und ungeschrieben bleiben. Die Zeit, die mir bleibt, werde ich mit Lesen verbringen. Ich muss überprüfen, ob die Tagebücher den Blick desjenigen ertragen, der hier einmal aufräumen wird.
Aber ganz kann ich es nicht sein lassen, denn an dem Tag, an dem ich zu schreiben aufhöre, ist es vorbei. Und wenn es nur eine Zeile pro Tag ist. Es gibt ja immer noch das Wetter. Darüber könnte ich viel schreiben, denn nirgends ist es so wechselhaft wie hier am Sognefjord. Und die Aussicht! Manchmal habe ich einen klaren Blick bis nach draußen, wo die Fjordarme sich vereinen. Am Tag darauf schaue ich über ein Nebelmeer wie eine schneeweiße Hochebene. Auch damit könnte ich viele Seiten füllen. Wetter, Aussicht und die ewigen Berge haben manches Dichterleben hier im Norden erfüllt. Außerdem könnte ich berichten, ob ich gut oder schlecht geschlafen habe. In meinem Alter ist jede durchgeschlafene Nacht ein Segen. Und die Vögel! Jahresvögel und Zugvögel. Wie oft habe ich mich mit ihnen fortgeträumt. In weiten Kreisen über unserer Winzigkeit zu schweben. Aber die Tagebücher sind mehr. Sie sind mein Versuch einer Erklärung. Und wo es keine Erklärung gibt, helfen sie mir verstehen. Und wo es unmöglich ist, zu verstehen, sage ich nur: Vergib uns unsere Schuld.
Hylla
und das Glück, ein Dach über dem Kopf zu haben
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
Welch ein Glück, auf dem alten Berghof zu wohnen! Die vordere Giebelseite des Wohnhauses steht auf einer zwei Mann hohen Mauer. Am Boden mehrere hundert Kilo schwere Felsbrocken, aber auch in Kopfhöhe Steine, für die man mindestens vier Mann benötigt, um sie an Ort und Stelle zu hieven. Vor der Mauer ein zwei Meter breiter Absatz, auf dem sich der Pfad ins Tal vorbeischlängelt. Die hintere Giebelseite steht auf festem Boden – welch ein Höhenunterschied! Wie ein Adlerhorst, hätten meine Landsleute gesagt, romantisch wie sie sind. Das Wohnhaus ist so weit wie möglich nach vorne gezogen, um den Platz auf dem kleinen Gesims auszunutzen. Von dem Vorsprung hat der Hof seinen Namen, Hylla. Stall, Scheune, Küchenhaus, Schmiede und Altenteil liegen ein Stück weiter oben. Sechs kleine Häuser auf einen Haufen. Zwischen ihnen verlaufen schmale Pfade, und in der Mitte ist ein kleiner Hofplatz. Dort stehen ein Steintisch und eine Bank aus einem gespaltenen Baumstamm. Als Rückenlehne dient die Scheunenwand. Auf der Talseite mündet der Abhang in einen kleinen ebenen Absatz. »Garten« nenne ich den schmalen Streifen, die sonnigste Stelle auf dem Hof. Am Hang wachsen rote und schwarze Johannisbeeren, und auf dem kleinen Plateau steht ein Birnbaum, der jedes Jahr Früchte trägt. Es gibt nichts Schöneres als seine Blüten! Als ich hierher zog, stand auch ein Apfelbaum dort, aber eines Tages hat ihn der Blitz getroffen. Ich hätte einen neuen pflanzen sollen, aber das fügt sich in die lange Reihe ungetaner Dinge ein. Die Außengebäude sind aus groben Stämmen gezimmert, die auf wunderliche Weise hier hinaufgebracht wurden. Das Wohnhaus ist mit horizontalen Brettern verkleidet, typisch für Westnorwegen mit seinem feuchten Klima. Wenn die Feuchtigkeit vom Fundament hochzieht, muss man nur die unteren Bretter und nicht gleich die ganze Wand austauschen. Die Dächer sind mit Torf und Rinde gedeckt, bis auf das Küchenhaus. Dort habe ich mich der Modernität gebeugt und das Dach mit Wellblech ausgebessert.
Ein typisch westnorwegischer Hof also, mit vielen kleinen Gebäuden um einen Hofplatz. So muss man sich die Höfe im Mittelalter vorstellen. Meiner war ein guter Hof. Die Steuerschätzung von 1667 verzeichnet 14 Kühe und ein Pferd. 1869 gehörten 1,15 Hektar Ackerfläche zum Hof, und es wurden Getreide und Kartoffeln angebaut. Die Heuernte betrug 1050 våg von den Hofwiesen und 700 von den Bergwiesen, das entspricht 18 und 12 Tonnen. Wahrscheinlich war der Hof schon vor der Pest erbaut worden, aber der Schwarze Tod verwüstete ihn im Spätmittelalter. Ungefähr 1600 wurde er wieder bewirtschaftet, bis er 1922 verlassen wurde – um mit leeren Häusern auf mich zu warten.
Warum ließen sich die Menschen hier oben in den Felsen nieder? Sonne und Regen. Sie siedelten dort, wo die Erde am besten war, und hier, auf den ebenen Absätzen, beschirmt von hohen Bergen, wächst es wie am Mittelmeer. Mildes, feuchtes Küstenklima, reichlich Regen, lange Sonnentage im Sommer und milde Winter. Und das wichtigste: Hylla ist der lawinensicherste Ort im Bezirk Sogn og Fjordane. Lawinen kosten in diesem kargen Bergland viele Menschenleben, und um mich herum sind Stein- und Schneelawinen so gewiss wie die Jahreszeiten. Aber hier! Wie von einer unsichtbaren Hand werden alle Lawinen an Hylla vorbeigeleitet. Während der Schneeschmelze rumpelt und dröhnt es in allen Wänden, aber ich sitze ruhig über meinen Kladden und kann sicher sein, dass ich auch diesmal davonkomme. Im Herbst, wenn die Sturmböen von den Bergen herab heulen, gehe ich ans Fenster, schaue in die aufgewühlte Luft und denke: Wie gut, dass ich ein Dach über dem Kopf habe!
Manche Dinge sehe ich klarer, seit ich hier oben wohne. Der hiesige Dialekt kann gnadenlos sein. Hier und da schnappe ich neue Wörter auf, zum Beispiel bygdetulling. Wir würden es wohl mit »Dorftrottel« übersetzen. Wer so genannt wird, ist nicht unbedingt im klinischen Verstand verrückt, es reicht, anders zu sein. In der Regel sind solche Originale harmlos, sie dienen uns »Normalen« als Witzfiguren. Aber was geschieht, wenn die Worte einer solchen Figur Gesetz werden? Jetzt, mit Abstand, sehe ich, dass genau dies in meinem geliebten Deutschland geschehen war, als Wilhelm 11. den Thron bestieg. Der Mann, dem ich in meine besten Jahre geopfert habe.
Die Sünden der Söhne
die uns Alten keinen Frieden lassen
Am Vormittag habe ich einen Spaziergang zum Wasserfall gemacht. Habe schlecht geschlafen und bin spät aufgestanden, weshalb ich den Tag langsam angehe. Es ist einer dieser klaren Frühlingstage – und warm! Man kann den Schlipsknoten lockern und die Jacke über den Arm hängen, wie an einem Sommertag. Ich laufe wie ein Gutsbesitzer umher und sehe nach, ob alles den Winter gut überstanden hat. Eigentlich sollte ich mich freuen, es ist Frühling und ich habe ein Haus zum Wohnen. Die helle, grüne Jahreszeit bedeutet Besuch von Menschen, die es gut mit mir meinen. Warum dann diese Unruhe? Ist es die Gewissheit, dass der Obstgärtner bald auftauchen wird, der den schlafenden Hunden keine Ruhe lässt?
Aber Zweifel und Unruhe sollen mir nicht die Freude am Frühling verderben. Ich