Название | Der Adjutant |
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Автор произведения | Jørgen Norheim |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449318 |
Es war einer dieser herrlichen Frühlingsabende, wie man sie nur im Norden findet. Es wird nicht dunkel! Um Mitternacht herum gehen Abend- und Morgendämmerung ineinander über. Ein Märchen: Vogelgezwitscher, rauschende Bäche und ein milder Wind in den Birken. Auf der Schattenseite mussten wir mehrere Schneefelder überqueren. Je tiefer wir kamen, desto kleiner und seltener wurden sie. Noch weiter unten waren die Birken schon grün.
Wir hatten die in den Fels geschraubten Stufen und den schmalen Absatz hinter uns. Von hier an war der Weg ein ordentlicher Saumpfad, und wir konnten nebeneinander gehen. Als wir zwei Drittel des Weges geschafft hatten, kamen uns der Vater des Mädchens und der Lensmann entgegen. Der Vater rannte auf uns zu, nahm seine Tochter in die Arme und drückte sie an sich.
»Wie konntest du nur ...?«
»Nygaardsvold wollte unbedingt eine Bergtour machen, und ich konnte ihn nicht allein gehen lassen. Er ist doch nur ein Hund.«
»Du erzählst Geschichten«, brummte der Vater und lachte.
»Er hat roten Saft und Honigbrote im Rucksack«, sagte das Mädchen und zeigte auf mich.
Wir setzten uns. Der Lensmann und der Vater lobten mich. Ich hätte das einzig Richtige getan, sagten sie. Ich rang nach Worten, nicht nur, weil ich unsicher im Norwegischen war, sondern auch, weil ich mich nach einem halben Jahr Schweigen wieder ans Reden gewöhnen musste. Wir aßen und plauderten über die Schneeschmelze, die Obstblüte am Fjord und alles, worüber man zu dieser Jahreszeit hier spricht.
Nach einer kurzen Pause stand der Lensmann auf, sah mich an und sagte:
»Sag, wäre es nicht leichter für einen Mann in deinem Alter, den Winter über im Dorf zu wohnen? Elektrisches Licht, Heizung, Post und Läden in Gehweite ... Ich kenne eine Witwe, die eine Etage vermieten will.«
»Ja, dann könntest du jeden Sommer auf die Alm ziehen, wie eine Sennerin«, fügte der Obstgärtner hinzu. »Die Häuser in Hylla werden immer auf dich warten.«
»Meine Herren«, sagte ich, »es ist vielleicht schwer zu verstehen für Sie, aber mir ist es noch nie so gut gegangen wie dort oben in Hylla. Zum ersten Mal im Leben kann ich tun und lassen, was ich will. Im Sommer treffe ich genug Menschen.«
»Ganz wie du willst«, sagte der Lensmann, »es war nur ein Angebot. Aber solltest du es dir anders überlegen, finden wir bestimmt ein Winterquartier im Dorf für dich.«
»Tja«, sagte der Obstgärtner, mehr zum Lensmann als zu mir. »Ein alter Offizier hat vielleicht seine Gründe, warum er lieber einsam ist.«
Dann plauderten wir weiter über das Wetter und die Gesundheit. Wie glücklich konnten wir uns schätzen, nicht gebrechlich zu sein! Es war schon spät am Abend, und die beiden wollten aufbrechen. Ich war hin- und hergerissen: Einerseits wollte ich mich in mein sicheres Heim zurückziehen und niemandem zur Last fallen, andererseits sehnte ich mich nach Gesellschaft, nach lebendigen Menschen, warmen, freundlichen Stimmen, Lächeln, Humor. Ich verstand, dass sie gehen mussten, aber ein wenig wollte ich den Abschied noch hinauszögern.
»Entschuldigen Sie die Frage, aber der Name des Hundes ... War das nicht Ihr Staatsminister vor dem Krieg? Es scheint mir ein außergewöhnlicher Hundename zu sein.«
Sie lachten.
»Ja, das stimmt. Wenn du mich fragst, war er – also der Mann – der beste Regierungschef, den wir je hatten. Wir nannten ihn nur ›den Alten‹. Er war zuverlässig wie ein Bernhardiner. Ein Staatsminister der Bauern und kleinen Leute. ›Stadt und Land, Hand in Hand‹ war sein Slogan. Er hat das Land 1935 durch die ungleiche Koalition zwischen Sozialdemokraten und Konservativen aus der Krise geführt. Nach dem Krieg kamen die Kommissare und Parteisekretäre, die Kraftsozialisten, die nur eine Wahrheit kennen. Haakon Lie und seine Männer, die alles gleichmachen und uns an die Amerikaner verkaufen.«
»Lieber Freund«, unterbrach ihn der Lensmann, »den Vortrag kannst du ein anderes Mal halten. Du hast den Hund nicht nur aus Achtung für Nygaardsvold so genannt. Soviel ich weiß, wolltest du damit auch deinen Nachbarn, den Parteisekretär, ärgern. Du hast dem Hund beigebracht, ihn so lange anzuknurren und zu bellen, bis er sagt: ›Lieber Nygaardsvold, du hast ja vollkommen recht!‹ Dann wird er zahm wie ein Lamm, wedelt mit dem Schwanz und leckt ihm die Hand.«
Wir lachten alle, mein Hauswirt hell und laut, der Lensmann brummte, und das Mädchen kicherte, weil die anderen lachten. Auch ich ließ mich mitreißen. Zuerst wehrte ich mich. Schließlich brauchen wir dieselben Muskeln zum Lachen wie zum Weinen. Aber dann ließ ich mich gehen. Wann hatte ich zuletzt so gelacht? Ich schluchzte. Wie gut es tat! Ich schluchzte und lachte, bis die Tränen liefen. Jetzt war genau das geschehen, was ich befürchtet hatte. Ein Damm war gebrochen, die Tränen kamen aus einer anderen Quelle. Ich kämpfte gegen das Weinen und tat, als würde ich aus vollem Herzen lachen.
Als sie hinter der nächsten Wegbiegung verschwanden, hörte ich sie immer noch lachen, und der Hund stimmte fröhlich bellend ein. Es wurde nach Mitternacht, bis ich wieder zu Hause war.
Ich erkannte mich nicht wieder. Immer war die Selbstbeherrschung mein höchstes Ideal gewesen, und nun hatte ich wie ein Kind geheult und alle Vernunft vergessen. Als ich das kleine Mädchen an der Hand genommen und es über die Bäche gehoben hatte, als ich es auf den Arm genommen und getragen hatte, weil es müde war, als es mit seiner kleinen Hand neugierig über meine Bartstoppeln gestreichelt hatte, da hatte es mich wie ein Blitz getroffen: Wofür hast du gelebt? Die Reaktion kam später, als ich wieder in Hylla war. Ich weinte, wie ich es seit meiner Kindheit in Königsberg nicht mehr getan hatte. Was hatte ich alles geopfert! Familie, Kinder, Enkel. Aber hier gab es keine Mutter, die mich tröstete.
15. Mai 1967
Das Leben, das so viel Unruhe bringt
Der Obstgärtner weiß, worüber er redet. Gestern Abend sagte er zum Abschied: »Ja, bald kommen die Kreuzfahrtschiffe. Dann ist wieder Leben in den Fjorden!« Er und seine halbwüchsige Tochter hatten mich zum ersten Mal besucht, seit der Winter den Griff gelockert hatte und die Pfade trocken genug waren, um hier hinaufzugelangen. Endlich lebende Menschen zum Reden! Von November bis Mai allein. Es ist jedes Mal, als müsste ich von neuem sprechen lernen. Wenn mein Hauswirt und seine Tochter auftauchen, komme ich ins Leben zurück.
Aber das Leben bringt auch Unruhe, denn mein Wirt hat die Gewohnheit, bohrende Fragen zu stellen. Der Obstgärtner weckt schlafende Hunde! Warum, frage ich mich. Warum erst jetzt, wo er doch zwanzig Jahre Zeit hatte? Vielleicht ist die Antwort einfach, vielleicht ist ihm klar geworden, dass ich alt und vergänglich bin. Es ist wie mit archäologischen Ausgrabungen: Man muss die Vergangenheit schnell freilegen, bevor einem Grabräuber, Bagger oder Stauseen zuvorkommen und das große Vergessen alles zudeckt.
Aber glaubt bloß nicht, dass ich das, was geschehen ist, auf die leichte Schulter nehme.
Auch nach fünfzig Jahren verfolgt es mich noch. In all den Jahren habe ich zu verstehen versucht, warum es so weit gekommen war. Jeden Stein habe ich umgedreht, aber immer, wenn ich glaube, ich sei fertig, tauchen neue Dinge auf. Zum Reden bin ich nicht viel gekommen – es gehört sich auch nicht für einen preußischen Offizier, sich Gott und der Welt anzuvertrauen –, so dass mein Tagebuch zum unsichtbaren Gesprächspartner wurde.
Ohne die Tagebücher hätte ich die Jahre hier oben nicht ausgehalten. Die kleinen Kladden stehen in Reih und Glied, Jahr und Monat auf den Buchrücken. Ich mag Ordnung. Ganz oben links steht in zierlicher Schuljungenschrift Königsberg 1885. Als Vierzehnjähriger begann ich mit täppischen Notizen. Überspannt und romantisch,