Nano: Lüneburg. Oliver Borchers

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Название Nano: Lüneburg
Автор произведения Oliver Borchers
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946381969



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die Vergangenheit getan. Ich erkannte plötzlich, dass ich viele Dinge erlebt haben musste, die ich verdrängt hatte.

      Verwirrende Bilder flackerten vor meinen geschlossenen Lidern, chaotisch und bunt. Verzweifelt versuchte ich sie zu ordnen, mit aller Kraft festzuhalten, denn ich wollte mehr erfahren, bevor der Außerirdische mich tötete. Ich spürte, dass er über mir war, dass er mich mit diesen glühenden Augen betrachtete.

      Plötzlich stoppte das Chaos in meinem Kopf, blieb bei dem Bild eines weiß getünchten Hauses stehen, das in mir das ungewohnte Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit hervorrief. Es war umgeben von einem Garten mit Fruchtbäumen, an einer grünen Tür blitzte eine Messingklinke in der Sonne.

      Wo ist das?

      Plötzlich hörte ich seltsame gutturale Geräusche. Sie kamen unregelmäßig und stoßartig, fast wie von einem Spürhund, der Witterung aufnahm.

      Vergessen waren das Haus und meine aufgekommene Neugierde. Ich war in Panik, wollte fort und wagte es doch nicht, mich zu bewegen.

      Ich wartete darauf, dass ein fürchterlicher Schmerz meinem Leben ein Ende bereitete. Ein Schnitt in der Kehle vielleicht oder in einer lebenswichtigen Arterie. Doch er kam nicht, und die Geräusche verklangen.

      Als ich die Augen öffnete, erkannte ich, dass über mir niemand war. Doch alles war seltsam unscharf, als wäre ich unter Wasser.

      Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen, bis sich der Schleier hob. Dann registrierte ich im Augenwinkel eine Bewegung. Durch den Spalt sah ich, wie sich die große Gestalt lautlos entfernte. Von einem Augenblick zum nächsten verschwand sie.

      Erst jetzt bemerkte ich, dass ich kaum atmete. Keuchend sog ich die stickige Luft des Lagers ein. In diesem Moment kam sie mir köstlicher vor als eine Prise AS-X. Ich hatte überlebt.

      Als ich mich bewegte, protestierte mein Knie und entließ ein zischendes Geräusch. Wider Willen musste ich lachen, ein krächzender, humorloser Ton.

      »Scheißteil. Fast hättest du es diesmal geschafft!« Nur, warum hatte das Wesen mich nicht getötet? Warum hatte es gezögert? Ich mühte mich auf meine Beine und hangelte mich an dem Kistenstapel entlang.

      Die Leiche des Verkäufers lag vor mir, sein Blut bedeckte den Großteil des Bodens. Das Wesen hatte darin keine Fußspuren hinterlassen.

      Ich suchte mir den Weg zur Tür, der am wenigsten besudelt war, und kämpfte gegen Schwindel und zitternde Glieder.

      Plötzlich verdunkelte ein breiter Schatten den Eingang. Ein muskulöser Mann starrte mich an, eine Handfeuerwaffe im Anschlag.

      »Wow! Der Kerl hat dich wohl ziemlich angepisst, was? Wie hast du ihn erledigt?«

      Erleichtert stolperte ich auf Kern zu, wollte ihm erklären, dass ich den Mann nicht umgebracht hatte, wollte mich von ihm trösten lassen. Stattdessen flüsterte ich: »Hast du AS-X?«

      Er musterte mich mit dem leichten Ausdruck von Bedauern in den dunklen Augen, den ich mittlerweile kannte. Dann verzog er sein Gesicht spielerisch zu einer Grimasse voller Angst und reichte mir eine Kapsel.

      »Hier, bevor du mir auch noch die Kehle aufreißt, oder was auch immer du da gemacht hast! Was …« Er schüttelte den Kopf. »Hast du ihn etwa mit deinem Kniedampf zu Tode gedünstet?«

      Ich setzte die Kapsel an das Interface und spürte, wie das AS-X in meine Venen schoss. Seufzend hielt ich mich an Kerns Arm fest. »Ich hab ihn nicht getötet. Das Ding, das ihn erledigt hat, ist gerade eben raus.«

      »Das Ding?«, murmelte Kern, spannte aber sofort die Muskeln an und aktivierte den Bewegungsdetektor an seinem Armgelenk.

      »Ich glaube nicht, dass diese Geräte bei ihm funktionieren.«

      Kern ignorierte mich, scannte die Umgebung. »Wenn sich das Ding bewegt und wenigstens ein bisschen Wärme ausstrahlt, wird es funktionieren, keine Sorge.«

      Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du verstehst nicht. Es ist nicht so wie deine normale Beute, es ist …«

      »Zielobjekt. Nicht Beute. Ich bin Agent, nicht Jäger.«

      Ich verdrängte das warme Gefühl, das ich in seiner Nähe verspürte, und schüttelte seinen Arm. »Kern, verstehst du nicht? Wir müssen hier weg. Sofort! Wenn schon nicht wegen des Zielobjektes, dann auf jeden Fall wegen der Leiche. Wenn die Polizei kommt und uns hier erwischt …«

      Kern zögerte, dann nickte er und drückte mir seine Waffe in die Hand. »Na schön. Halt mal!«

      Aus seinen tiefen Taschen holte er eine Granate hervor, die er mit dem Daumen aktivierte.

      »In einer Minute. Feuer. Gezielte Vernichtung DNA von Insomnias Organisationsmitgliedern«, murmelte er. Dann warf er das Gerät neben die Leiche.

      Bevor er mich zur Tür hinausschob, holte er einen Kunststoffblock aus der Kiste und steckte ihn in seinen Rucksack. Er trieb mich zur Eile an, schloss zu mir auf.

      Als die Granate hochging, spürte ich die Hitzewelle und prallte gegen ihn. Beiläufig ergriff er meinen Kragen und richtete mich wieder auf. Vorsichtig fischte er seine Waffe aus meiner Hand.

      Da piepte plötzlich sein Bewegungsmelder. Obwohl ich das Gerät nicht gut kannte, erfasste ich sofort, dass sich jemand in den Räumlichkeiten oberhalb der Halle befand, vermutlich im Büro des Gebäudes.

      Ich drehte mich um, blickte hoch und sah ein eingeschlagenes Fenster. Mir wurde klar, was passiert war. Das Wesen hatte etwas oder irgendwen im Lager gesucht. Als es nicht fündig geworden war, hatte es die Wand erklommen, das Fenster eingeschlagen und im Büro weitergesucht.

      Ich schluckte, als ich an den Ausdruck des Wesens dachte, während es das AS-X scannte. Hatte es meine DNA gefunden? Suchte es mich? Aber warum lebte ich dann noch? Es war genau über mir gewesen, so nah, dass es mich unmöglich übersehen haben konnte.

      In diesem Moment ertönte ein dumpfer Schlag. Das gesplitterte Glas auf dem Boden knirschte, und etwas Schweres kam schnell näher. Niemand war zu sehen, doch ich wusste, dass das täuschte.

      »Schnell!«, rief ich und presste Kern mit all meiner Kraft in den Schatten der Gasse.

      Plötzlich waberte die Luft genau neben uns, etwas Unförmiges manifestierte sich dort. Kern reagierte sofort, riss die Pistole hoch und drückte ab. Der Knall direkt neben meinem Ohr ließ mich gegen seine Brust taumeln. Sterne flackerten vor meinen Augen, mein Knie gab nach. Ich sah die Dinge wie durch ein dickes Glas, mein eigener Körper erschien nur noch schemenhaft. Während ich mit Kern zu Boden stürzte, hörte ich etwas mit großer Geschwindigkeit vorbeirauschen.

      Kern schrie auf und versuchte mich fortzustoßen, ich klammerte mich an ihn, fast taub und trotz des AS-X voller Schmerzen. Etwas Warmes und Feuchtes lief über meinen Rücken.

      Plötzlich bäumte sich Kern auf, ich verlor den Halt und stieß mit dem Kopf gegen eine harte Kante. Bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich das Zischen meines Knies, das seltsam triumphierend klang.

Image

      Slang leitete seine Reserve-Energie in die Sensoren und scannte den Bereich, in dem sich die beiden Menschen irgendwie versteckt hielten. An den Rändern der Gasse war Müll gestapelt, Kartons, verrostete Blechdosen und Palettenholz. Nichts, was groß genug war, um zwei Menschen zu verbergen. Und doch waren diese weg. Einen hatte er sogar verletzt, ihm zwei tiefe Schnitte verpasst.

      Seine Nanobots, die die Klinge geformt hatten, transportierten Blutreste zum Analysebereich und verglichen sie mit den Fragmenten auf der Blechkapsel. Die Analyse dauerte länger als gewöhnlich, doch dann kam das Ergebnis: Normale DNS.

      Der Mensch, den er verletzt hatte, war nicht derjenige, den er suchte. Trotzdem – wo versteckte er sich? Die Wahrscheinlichkeit, dass Slangs Sensoren beschädigt waren, war gering, dennoch schloss er diese Möglichkeit nicht aus. Er würde später eine Diagnose seiner Systeme initiieren, jetzt war es erst einmal wichtig, diese beiden zu finden.

      Wieder