Nano: Lüneburg. Oliver Borchers

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Название Nano: Lüneburg
Автор произведения Oliver Borchers
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946381969



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zurück zur Hauptstraße lief, dorthin, wo Kern ihn eine Weile mit unsinnigen Fragen beschäftigen würde.

      Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf meine zitternden Hände. Wenn ich aufgeregt war, kroch mein alter Begleiter, der pochende Schmerz, die Wirbelsäule hoch und versuchte meinen Verstand zu betäuben. Heute galoppierte er nur so auf den Kopf zu.

      Ich vergewisserte mich, dass die kleine Blechkapsel in meiner Seitentasche steckte. Etwa eine Viertelstunde noch, dann würde mein Zittern zu einem unkontrollierten Zucken und das Pochen zu einem vernichtenden Hämmern werden. Ich kannte den Ablauf mittlerweile, sodass ich genau abschätzen konnte, wann ich die nächste Dosis AS-X benötigen würde. Zeit genug, meinen Auftrag zu erledigen. Ich vermied die hellen Bereiche der Straße und lief zurück in Richtung Tür. Das Zischen meiner kaputten rechten Beinprothese wurde vom Plätschern des Regens und dem Rauschen des Verkehrs auf der nahen Hauptstraße überdeckt. Es war niemand da, der es hätte bemerken können.

      Ich tippte die Zahlen ein, das Schloss entriegelte. Als ich an der schweren Tür zog, merkte ich jäh, wie mir schwindelig wurde. Schnell öffnete ich meine Seitentasche und entfaltete einen zusammengelegten Rucksack. Meine Hände zitterten dabei so sehr, dass ich ihn fast fallen ließ.

      Ich musste mich beeilen. Ich warf die Spielekartons achtlos aus der Kiste, sie klapperten auf den Boden.

      Meine Finger zogen an einem der Kunststoffblöcke. Er war schwerer als erwartet. Wütend auf die eigene Schwäche zerrte und riss ich an ihm, bis plötzlich ein Widerstand nachgab und ich ihn herausheben konnte.

      Da entdeckte ich das Kabel, das mit dem Block verbunden gewesen war und das ich herausgerissen hatte.

      Ich fluchte und ließ die Beute los. Solch ein Kabel konnte alles Mögliche bedeuten, daher sprang ich zur Seite, so weit, wie meine Beine dies zuließen. Ich prallte gegen einen Betonpfeiler und stürzte zu Boden. Gebannt hielt ich den Atem an, doch es passierte nichts.

      Während ich noch ein wenig wartete, wanderte der Schmerz ein Stück hoch und lauerte drohend in meinem Nacken. Es war, als sei er bereit, auszubrechen und mein Gehirn anzugreifen. Ich spürte, dass der Sturz die Viertelstunde reduziert hatte, dass ich ihn sofort behandeln musste. Meine Hand tastete nach dem AS-X und griff ins Leere. Die Blechkapsel war fort! Ich musste sie beim Sturz verloren haben.

      Verzweifelt tastete ich den schmutzigen Boden ab, schob Kartons beiseite und versuchte das Zwielicht mit meinen Augen zu durchdringen. Erinnerungsfragmente von Hochleistungslinsen und Augenimplantaten blitzten auf. Entsprachen sie der Wahrheit oder waren sie Wunschträume, die ich in meinem Leben vor dem Nano-Schock hatte?

      Ich schüttelte den Kopf und kroch hinter einen der Kistenstapel. War die Kapsel hierhin gerollt?

      Ich hielt inne, als sich hastige Schritte näherten. Irgendjemand fluchte ununterbrochen, während er auf die Tür zusteuerte und diese aufriss. Es war der Händler.

      »Arschlöcher! Junkie-Huren! Piss-Diebe! Was habt ihr mit meiner Ware gemacht?«

      Das Geräusch klappernder Spielekartons verriet mir, dass er auf die offene Kiste zuhielt. Schnell zog ich die Beine an, damit er mich nicht sehen konnte. Meine Prothese zischte dabei so laut, als wollte sie dem Mann unbedingt mitteilen, wo ich zu finden war. Doch der übertönte jedes Geräusch mit seinem Monolog.

      Wütend überprüfte er die Kunststoffblöcke und lachte hart. »Verfluchte Drogentussi! Hast wohl kalte Füße bekommen, als du das Kabel gesehen hast, wie? Könnte ja eine Scheißbombe, ein Giftspray oder eine Selbstschussanlage sein! Dabei ist es nur eine Alarmanlage, die beste, die ich bislang hatte.«

      Er schaufelte Spielekartons in die Kiste. Jeder Ton dröhnte so laut, dass ich meine Hände gegen die Ohren presste. Schweiß floss mir in die Augen. Wenn ich nur nicht so schwach wäre! Hätte ich das AS-X, könnte ich es mit ihm aufnehmen.

      Plötzlich stockte er. Blech klimperte. Er kicherte. »Na, das ist mal ein Einbruch, den ich mir lobe. Nichts geklaut, aber teure Schmerzmittel dagelassen.«

       Mein AS-X!

      Ich wollte aufspringen, es ihm entreißen, es an das Interface setzen, spüren, wie es den Schmerz fortspülte. Doch mein Kopf schwamm, und meine Beine reagierten nicht. Ich bemerkte, dass der Schwächeanfall mich fest im Griff hatte, dass ich sogar halluzinierte.

      Durch einen Spalt zwischen den Kistenstapeln sah ich, wie hinter dem Händler ein Schatten erschien, unförmig und nur entfernt menschenähnlich. Und der Schemen wurde immer seltsamer und absurder, während ich versuchte den Schweiß aus meinen Augen zu blinzeln.

      Jetzt verschmolz er mit dem Händler, ich hörte einen Schrei, dann einen Schlag. Blech klimperte, der hohe Klang durchdrang den Schmerz in meinem Kopf, füllte ihn mit Hoffnung auf Linderung. Meine Gedanken rasten hin und her, chaotisch und wirr. Irgendwann wurden sie ein wenig klarer, und ich fühlte mich wieder stark genug, die Augen aufzumachen.

      Ich hatte nicht halluziniert. Ein Körper lag auf dem Boden vor der Kiste. Durch den Spalt konnte ich den Hals des Mannes sehen. Blut floss aus seiner Kehle. Er bewegte sich nicht.

      Da schwebte die Kapsel in mein Sichtfeld. Sie war teilweise verdeckt von einem grauen Schleier, der das Aussehen der Umgebung widerspiegelte.

      Ein Tarnfeld!

      Eine Erkenntnis, die meinem Gehirn entsprang, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, so etwas je gesehen zu haben. Schon vor dem Nano-Schock waren Tarnfelder extrem selten gewesen, danach konnten sie nicht mehr existieren, weil sie auf Nano-Technologie basierten.

      Ich hielt den Atem an. Wer war das? Wer hatte Zugriff auf diese Technik? Und was hatte er mit dem Händler gemacht?

      In diesem Moment waberte das Feld, Grautöne wandelten sich in scharfe Konturen und nahmen die Form eines Mannes an, der meine Kapsel in der Hand hielt. Er war in eine Art goldene Panzerung gekleidet, einen Schutzanzug aus Metall, der auch sein Gesicht bedeckte. Seine Augen oder Fotosensoren fixierten die Kapsel, ein Scanstrahl tastete den kleinen Blechbehälter ab. Plötzlich verzog sich seine Maske, Lippen kräuselten sich, Gesichtszüge nahmen Form an.

      Ich riss die Augen auf, erstarrte. Das war kein Schutzanzug! Was ich dort sah, schimmerte zwar wie ein goldener Titanpanzer, war aber beweglich und flexibel wie Haut. Die Panzerung war der Mann!

      Erinnerungen an den Nano-Schock kochten hoch. Das Gerücht einer außerirdischen Infektion. Ein Virus, der Nanotechnologie zerstörte. Später lösten sich diese Gerüchte genauso auf wie Schmerzen nach einer ordentlichen Dosis AS-X. Ein außer Kontrolle geratener Nanocomputervirus klang glaubwürdiger als eine außerirdische Bedrohung. Bis jetzt.

      War er etwa ein Außerirdischer? Er war größer als die meisten Menschen, bewegte sich so fließend, als würde er aus flüssigem Metall bestehen. Seine Mimik wiederum war menschenähnlich. Er blickte triumphierend drein und irgendwie gierig. Seine glühenden Augen fixierten das AS-X, als sei es ein Schatz. Dann drehte er sich um, wollte wohl zur Tür gehen.

      Trotz meiner Angst war ich fasziniert von seinen fremdartigen Bewegungen, die in ihrer Leichtigkeit bedrohlich wirkten. So ähnlich wie eine Katze, die aus einer eleganten Schleichbewegung heraus einen tödlichen Angriff starten konnte. Zitternd beugte ich mich näher an den Sichtschlitz.

      Da öffnete sich ein Hydraulikventil in meinem kaputten Knie und entließ ein zischendes Geräusch.

      Er reagierte sofort, wirbelte so schnell herum, dass ich seine Konturen nur erahnen konnte.

      Panik stieg in mir auf, als er auf den Kistenstapel, hinter dem ich versteckt war, zuzufließen begann. Irgendetwas in mir wusste, dass er mich wie den Händler töten würde. Ich starrte nach oben zum Rand des Stapels, wo seine Metallfinger jeden Augenblick auftauchen würden, und wagte nicht zu atmen. Ich schloss die Augen. Hitze wallte in mir auf, und für einen kleinen Moment hatte ich das Gefühl, über mir zu schweben.

      Millionen feindlicher Militärbots schwärmten aus und erfassten meine Signatur. Niemand konnte mich jetzt mehr retten, daher initiierte ich mein brandneues Zero-Programm. Ich wartete, bis meine Bots bestätigten, und aktivierte sie dann.