Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch. Cara Schweitzer

Читать онлайн.
Название Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch
Автор произведения Cara Schweitzer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449479



Скачать книгу

in Zürich maßgeblichen Anteil an den Vorführungen im Cabaret Voltaire. Marcel Janco war einer der Ersten, die für ihre Auftritte Masken anfertigten, deren Träger sich in eine künstliche Bewegungsform versetzten.207 Starken Anteil an den dadaistischen Verkleidungen hatte auch Sophie Taeuber, Hans Arps spätere Frau, die hauptberuflich an einer Gewerbeschule Textilgestaltung unterrichtete und auch bei der Laban-Tanzschule mitwirkte.208 Sophie Taeuber entwirft 1918 für ein Bühnenstück mehrere Marionetten, deren langgestreckte Glieder und Kostüme aus Federn und Tüll Gemeinsamkeiten mit Höchs Figurinen haben. Die Maskeraden und Puppen verkörpern in ihrer Notwendigkeit, bewegt zu werden, um lebendig zu erscheinen, ein zentrales Anliegen von Dada, die Negation von allem Statischen und Starren.

      Hannah Höchs Puppen sind auf der Dada-Messe nicht allein. In Gestalt von hölzernen Marionetten, Gliederpuppen, wie sie Künstler zu Proportionsstudien nutzen, und Schaufensterpuppen tauchen sie in den Fotomontagen, Gemälden oder in Gestalt skulpturaler Objekte in der Ausstellung auf. Puppen oder einzelne Teile der Puppenkörper verweisen sowohl auf negative als auch auf positive Bedeutungszusammenhänge. Einerseits repräsentieren etwa die marionettenhaften Kriegskrüppel von Otto Dix in seinem Gemälde »45 % erwerbsfähig« mit ihren Prothesen die negativen Folgen einer Welt, die zusehends durch Maschinen organisiert und zerstört wird, wie es die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs gezeigt hatten. Andererseits huldigen die Dadaisten, etwa Hausmann in einer heute verschollenen Fotomontage, dem neuen, utopischen Typus des Menschen, dessen Gehirn wie ein technisches Instrument Maschinenkunst produziert, angelehnt an das große Vorbild, den russischen Suprematisten Tatlin.209 Hannah Höchs flexible Püppchen aus weichen Materialien spielten eine Sonderrolle auf der Messe, wie sie selbst im Kreis der Berliner Dadaisten.

      »Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands«

      Neben den Puppen zeigt die Künstlerin auf der umfangreichen Dada-Ausstellung in der Galerie Burchard unter anderem ihre heute bekannteste Fotomontage »Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands« (Abb. 6), die zwischen 1919 und 1920 entstand. Über ihre erste öffentliche Präsentation von Fotomontagen im Zusammenhang mit der Dada-Messe berichtet Höch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem Aufsatz über die neue künstlerische Gattung: »Die Ausstellung zeigte Fotomontagen in großer Menge. Wochenlang hatte es in den Ateliers der beteiligten Künstler wie in Papierkörben ausgesehen. Auf den ersten Blick bot sich dem die Ausstellung Besuchenden ein überaus heiteres Bild. Beim näheren Hinsehen stellte es sich allerdings heraus, daß die Sache gar nicht so lustig war, denn die Schere – geführt – wenn man so sagen darf – hatte die seelische Not, das verzweifelte Ringen der auch damals gequälten und enttäuschten Jugend.«210

      Das von Hannah Höch in der großformatigen Fotocollage verwendete Bildmaterial enthält mit seinen zeitgenössischen Pressemitteilungen entnommenen Vorlagen die meisten Anspielungen auf das politische Tagesgeschehen der jungen Weimarer Republik in Höchs Œuvre. Zeitgenössischen Besuchern werden die Bildvorlagen bekannt gewesen sein. Sie stammten vornehmlich aus der im Ullstein Verlag erschienenen »Berliner Illustrirten«, die Millionenauflagen erreichte.211 Oft wurde in der Literatur das vielfältige Ineinanderspiel von ausgeschnittenen Zeitungsbildern und Schriftelementen beleuchtet und interpretiert. Erst jüngst untersuchte der amerikanische Kunsthistoriker Peter Chametzky den »Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche« im Hinblick auf die Repräsentation jüdischer Personen, die die frühe Phase der Weimarer Gesellschaft und Kultur prägten. Er weist nach, dass Hannah Höch sich mit ihrer Fotomontage gegen antisemitische Tendenzen wendet, indem sie »eine Vision möglicher Funktionen und potentieller Gefahren für deutsche Juden in der Weimarer Gesellschaft thematisiert«.212

      Die Komplexität des kompositorischen Aufbaus der Fotomontage findet ein Echo in dem langen und martialische Phantasiebilder evozierenden Titel der Arbeit. Wer schlitzt hier wem den Bierbauch auf? Das Küchenmesser als Waffe deutet auf einen weiblichen Täter hin. Und in der Tat seziert Hannah Höch, wenn auch nicht mit dem Küchenmesser, sondern mit ihrer Schere in der Fotomontage Schicht für Schicht den aktuellen Stand der Weimarer Republik.

      Sich selbst hat sie in dem Bilderkosmos nicht vergessen und ihren ausgeschnittenen Kopf an jene Stelle in der rechten unteren Ecke der Fotomontage platziert, an der für gewöhnlich die Künstlersignatur zu finden ist. Das ist ihre Reaktion auf die von den Dadaisten in der Ausstellung eingeforderte technische Anonymisierung der Kunst. Dort, wo Grosz etwa den Stempel mit seinem Namen hingedrückt hätte, klebt Höch den Bildausschnitt ihre Kopfes. Ihr Haupt ist zur einen Hälfte in das Abteilfenster eines Zuges montiert, zur anderen Hälfte überschneidet es den Zeitungsausschnitt einer Europakarte, in dem Länderumrisse und Informationen über das Frauenwahlrecht dargestellt sind. In ihrer ausführlichen Analyse der Fotomontage stellt Jula Dech fest, dass die in der unteren rechten Ecke der Arbeit platzierte Karte einen Hinweis auf die Lesart der Fotomontage bietet. Sie ist an jener Stelle platziert, wo man bei Landkarten sonst die Legende vermutet.213

      Beim ersten Blick fallen sofort die zahlreichen Porträts prominenter Politiker, Wissenschaftler und Künstler auf, die in scheinbar willkürlicher Anordnung über die gesamte Bildfläche purzeln. Die berühmten Häupter sitzen jedoch in der Regel nicht auf den dazugehörigen Leibern. Vielmehr hat Höch die meisten geköpft und auf die Büsten anderer verpflanzt. Der bärtige Kopf Hindenburgs etwa findet sich auf dem erotisch inszenierten Körper einer orientalischen Tänzerin wieder.214 Neben den durcheinandergewürfelten Figuren tauchen große Radwerke in der Fotomontage auf. Sie zählen zum Bereich der Technik. Ausschnitte von Kugellagern und Autoreifen, eine Eisenbahnlokomotive und ein Auto verweisen auf maschinelle Fortbewegungsmittel. Den Gegenpol zu den Bildern der Technik bilden die Tiermotive.215 Ein Elefant und ein Zwitter aus Gnu und Zebra tauchen im Bildzentrum auf. Ausschnitte von New Yorker Wolkenkratzern platziert die Künstlerin neben Zeitungsbildern von Massendemonstrationen.216 Hannah Höchs Figuren wirken mit ihren viel zu großen oder zu kleinen Köpfen und ihren überklebten Augen verzerrt. Die Künstlerin kaschierte die Schnittstellen ihrer Manipulationen mit der Schere nicht. Ebenso wenig leugnet die Fotomontage ihren künstlerisch-technischen Entstehungsprozess. Wie bei einer Fahrt durch die Großstadt, bei der Reklameschilder, Verkehrssignale und Passanten vor dem Hintergrund von Häuserfassaden auftauchen und im nächsten Moment wieder verschwinden, springen aus der Gesamtkomposition der Fotomontage einzelne Bildmotive ins Auge.217 Diesem Prinzip wird Hannah Höch auch in späteren Fotomontagen treu bleiben und gerade hiermit eine eigene künstlerische Position in der Fotomontagetechnik besetzen.218 Ihre Fotomontagen sind weiterhin originale Kunstwerke. Hierin unterscheiden sich Höchs spätere Arbeiten von denen John Heartfields, der seine Fotomontagen gezielt für die Massenproduktion politischer Propagandabilder entwerfen wird. Heartfield bediente sich dabei in der Reklame verbreiteter technischer Verfahren.219

      In den vier Bildecken der Fotomontage verdichten sich die montierten Zeitungsausschnitte. Hannah Höch hat ihren Kopf in die Ecke der »Dadaisten« gesetzt, wie ein Schriftelement aus verschiedenen Typen bekanntgibt. Neben ihr blickt aus einem anderen Abteilfenster des Zuges das Profil Raoul Hausmanns. Weiterhin sind die Köpfe von Johannes Baader, Walter Mehring, George Grosz, Wieland Herzfelde und John Heartfield in der unteren rechten Ecke zu sehen, deren Häupter sich locker auf einem hellen Hintergrund verteilen.220 Eine vergleichbar übersichtliche Anordnung findet sich auch in der diagonal gegenüberliegenden Ecke der Fotomontage links oben wieder, in der ein riesiger Kopf Albert Einsteins die Komposition dominiert. Sein rechtes Auge überklebte die Künstlerin mit zwei Rädchen. Zeitungsausschnitte des Reichspräsidenten Friedrich Ebert sind ihm zugeordnet, ebenso wie ein Kugellager, eine Rangierlokomotive oder ein Flaschenzug. Wie als würde Hannah Höch an den Entdecker der Relativitätstheorie einen Appell richten, findet sich unter dem Zeitungsausschnitt seines Kopfes die Bildunterschrift: »He, he, Sie junger Mann, Dada ist keine Kunstrichtung« – eine Aufforderung an den Physiker, Dada als allumfassendes Gesellschaftsprinzip ernst zu nehmen.

      In der rechten oberen und in der linken unteren Bildhälfte sind die Zeitungsfragmente teilweise so dicht aneinandermontiert, dass sie sich zu mehreren Schichten überlagern. Ein großes Porträt Kaiser Wilhelms II. bildet