Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch. Cara Schweitzer

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Название Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch
Автор произведения Cara Schweitzer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449479



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Mäntelchen angetan und trug einen großen Rucksack – eine unmögliche Erscheinung. In der Tasche hatte ich 300 Mark, die mir mein Vater, in Anbetracht der nun galoppierenden Inflation, gutwillig überlassen hatte – die übrigen 700 Mark des mir für Ausstattungszwecke einmal zugewendeten Geldes hatte die Geldentwertung bereits gefressen«, erinnerte sich Hannah Höch.240 Im Jahr 1920 war Hannah Höchs nicht auf Bequemlichkeit setzende Art der Fortbewegung für eine Frau ungewöhnlich. In Rom knüpft Hannah Höch Kontakte mit den dort lebenden an Dada beteiligten Künstlern. Vor allem hat sie Kontakt zu Enrico Prampolini, der sie mit den neuesten Kunstzeitschriften versorgt. Der Austausch zwischen der zeitgenössischen Berliner Kunstszene und der römischen wird insbesondere durch eine von Marinetti und Prampolini gemeinsam organisierte Übernahme einer Ausstellung der Novembergruppe ersichtlich.241

      Johannes Baader übermittelt Hannah Höch während ihres Romaufenthalts postalisch mehrere Missionen, die sie im Auftrag für ihn bei Papst Benedikt XV. erledigen soll. »Sei doch so gut und sage Benedikt, er möge die sella curulis oder die cathedra ex machen, Baader kommt in die Peterskirche und wird die erste große Weltdada-Messe zelebrieren. Benedikt soll Posaune blasen. Aber rechtzeitig. Auch seine Töne kann dada brauchen«, schreibt Baader im November nach Rom, was so viel heißt, wie dass der Papst für ihn seinen heiligen Stuhl räumen soll.242

      Hannah Höch genießt während der Italienreise ihre Freiheit. Möglicherweise löste der erste längere Aufenthalt im Ausland bei der Künstlerin, die während ihrer Station in Bologna ihren 31. Geburtstag feiert,243 ein Reisefieber aus, das Hannah Höch lediglich unterbrochen durch den Zweiten Weltkrieg ihr Leben lang immer wieder packen wird.

      Der Fahrt gehen erneut unvermeidbare und heftige Auseinandersetzungen mit Raoul Hausmann voraus, die diesmal zu einer Flucht der Künstlerin ins Ausland führen. Baader berichtet ihr nach Italien, dass er Hausmann zusammen mit seiner Frau Elfriede zufällig auf einem Empfang getroffen habe.244 Und wieder einmal wird Baader in die Konflikte involviert, die sich dieses Mal vor allem zwischen ihm, Hausmann und dessen Frau auftun. Hausmann versucht über Elfriede Hausmann-Schaeffer bei Höchs Eltern ihre römische Adresse zu erfragen, was offenbar gelingt.245 Aus Rom schreibt Hannah Höch ihrer Schwester Grete:

      »5 Jahre lang habe ich doch immer wieder versucht, mich von ihm zu befreien – nicht nur äußerlich, auch innerlich, bin ich Gott weiß wohin vor ihm geflohen, habe mit aller Kraft versucht, mir mit andern Menschen ein leichteres Leben zu zimmern – aber ich sage Dir heute, und dies nach schwersten Erfahrungen, ich muß neben diesem Mann weiter aushalten, ich kann mir nicht mehr vorlügen, daß ich weiterleben kann, sowenig wie er ohne mich, ohne ihn, es geht eine Weile – und dann würde ich eben lieber sterben gehen (ohne alle Sentimentalität) als weiterleben. Ich gehe also, wie Christus auf die Frage: Herr wohin gehst Du, antwortet: ich gehe, um mich noch einmal kreuzigen zu lassen. – Denke nun nicht, dass dies heißt, dass ich jetzt nach Berlin gehe um mich wieder in seine Arme zu stürzen – es wird ihn noch einen harten Kampf kosten – aber im Vertrauen sage ich dir – ich bin mit Raoul Hausmann nicht fertig – wir haben noch mehr miteinander zu tun.«246

      Am 15. November 1920 tritt Hannah Höch mit der Bahn den Heimweg nach Deutschland an, zunächst fährt sie zu ihren Eltern nach Gotha. Über ihre Zeit in Italien schreibt die Künstlerin einen satirischen Essay, der im Mai 1921 in einer Veröffentlichung der Novembergruppe publiziert wird.247 Zu einer erneuten Versöhnung zwischen Hausmann und Höch scheint es, wie Höch in ihrem Brief an die Schwester schon angekündigt hatte, nicht sofort nach ihrer Rückkehr nach Berlin gekommen zu sein. In ihren Taschenkalender notiert sie am 5. Dezember 1920: »Raoul vor der Tür! Ich komme, um mich nochmals kreuzigen zu lassen. Venio iterum crucifigi. (las ich in Rom) Ich unterlag wieder.«248 Die Worte, die Hannah Höch hier für ihren erneuten Friedensschluss mit Hausmann wählt, entstammen christlicher Kreuzessymbolik oder sind Metaphern des Kampfes, aus denen keine Hoffnung auf Verbesserung ihrer Beziehung spricht. Vielmehr scheint sie mittlerweile ihr gemeinsames Leid als unabänderliches Schicksal akzeptiert zu haben.

      Im folgenden Jahr 1921 führen Hannah Höch und Raoul Hausmann zumindest phasenweise das Projekt Dada gemeinsam weiter. Es entstehen von beiden auch in der folgenden Zeit wichtige Arbeiten, die heute im Kontext der Dada-Bewegung interpretiert werden, unter anderem Raoul Hausmanns berühmter »Mechanischer Kopf«.249 Die Veränderungen und Auflösungserscheinungen innerhalb der Berliner Dada-Gruppe spiegeln sich auch in der Verlagerung von Raoul Hausmanns freundschaftlichen Beziehungen wider. Johannes Baader gewinnt bei ihm wieder an Einfluss, während George Grosz und John Heartfield mit ihren linkspolitisch ausgerichteten Zielen eher in den Hintergrund treten. Hausmann interessiert sich zusehends für konstruktivistische Tendenzen in der Kunst.250 Er kommt in Kontakt mit dem Begründer der niederländischen De-Stijl-Bewegung, Theo van Doesburg, den auch Hannah Höch zuerst über Raoul Hausmann kennenlernt und der wenig später gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Nelly zu ihren engen Freunden zählen wird. Während der Berliner Dada-Kreis sich bereits in Auflösung befindet, initiieren Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck gemeinsam mit dem späteren Verfasser des surrealistischen Manifests André Breton in Frankreich die Pariser Dada-Bewegung.251

      Im Herbst 1921 kommt es noch einmal zu einer gemeinsamen Aktion einstiger Mitglieder des Berliner Dada-Zirkels, die sich gegen die Leitung der Novembergruppe richtete. Der »Gegner«, die in Wieland Herzfeldes Malik-Verlag erscheinende Zeitschrift, druckt einen offenen Brief, in dem dem Vorstand der Novembergruppe vorgeworfen wird, seine ursprünglichen revolutionären Ziele an den Nagel gehängt zu haben und jetzt mit der Bourgeoisie gemeinsame Sache zu machen.252 Auslöser der Auseinandersetzung ist die Verweigerung der Novembergruppenleitung, zwei Arbeiten von Otto Dix und Rudolf Schlichter in der Großen Berliner Kunstausstellung im Rahmen der Gruppenpräsentation zu zeigen, da das Kultusministerium gegen die Werke Einspruch erhob.253 Otto Dix, George Grosz, Rudolf Schlichter, Thomas Ring, Raoul Hausmann, Hannah Höch und einige andere unterzeichnen den Brief und erklären aus Sicht der Novembergruppenleitung damit offiziell ihren Austritt. Dieser offene Brief wird Jahre später für Hannah Höch noch einmal für Verwicklungen sorgen. In der Zeit des Nationalsozialismus stellte ihre Unterschrift für sie eine massive Bedrohung dar.

      Anders als Raoul Hausmann beteiligt sich Hannah Höch in den folgenden Jahren immer wieder an Ausstellungsprojekten der Novembergruppe. Sie findet hier Freunde, wie die Maler Otto Freundlich und Thomas Ring. Die Präsentationen im Rahmen der Novembergruppe bieten ihr in den zwanziger Jahren die Chance, ihre Arbeiten in der Öffentlichkeit zu zeigen.

      Obwohl es im Sommer zu einem erneuten Zerwürfnis mit Hausmann kommt, das jetzt beiden zeigt, dass ihre Beziehung nach Hannah Höchs Italienreise im Herbst 1920 kaum noch aufrechtzuerhalten ist, und sie unabhängig voneinander den befreundeten Maler Arthur Segal um Vermittlung bitten, unternehmen Höch und Hausmann im September eine »Antidada-Merz-Presentismus«-Tour mit Kurt und Helma Schwitters nach Prag.254 Die Fahrt markiert den Beginn einer intensiven Freundschaft zwischen Hannah Höch und Kurt Schwitters (Abb. 8). Die freundschaftliche Beziehung zu den Schwitters wird Hannah Höch in der Zeit nach ihrer Trennung von Raoul Hausmann tragen. Was für viele Außenstehende wohl die letzte Möglichkeit gewesen zu sein scheint, nämlich den ständig teils unterschwellig, teils offen brodelnden Konflikt zwischen Hannah Höch und Raoul Hausmann zu lösen, vollzieht sich im Sommer 1922. Diesmal ist es nicht Hannah Höch, die versucht, die Beziehung zu beenden, sondern Raoul Hausmann. Bereits Anfang des Jahres hat er eine neue Frau kennengelernt, die Malerin Hedwig Mankiewitz. Im Frühjahr reicht er seine Scheidung ein und heiratet 1923 seine neue Partnerin.255

      Hannah Höch hat ihren Schmerz über diesen Schritt von Hausmann im September 1922 ihrem Tagebuch anvertraut, aus der Erinnerung an einen Spaziergang am Schlachtensee geschrieben:

      »Und nun trat ich aus der Böschung und meine Sinne begannen einen Erinnerungsreigen und tanzten rückwärts, blasse Tücher schwingend um eine feine Stunde an eben dieser Stelle. Auch war der Herbsttag so seltsam lächelnd – auch war der See geteilt in eine grüne und eine blaue Hälfte und – die Wasser deiner Beredsamkeit sprangen und erschütterten alle Grenzen und unser Blut sang, – da nahmst du ein Messer und schnittst ein Herz in jene Birke. Ein Herz – so wie August seiner Minna ein Herz in eine