Название | Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch |
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Автор произведения | Cara Schweitzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449479 |
Hannah Höch beginnt in der Fotomontage gängige Rollenbilder der Geschlechter in der Gesellschaft zu thematisieren. In der ebenfalls 1919 datierten Fotomontage »Bürgerliches Brautpaar« sind zwei Figuren vor die Bildausschnitte von Haushaltsgeräten montiert. Auf den Rumpf einer Frau im Badeanzug klebte Hannah Höch den Kopf eines weinenden Babys, das hilflos zur linken Seite aus dem Bild schaut. Der recht kräftige Körper wirkt mit seinen viel zu dünnen Beinchen in hohen dunklen Stiefeln unbeholfen. Währenddessen gibt sich der Mann in verzerrter Geste dem Sport hin. Doch so recht von der Stelle scheint der Sprinter nicht zu kommen. Vielmehr windet er sich unter einem viel zu großen Hut. Auch er hat das Haupt eines Kinderkopfes, der jedoch im Verhältnis zum athletischen Körper viel zu klein ist. Zwischen beiden Figuren entsteht keine Beziehung. Das Einzige, was sie zu verbinden scheint, ist ihre Sportkleidung, die Assoziationen an eine Wettkampfsituation hervorruft. Bereits in ihren ersten Dada-Montagen erweitert Hannah Höch das dadaistische Repertoire an Bildthemen um eine spitzfindig kritische Analyse der Alltagskultur.145
Revolution
Anfang November 1918 begann auch in Deutschland mit dem Aufstand der Kieler Matrosen die Revolution, die innerhalb weniger Tage auf fast alle deutschen Städte übersprang. Aufständische Soldaten und streikende Arbeiter bildeten Arbeiter- und Soldatenräte, die die Abdankung des Kaisers und aller Landesfürsten einforderten und die sofortige Beendigung aller Kriegshandlungen verlangten. Am 9. November 1918 ließ der Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die Abdankungserklärung Wilhelms II. veröffentlichen. Der Kaiser bestätigte sie erst mehrere Stunden später von seinem Aufenthalt im belgischen Spa aus, wohin er sich aus Berlin zurückgezogen hatte. Um die Mittagszeit des 9. November übertrug Max von Baden die Regierungsgeschäfte an Friedrich Ebert, den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Welche Staatsform Deutschland erhalten sollte, war noch offen, als Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstags aus die Republik ausrief und Karl Liebknecht auf dem Balkon des Berliner Schlosses die sozialistische Republik verkündete. Am 10. November wurde eine erste provisorische Regierung, der Rat der Volksbeauftragten, gegründet, zu dem zunächst Mitglieder der SPD und der von ihr abgespaltenen linksgerichteten USPD zählten. Ziel war es, Wahlen zur Nationalversammlung vorzubereiten, die die konstitutionelle Monarchie in Deutschland in eine demokratisch gewählte Ordnung überführen sollten. Einen Tag später unterzeichnete der Zentrumspolitiker und Staatssekretär Matthias Erzberger im Wald von Compiègne, in demselben Eisenbahnwaggon, in dem 1871 der Deutsch-Französische Krieg beendet worden war, ein Waffenstillstandsabkommen. Der Weltkrieg war zu Ende.
Hannah Höchs Eltern in Gotha sind besorgt über die Situation in Berlin und bitten ihre Tochter Hannah und ihren Sohn Friedrich um ein Lebenszeichen. Aus Gotha berichten sie: »Die ganz große Umwälzung ist auch bei uns in größter Ruhe u. ohne Blutvergießen verlaufen. Der Arbeiter- u. Soldatenrat hat 4 oder 5 Offiziere abgesetzt u. abgeschoben, und die ganze Militär- u. Civilverwaltung ist in seinen Händen. Bahnhof u. Post militärisch bewacht. Fernsprechamt und Telegraphie unter seiner Kontrolle. Vor Post u. Bahnhof 1 Paar Maschinengewehre. Ankommende Soldaten werden entwaffnet.«146 Hannah Höchs Mutter schickt ein Wäschepaket. Und Hannah Höch erkundigt sich bei ihrer Schwester Grete nach ihrem Befinden. Ihr Schreiben klingt deutlich enthusiastischer als der gesetzte Brief des Vaters: »Wir sind alle glücklich durch die gewaltigen Ereignisse hindurch gekommen, nun schreib mal fix dasselbe an uns. [...] und wir haben Frieden und eine neue Basis im zusammengebrochenen Europa, und nun weiter!!«147
Hannah Höch bewahrte Zeitungsartikel auf, die ihr historisch relevant erschienen, etwa die Rücktrittserklärung des Kaisers oder den Abdruck eines Lenin-Briefs an die deutschen Arbeiter und Soldaten auf einem Flugblatt, das ein Schutz-und-Trutz-Bündnis durch die Rote Armee ankündigt und das die Gründung einer Republik der Arbeiter- und Bauerndelegiertenräte fordert.
Auch wenn Franz Pfemfert am ersten Abend der Revolution die Mitarbeiter seiner Zeitschrift »Die Aktion« zu einer Versammlung einberief, zu der Raoul Hausmann auch Hannah Höchs Bruder Friedrich auffordert hinzugehen, können die Anwesenden an den ersten Berliner Dada-Aktionen in der folgenden Zeit keine einheitliche Linie finden, wie sie sich an den politischen Umwälzungen beteiligen wollen.148 Hausmann setzt sich vor allem mit der Stellung der Kunst in der revolutionären Gesellschaft auseinander. Den Expressionisten wirft er in seinem Aufsatz »Der Proletarier und die Kunst« vor, für die Arbeiterschaft lediglich Kunst mit pädagogischem und moralischem Anspruch bereitzuhalten. Er dagegen negiert die Funktionalisierung der Kunst. Sie sei aus einem Spieltrieb entstanden und gezielt nutzlos. Eine »Sonderkunst« für Proletarier lehnt er ab. Auch Arbeiter würden den neuen Sinn der Kunst verstehen und nach ihr verlangen. »Proklamieren wir den Anteil des Proletariers am Spiel, an der Veränderung und am Nutzlosen«, fordert Hausmann.149 Der Aufsatz erscheint im Februar 1919 in Paul Westheims Kunstblatt.
Dada wird in den Monaten der Revolution in der Öffentlichkeit vor allem durch Johannes Baader vertreten, der mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam macht. Am 17. November 1918 unterbricht er im Berliner Dom den Oberhofprediger Dryander von einer Empore herab. Als die Predigt beginnt, brüllt Baader in die mit Gläubigen vollbesetzte Kirche: »Einen Augenblick! Ich frage Sie, was ist Ihnen Jesus Christus? Er ist Ihnen wurst ...!« 150 Weiter kam er nicht. Die Zeitungen berichten am folgenden Tag, dass Frauen in Tränen ausgebrochen seien und die Gemeinde sofort mit dem Choral »Eine feste Burg ist unser Gott!« geantwortet habe. Baader wurde aus der Kirche geschmissen, verhaftet und von der Staatsanwaltschaft beschuldigt: »In einer Kirche, nämlich dem Dom zu Berlin beschimpfenden Unfug verübt, durch dieselbe Handlung durch Erregung von Unordnung den Gottesdienst einer im Staate bestehenden Religionsgemeinschaft, nämlich der evangelischen Landeskirche vorsätzlich gestört zu haben.«151 Im Sommer 1919 wurde er freigesprochen, da er zur Zeit der Tatbegehung einer »krankhaften Störung der Geistestätigkeit« unterlegen habe. Auch die zeitgenössische Presse interpretierte die Aktion Baaders vor allem als einen Klamauk des »Oberdada des Klubs Dada«. Doch wie ernst zu nehmen war Baaders Ansprache an die Gläubigen? Die Auseinandersetzung mit christlichem Gedankengut durchzieht Baaders Schriften, auch jene, die im Zusammenhang mit der Berliner Dadabewegung stehen. Dass zumindest einzelne Mitglieder von Dada auch im Religiösen nach Erneuung streben, bezeugt die Entwicklung Hugo Balls, Gründungsmitglied von Dada Zürich, der sich schon im Verlauf des Jahres 1916 vom Cabaret Voltaire zurückzieht und mit Emmy Hennings ins Tessin geht, um sich intensiv mit dem katholischen Glauben auseinanderzusetzen.152 Hannah Höch erinnert sich rückblickend, dass Hausmann seinen Freund-Feind Johannes Baader auch den »Schussenrieder