Название | Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch |
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Автор произведения | Cara Schweitzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449479 |
Auch die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte, die zwischen dem 16. und 20. Dezember 1918 in Berlin abgehalten wurde, sprach sich für Wahlen aus.154 Doch die Anhänger des Spartakusbundes, repräsentiert durch ihre Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, verfolgten ein anderes Programm. Sie wollten alle Macht den Räten übertragen. Ein aus den Räten gewählter Zentralrat sollte die oberste Staatsgewalt darstellen und die Wirtschaft sollte in staatliche Hände übergeben werden. Ihr Ziel hofften sie mit Streiks durchzusetzen. Bereits um die Weihnachtszeit kam es in Berlin zu Auseinandersetzungen, die im Auftrag der SPD-geführten Übergangsregierung von Truppen der Armee blutig beendet wurden.155 Im Januar fanden die Kämpfe zwischen Spartakisten, die sich mittlerweile in der neu gegründeten KPD versammelten, und der Armee ihren Höhepunkt. Auf Befehl des Sozialdemokraten und Volksbeauftragten Gustav Noske schlugen rechtsgerichtete Freikorpseinheiten die Streikenden brutal nieder. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden von Freikorpsoffizieren ermordet. Die blutige Niederschlagung sollte der regierenden SPD in weiten Teilen der Arbeiterschaft massives Misstrauen einbringen.
Raoul Hausmann, der sich selbst einen Anarchisten nennt, positioniert seine Haltung zum Kommunismus neu, als Entgegnung zu Lenins Polemik gegen den Anarchismus. In Artikeln wie »Zu Kommunismus und Anarchie«, die Raoul Hausmann in der unter anderem von Salomon Friedlaender neu gegründeten Zeitung »Der Einzige« publiziert, verteidigt er den Anarchismus als höchste gesellschaftliche Stufe, die das Ich befreie.156 Den Kommunismus hält Hausmann für einen Kompromiss und eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Befreiung aller Individuen.
Am 19. Januar 1919 finden die ersten freien Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung statt. Erstmals in der deutschen Geschichte besitzen Frauen und Männer gleichberechtigt Wahlrecht. Die Nationalversammlung, aus der die SPD als stärkste Fraktion hervorgeht, wählt am 11. Februar Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten der Republik. In der Folge der Unruhen in Berlin verlagert die Nationalversammlung ihren Versammlungsort in das Weimarer Nationaltheater, wo die Verfassung für den neuen deutschen Staat ausgearbeitet wird. Weimar bietet sich aus militärischen Gründen als sicherer Rückzugsort für die sich bedroht fühlenden Parlamentarier an, und zugleich verbindet die Heimatstadt von Goethe und Schiller sich mit den humanistischen Idealen der Weimarer Klassik, in deren Tradition die Verfassungsväter ihre neue Ordnung gern stellen. Dieser Impetus der Weimarer Nationalversammlung bietet den Dadaisten ihre Angriffsflächen. Erneut ist es Johannes Baader, der die Polemik gegen Weimar aus den Kreisen der Dadaisten auf den Punkt bringt.
Zeitgleich mit der ersten Sitzung im Weimarer Nationaltheater ruft Baader in einer Kneipe, dem Kaisersaal des Rheingold in der Bellevuestraße im Berliner Tiergarten, sich selbst zum »Oberdada als Präsident des Erdballs« aus. Angekündigt hatte er den dadaistischen Putsch durch eine Presseerklärung. In einem Flugblatt, das sich in Höchs Nachlass befindet und das gezielt mit orthographischen Fehlern sowie typographischen Experimenten gespickt ist, kündigt er Neuwahlen an. Durch diese Wahlen soll ein Genie auserkoren werden, »das wir in irgend einer Schicht unseres Volkes endlich doch und doch hervorgebracht haben müssen, wenn wir nicht schon jetzt eine abgestorbene Rasse sein sollen«. Er drohte Weimar in die Luft zu sprengen. Unterzeichnet ist das Flugblatt von Baader, Hausmann, Tristan Tzara, George Grosz, Marcel Janco, Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Franz Jung, Eugen Ernst und A. R. Meyer.157
Der Kampf gegen die Weimarer Republik, die aus der Perspektive der Dadaisten eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft verhindert, schweißte die Gruppe zusammen und provozierte weitere Aktionen. Einige Monate später übertrumpft sich Baader selbst mit einer der für ihn typischen grotesken Aktionen. Am 26. Juli 1919 wirft er Flugblätter in den Plenarsaal der Nationalversammlung. Hausmann kommentierte Baaders Intervention in seinen Erinnerungen: »Wieder unterbrach er von einer Tribüne des Sitzungssaales aus die Verhandlungen und warf große Mengen eines Flugblattes, das er verfasst hatte, Die grüne Leiche, in die Versammlung. Dies wurde selbst im amtlichen stenographischen Bericht der Volksversammlung erwähnt, und selbstverständlich ereiferten sich die Zeitungen darüber.«158
In der Zeitschrift »Der Einzige« erscheint ein »Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung«, das Hausmann verfasst hat und das alle Dadaisten unterzeichnen. Damit bringen sie ihre gemeinsame Antihaltung gegen die Gesellschaft der jungen Weimarer Republik zum Ausdruck – trotz ihrer ansonsten sehr unterschiedlichen Vorstellungen über das, was Politik sein sollte.159 Der Schluss des Manifestes liest sich wie eine Selbstdefinition des Club Dada:
»Der Dadaismus hat als einzige Kunstform der Gegenwart für eine Erneuerung der Ausdrucksmittel und gegen das klassische Bildungsideal des ordnungsliebenden Bürgers und seinen letzten Ausläufer, den Expressionismus gekämpft!
Der Club Dada vertrat im Kriege die Internationalität der Welt, er ist eine internationale, antibourgeoise Bewegung!
Der Club Dada war die Fronde gegen den ›geistigen Arbeiter‹, gegen die ›Intellektuellen‹!
Der Dadaist ist gegen den Humanismus, gegen die historische Bildung! Er ist: Für das eigene Erleben!!!«160
Ende April 1919 findet am Kurfürstendamm 232, in den Räumen des graphischen Kabinetts von I. B. Neumann, eine nur drei Tage laufende Ausstellung der Berliner Dadaisten statt, an der unter anderem George Grosz, Jefim Golyscheff, Walter Mehring und Raoul Hausmann sowie Hannah Höch beteiligt sind. Hannah Höch präsentiert abstrakte Aquarelle wie die »Konstruktion in Blau« von 1919, eine auf die Grundfarben Blau, Rot und Gelb sowie auf Schwarz konzentrierte Komposition, in der die Künstlerin das Verhältnis von Fläche und Linie thematisiert. Lineare Farbbalken und farbige Flächen überschneiden sich und liegen zu einer knotenartigen Struktur verdichtet im Zentrum des Blattes. Auf diese Weise entsteht eine komplexe räumliche Wirkung. Im Rahmen einer Analyse der aktuellen Entwicklung des künstlerischen Lebens in Berlin rezensiert der Architekt und Kunstkritiker Adolf Behne für die Zeitschrift »Die Freiheit«, das Parteiorgan der USPD, die Ausstellung und hebt Hannah Höchs Beiträge positiv hervor. »Hannah Höch und namentlich Jefim Golyscheff zaubern fabelhafte Ornamente«, kommentiert Behne.161 Wenig später wird zwischen ihm und Hannah Höch eine Freundschaft entstehen, die bis zu Behnes Tod 1948 halten wird. Die Presse stürzt sich mit ihrer Kritik vor allem auf George Grosz’ satirisches Bild »Deutschland ein Wintermärchen«. Vor dem Hintergrund einer in verschiedene perspektivische Ansichten zersplitternden Stadtansicht hockt im Zentrum des Gemäldes ein Reserveoffizier in grüner Uniform an einer Tischplatte. Mit erhobenen Händen hält er sein Besteck und scheint gerade anzusetzen, um den servierten Braten vor ihm auf dem Tisch zu verspeisen. Grosz hat neben Lebensmittelkarten auch Zeitungsausschnitte in das Gemälde montiert. Am unteren Bildrand tauchen die Büsten eines Priesters, eines Offiziers und eines Professors auf, der in Anspielung auf Weimar seinen Goethe unter den Arm geklemmt hat. Die drei ehrwürdigen Herren stellen als Repräsentanten von Kirche, Militär und Beamtentum die Stützen der neuen, von den Dadaisten angefeindeten Weimarer Republik dar. »Grosz zerbricht den alten Menschen. Sein Bild ›Deutschland, ein Wintermärchen‹ ist eine glänzende Satire auf die feldgraue Gegenwart (das Bild wurde vor dem November gemalt!)«, kommentierte Behne in seinem Artikel.162 Gleich zu Beginn seiner Rezension betont Behne, dass die Galerie, in der die Dadaisten ihre Arbeiten präsentieren, die momentan »wagemutigsten« Ausstellungen in Berlin zeigt. Kurz zuvor hatte Neumann die »Ausstellung für unbekannte Architekten« ausgerichtet, die der »Arbeitsrat für Kunst« veranstaltete. Neben Adolf Behne, der auch Vorsitzender im Arbeitsrat für Kunst war, hatten unter anderem die Architekten Bruno Taut und Walter Gropius die an den Arbeiter- und Soldatenräten orientierte Vereinigung mitbegründet, die in ihrem Programm eine Erneuerung in allen Bereichen der Kunst einfordert.163 Im Zentrum des Interesses stand die neue Rolle der Kunst in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Eine Forderung lautet, Künstler sollen zukünftig auf individuelle Unterschriften verzichten und nur noch die anonymere Form des Signets zur Kennzeichnung ihrer Werke wählen. Die Vereinigung setzt sich für den Austausch der künstlerischen Gattungen ein, die zu einem Gesamtkunstwerk zusammengefasst werden sollten. Hannah Höch hat die Anfänge des Arbeitsrates für Kunst verfolgt.