Ernst Happel - Genie und Grantler. Klaus Dermutz

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Название Ernst Happel - Genie und Grantler
Автор произведения Klaus Dermutz
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783895339356



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der Spielbetrieb nach dem Zweiten Weltkrieg wieder beginnt, muss sowohl eine Balance innerhalb der Mannschaft wie auch zwischen Sport und Beruf gefunden werden. Die Hierarchie zwischen den Stars und den Nachwuchskräften, die den Sprung in die 1. Mannschaft schaffen, ist klar geregelt. Die Rapid-Legende Alfred Körner erinnert sich, dass er Franz »Bimbo« Binder ein halbes Jahr lang mit »Sie« ansprach, bevor der Stürmer und Star der Medien ihm das »Du« anbot.

      Neben dem Fußballsport gehen die Spieler, wie »Körner II« erzählt, einer regelmäßigen Arbeit nach: »Ich habe immer nebenbei gearbeitet. Bei Rapid hat es immer geheißen: ›Geh auch noch etwas hackeln.‹ Über Rapid habe ich einen Job bei der Niederösterreichischen Landesregierung bekommen, gemeinsam mit Ernst Happel. Mein Bruder war in der Bibliothek, der Merkel in der Reifen-Abteilung bei der Ausgabe. Ich war zum Beispiel im Kultur-Referat (…). Bei Auslandsreisen hat mich das Land NÖ (Niederösterreich, Anm. d. A.) immer freigestellt. Insgesamt waren wir sieben von Rapid. Die anderen waren beim Gas- und beim E-Werk, aber da war für uns kein Platz mehr frei. Bei Rapid muss man viel arbeiten – ganz allgemein, weil jeder die Rapid schlagen will. Das war schon in unserer Jugend so. Da haben wir es nicht immer leicht gehabt. Im Kabinen-Bereich haben wir einen Kessel mit 200 Liter Warmwasser gehabt. Da sind dann die Alten zuerst zum Duschen drangekommen und am Ende wir – wenn es nur noch kaltes Wasser gegeben hat. Beim Massieren bist auch als Letzter drangekommen. Aber wehe, wenn Du früher gegangen wärst! Da hätte es ein Tamtam gegeben. Weil da war ja alles viel disziplinierter. Von nichts kommt nichts. Zum Beispiel die Rapid-Viertelstunde – bei uns hat man immer bis zum Ende alles geben müssen, das war die Mindestvoraussetzung. Für den zahlenden Zuschauer, der dann hinter dir steht, wäre es ein Affront gewesen, wenn du nicht alles gibst. Das Ergebnis war erst an zweiter Stelle, wichtiger war das Probieren, der Kampfgeist. Wir sind noch auf 80 Spiele im Jahr gekommen und heute jammern’s bei 45.«9

      Renommierte Spieler erhalten, da in Österreich in den 1950er Jahren keine Profis erlaubt sind, bei staatlichen Institutionen eine Anstellung. Happel wird wie Alfred Körner bei der Niederösterreichischen Landesregierung untergebracht, ist der Abteilung »Urgeschichte« zugeordnet, dürfte aber, wie Teja Fiedler 1983 im Stern (1.6.1983) anmerkt, seinen Schreibtisch höchstens zwei Stunden am Tag gesehen haben, »und oft mit schweren Lidern, wenn die Nacht am Spieltisch lang gewesen war«.

      Alfred Körners Lieblingsregisseur ist Franz Josef Antel, ein Heimatfilmer, der über 100 Spielfilme mit ausgeprägtem Hang zur Unterhaltung drehte und sich bei internationalen Koproduktionen François Legrand nannte. Happels Filmliebling ist der Grantler Hans Moser, er sei jedoch, betont er 1987, nicht so geizig wie dieser Schauspieler.

       »Busenfreund« Zeman

      Bei Rapid wird Happels engster Freund der Torwart Walter Zeman, der ihm von allen Rapid-Spielern aufgrund einer ähnlichen Mentalität am nächsten steht. Zeman ist ein Kind aus Favoriten. Wie die Sozialhistoriker Michael John und Albert Lichtblau berichten, hat der grandiose Keeper einen tschechischen Vater und besitzt somit die tschechische Staatsbürgerschaft. Obwohl dies im Wien der NS-Zeit untersagt war, habe Zeman als Protektoratsangehöriger spielen können: »1945 suchte Zeman sofort um die österreichische Staatsbürgerschaft an und erhielt sie, offensichtlich wegen bürokratischer Schlamperei, erst 1947 — ihm wurde in dieser Zeit sogar ein Bescheid zugesandt, dass er Österreich innerhalb von 48 Stunden verlassen müsse.«10

      Beim kleinen Favoritner SV Wienerberger beginnt Zeman seine Karriere. 1945 wechselt er 18-jährig vom Favoritner Erstligaklub FC Wien zu Rapid. Dort setzt er sich rasch gegen den starken Konkurrenten Josef Musil durch und wird zum Stammtorhüter. Bereits in seiner ersten Saison bestreitet er 19 Meisterschaftsspiele und steht viermal im Cup zwischen den Pfosten. Happels erster Nachkriegseinsatz erfolgt am 27. März 1946 beim 10:0-Sieg gegen Ostbahn XI.

      Happel und Zeman, die beiden Ausnahmekönner, werden ein legendäres Freundespaar. Anfang der 1990er Jahre setzt Happel Zeman ein Denkmal, es klingt wie eine Liebeserklärung: »Mein Tormann, Busenfreund, Schlafgenosse, nur getrennt durch meine 26 Jahre im Ausland. (…) Wir haben acht Jahre zusammen gespielt, mindestens 35 Matches pro Jahr, viel gewonnen, viel gefeiert. Kennst seinen alten Spruch? Nach Mitternacht trinkt der Tiger nur Champagner… Wir waren ein unzertrennliches Paar, am Feld und außerhalb. Zeman war erstens leichtathletisch durchgebildet von der tschechischen Sokol-Schule: einer der schnellsten Fußballer, die es je gab. Schneller als Melchior (Ernst Melchior, von 1946-1953 Stürmer der Wiener Austria und des Nationalteams, genannt der »G’scherte«, Anm. d. A.) über 100 Meter – wenn’s im Training um einen Preis ging. Wenn nicht, hat ein anderer gewonnen. Und dann hatte er unglaubliche Reflexe auf der Linie. Beim 1:1 in Budapest haben die Ungarn auf ihn eingeschossen, von drei, vier Metern, unglaublich: Er fliegt von einer Ecke in die andere – und die Ungarn verzweifeln. (…) Er hat große Spiele geliefert. Seine Hauptstärke: Die Reflexe und Reaktionen. Enorme Sprungkraft, geflogen wie ein Gummiball, hoch heruntergekommen, hat sich geschmissen und ist gleich wieder gestanden.«11

      Zeman wird als »Tiger von Budapest« und »Panther von Glasgow« gefeiert. Er ist wie Happel ein schlampiges Genie, das nur seine enormen Leistungen abruft, wenn es wirklich darauf ankommt. Ansonsten geben sich die beiden auf dem Rasen allerlei Kunststücken hin. Bisweilen prüft Happel seinen Hintermann mit harten Schüssen. Der Keeper lässt es sich meistens nicht nehmen, die verfluchten »Rückgaben« zum Amüsement der Zuschauer mit glanzvollen Paraden zu parieren. Gelingt Happel dennoch ein Eigentor, schmäht er den Torwart mit einem frechen Spruch, der auf Zemans Herkunft anspielt: »Heast Böhmischer, den Schuss hätte ich mit mein Kapperl rausg’haut.« Oder er ruft dem Keeper zu: »Sei froh, dass i di net am Kopf dawischt hab, sonst wärst totgangn.«

       »Genie mit dem Ball«

      Für den Sportjournalisten Walter Smekal ist Happel als Fußballer »immer ein Genie mit dem Ball« gewesen, »nie ein Athlet«: »Er hat auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er den Spielwitz mehr schätze als den athletischen Fußballer, der, wie er sagte, zwar ›wie ein Wilder rennt, aber das Hirn in der Garderobe vergessen hat.‹« Auf Smekals Frage, wie er als Verteidiger mit den Sprintern ausgekommen sei, antwortet Happel: »Eigentlich hab’ i in Österreich mein Hetz’ g’habt mit den Rennern! Da war zum Beispiel der Pepi Epp vom Sportklub, einer der schnellsten 100-Meter-Läufer Österreichs. Ich hab’ nur g’lauert auf den Pass, und natürlich ist der Ball dem Pepi mindestens fünf Meter vom Fußerl g’sprungen, da war i schon am Ball!« Und wenn der Ball dem Gegner nicht vom Fußerl gesprungen ist?, fragt Smekal nach, und Happel gibt die lakonische Antwort: »Na ja, das war a Pech, dann war er halt furt in Richtung auf unser Goal!«12

      Vom Soziologen Georg Simmel stammt eine Überlegung zur Deutung des Geniebegriffes, die man auf Happel und Zeman anwenden kann, weil sie Eigenschaften von den Tschechen übernommen haben, die um die Jahrhundertwende nach Wien gekommen waren. Für Simmel braucht das Genie viel weniger zu lernen als der gewöhnliche Mensch bei gleichartiger Leistung, es weiß »Dinge, die es nicht erfahren hat – dieses Wunder scheint auf eine ausnahmsweise reiche und leicht ansprechende Koordination vererbter Energien hinzuweisen. (…) Der besonders ›begabte‹ Mensch wäre demnach derjenige, in dem ein Maximum von Arbeit seiner Vorfahren in latenter und zur Weiterverwertung disponierter Form aufgehäuft ist; so dass der höhere Wert, den die Arbeit eines solchen durch ihre Qualität besitzt, im letzten Grunde auch auf ein quantitatives Mehr von Arbeit zurückgeht, das er freilich nicht persönlich zu leisten brauchte, sondern dem er nur durch die Eigenart seiner Organisation das Weiterwirken ermöglicht.«13

      Zu dieser Sichtweise kann man noch die des Soziologen Norbert Elias hinzufügen. Ähnlich wie Simmel sieht auch Elias ein Genie nicht als ein isoliertes Individuum. Am Beispiel von Mozarts Werdegang stellt er fest: »Man begegnet nicht selten der Vorstellung, dass die Reifung einer ›genialen Begabung‹ ein selbsttätiger, ›innerer‹ Prozess sei, der sich gleichsam in Isolation vom menschlichen Schicksal des betreffenden Individuums vollziehe. (…) Diese Trennung ist künstlich, irreführend und unnötig. Der heutige Stand unseres Wissens erlaubt es zwar noch nicht, die Zusammenhänge zwischen der sozialen Existenz und den Werken eines Künstlers wie mit einem Seziermesser offenzulegen, aber man kann sie mit der Sonde ausloten.«14