Ernst Happel - Genie und Grantler. Klaus Dermutz

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Название Ernst Happel - Genie und Grantler
Автор произведения Klaus Dermutz
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783895339356



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den 13. März 1938 ist eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs geplant. Drei Tage vor diesem Termin lässt Hitler die Volksabstimmung absetzen und Pläne für den Einmarsch der deutschen Soldaten in Österreich ausarbeiten.

      Im »Berchtesgardener Abkommen« vom 12. Februar 1938 hat Bundeskanzler Schuschnigg Hitlers massivem Druck nachgegeben. Die österreichische Außenpolitik wird bereits von Hitler kontrolliert. Am 12. März 1938 wird der »Anschluss« Österreichs in die Tat umgesetzt. Unter dem Jubel großer Teile der österreichischen Bevölkerung marschieren die deutschen Soldaten in den Morgenstunden ein und machen Österreich kampflos zur »Ostmark«. Deutsche und österreichische Zollbeamte schaffen mit vereinten Kräften den Grenzbalken aus dem Weg. Im Triumphzug fährt Hitler über Linz nach Wien. Am späten Vormittag des 15. März 1938 erklärt Hitler in einer »Vollzugsmeldung vor der deutschen Geschichte« vom Balkon der Neuen Hofburg der jubelnden und dicht gedrängten Menge von 250.000 Menschen auf dem Heldenplatz: »Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich! Sieg Heil!«

      Reichstrainer Sepp Herberger will, dass Bican wie Sindelar in der neu zu bildenden »reichsdeutschen« Auswahl spielen. Beide Spielerpersönlichkeiten lehnen ab, sie haben ihre internationale Karriere schon beendet. Bican spielte von 1933 bis 1936 (19 Spiele, 14 Tore) in der Nationalmannschaft, Sindelar von 1928 bis 1937 (43 Spiele, 26 Tore). Nach Wolfgang Maderthaner hat der technisch brillante Sindelar die Einladungen zu den »Reichslehrgängen« nicht einmal ignoriert. In Der »papierene« Tänzer. Matthias Sindelar, ein Wiener Fußballmythos zitiert Maderthaner die abfällige Äußerung des Reichstrainers Sepp Herberger über den Stürmer: »Das soll ein Fußballer sein?«23

      Der Schüler Happel lehnt den »Anschluss« ab. Er registriert im Frühjahr 1938 die politischen Veränderungen genau und spürt im alltäglichen Leben die Beklemmung und die Angst, die sich in seiner Familie breitzumachen beginnen. Er hat nichts für den militärischen Drill und die preußischen Ideale übrig, die mit Hitlers Machtübernahme in Österreich Einzug halten.

      Die dramatischen politischen Entwicklungen betrachtet Happel aus der Perspektive der tschechischen Minderheit. Karl Brousek zeigt in seiner Analyse ›Die falschen Behm‹ – Vom Widerstand der Wiener Tschechen, welche Folgen der »Anschluss« für die tschechische Bevölkerungsgruppe hatte: »Für die in Wien lebenden Tschechen – zu einem Großteil Arbeiter und kleine Gewerbetreibende – bedeutete der ›Umsturz‹ eine radikale Einengung ihres gesellschaftlichen Lebens. Sozialdemokratische und kommunistische Vereine wurden aufgelöst. (…) Den ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich erlebten die Wiener Tschechen als einen Schock. Kurz vor dem Einmarsch gab es noch Demonstrationen, an denen sich viele Wiener Tschechen beteiligten. (…) Nach dem ›Anschluss‹ 1938 waren die Erhaltung der Schulen (…) und die Weiterexistenz der tschechischen Presseorgane die Prioritäten der Minderheitenpolitik. Ein Gefühl des Unbehagens aufgrund der neuen politischen Machthaber und die Befürchtung, dass der Spielraum für die Minderheit noch enger und restriktiver werden würde, erfasste den Großteil der Wiener Tschechen. Bei einigen machte sich zudem eine unterschwellige Angst vor einer möglichen Aussiedlung breit. (…) Unmittelbar nach dem ›Anschluss‹ wurde das tschechoslowakische Generalkonsulat in Wien von tschechoslowakischen Staatsangehörigen umlagert, unter ihnen auch viele Juden. Sie baten um Schutz und Hilfe für die Heimkehr.«24

      Ein Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Nationen und Kulturen lehnte Hitler ab. Im Rückblick auf seine Zeit in Wien fand Hitler »wenig Gefallen an der Multikulturalität der Donaumetropole«25, wie Brousek erläutert, der in dem Zusammenhang auf folgende Passage in Mein Kampf verweist: »Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt zeigte, widerwärtig dieses ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben und Kroaten usw., zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien diese Riesenstadt als Verkörperung der ›Blutschande‹.«26

      Drei Wochen nach dem »Anschluss«, am 3. April 1938, findet in Wien ein »Versöhnungsspiel« statt, in dem sich die »Ostmark« mit der reichsdeutschen Auswahl misst. Sindelar erzielt nach der Pause die hochverdiente Führung, und sein Freund »Schasti« Sesta hämmert aus 45 Metern einen Freistoß zum 2:0-Sieg ins Netz.

      Die Volksabstimmung wird vier Wochen nach der »Wiedervereinigung Österreichs mit dem deutschen Reich« nachgeholt. Auf den Stimmzetteln, die am 10. April 1938 ausliegen, ist der »Ja«-Kreis doppelt so groß wie der »Nein«-Kreis. Prominente Schauspielerinnen und Schauspieler des Burgtheaters werben für den »Anschluss«, unter ihnen Paula Wessely und Attila Hörbiger, der seine Entscheidung im ersten Aprilheft der Wiener Bühne mit den Worten begründet: »Wir Künstler sind froh und stolz, am neuen großdeutschen Werk mitarbeiten zu können, und werden uns am 10. April einmütig zu unserem Führer bekennen!«

      Rapid kommt bei der Gleichschaltung mit der NS-Ideologie eine große Bedeutung zu. Der Umbau auf der Vereins- und Verbandsebene geht, wie Jakob Rosenberg und Georg Spitaler in ihrer Studie Grün-Weiß unterm Hakenkreuz ausführen, schnell voran: »In der Werbung zum ›Ja‹ für die Volksabstimmung am 10. April wurden in den Zeitungen auch zustimmende Botschaften prominenter Sportler und Sportlerinnen abgedruckt. Darunter war ›die letzte Auswahlelf Deutschösterreichs‹. Im Fußball-Sonntag wurden die Unterschriften der Fußballteamspieler (›Wir und mit uns 600.000 deutsche Fußballer stimmen mit Ja!‹) abgedruckt, darunter die Rapid-Spieler Franz Binder, Hans Pesser, Stefan Skoumal und Franz Wagner.« 27

       Tod eines Fußballspielers

      Am 23. Januar 1939 wird der 36-jährige Sindelar in der Wiener Innenstadt, in der Annagasse 3, tot aufgefunden. Die gleichgeschaltete Polizei und die Gutachten der gleichgeschalteten Sachverständigen kommen zum Ergebnis, der Fußballstar sei Opfer einer Kohlenoxydgasvergiftung. Anderen Berichten zufolge soll das Ofenrohr nicht defekt gewesen sein. Sindelars Freundin Camilla Castagnola, eine Italienerin jüdischer Herkunft und katholischer Konfession, stirbt einen Tag nach Sindelar, sie kommt nicht mehr zu Bewusstsein.

      Sindelar galt in den 1930er Jahren als bester Fußballer der Welt. Als Kind hat Happel Fußballbilder gesammelt, die in den Schokoladenpackungen in Staniolpapier eingewickelt waren. Er hat sie, wie er Heinz Prüller erzählte, »schön und sauber« eingeklebt und sich mit einem weißen Fotostift Autogramme aller Fußballer geholt. Von Sindelar hatte er sogar 20 Fotos. Als der Krieg begann, musste er sie alle eintauschen, um den Hunger zu stillen.

      Der Tod des einstigen Idols ist für Happel der Selbstmord eines in die Enge getriebenen Menschen, dessen Freundin von den Nazis enteignet und verfolgt wurde: »Seine Freundin, eine Jüdin, hatte ein Kaffeehaus. Alles hat man ihr weggenommen – der Hitler war ja schon da. Worauf die beiden beschließen, sich in der Wohnung anzutrinken – und dann das Gas aufzudrehen. Als Hilfe kommt, ist Sindelar schon tot. Seine Freundin atmete noch, aber weil sie Jüdin war, hat man sie sterben lassen. Das weiß ich von sehr authentischen Leuten.«28

      Alfred Polgar schreibt in seinem Nachruf »Abschied von Sindelar«, der zwei Tage nach dem Tod des Fußballspielers auf der dritten Seite der Pariser Tageszeitung (25.1.1939) erscheint: »Er spielte Fußball, wie ein Meister Schach spielt: mit weiter gedanklicher Konzeption, Züge und Gegenzüge vorausberechnend, unter den Varianten stets die aussichtsreichste wählend, ein Fallensteller und Überrumpler ohnegleichen, unerschöpflich im Erfinden von Scheinangriffen, denen, nach der dem Gegner listig abgeluchsten Parade, erst der rechte und dann der unwiderstehliche Angriff folgte. Er hatte sozusagen Geist in den Beinen, es fiel ihnen, im Laufen, eine Menge Überraschendes, Plötzliches ein, und Sindelars Schuss ins Tor traf wie eine glänzende Pointe, von der aus erst der meisterliche Aufbau der Geschichte, deren Krönung sie bildete, recht zu verstehen und zu würdigen war.«

      Der aus einer Prager jüdischen Familie stammende Friedrich Torberg veröffentlicht das Gedicht Auf den Tod eines Fußballspielers, das mit folgendem Vers beginnt und schließt: »Er war ein Kind aus Favoriten / und hieß Matthias Sindelar«. Auch Torberg vertritt in seinem Gedicht die Ansicht, dass Sindelar sich umgebracht hat – in einem letzten Protest gegen das NS-Regime: »Es