Die Oslo-Connection - Thriller. Olav Njølstad

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Название Die Oslo-Connection - Thriller
Автор произведения Olav Njølstad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726344127



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      Sie rollte das Dokument zusammen und schob es vorsichtig in den Hohlraum der Prothese. Sobald das Dokument »archiviert« war, richtete sie die Prothese wieder aus und schnallte sie fest.

      Der Rest des Tages war das reinste Schauspiel.

      Sie tat so, als ob sie las. Machte eifrig Notizen über nichts. Ließ sich neue Archivmappen kommen und versuchte, so gut es ging, konzentriert und zielbewusst auszusehen. Doch ihre Gedanken waren die ganze Zeit über an anderen Orten. Die Zeiger der Uhr an der Wand konnten nicht schnell genug auf die Vier rücken.

      Als Løvdal schließlich in der Tür auftauchte und sagte, er müsse jetzt schließen, drückte sie ihr Bedauern darüber aus, diese hochinteressante Notiz über den Strontium-90-Gehalt in der Rentierflechte auf der Finnmarksvidda jetzt nicht zu Ende studieren zu können.

      Sie fiel keine Sekunde aus der Rolle. Doch dass alles so problemlos ging, war sicher auch darauf zurückzuführen, dass Løvdal eine Überraschung für sie hatte, die sie rasch auf andere Gedanken brachte.

      »Ich habe mit Richard Klüger gesprochen«, sagte er ihr, vor Stolz fast platzend. »Er möchte Sie gerne treffen. Soll ich ihn noch einmal anrufen und ihm mitteilen, dass Sie heute Abend um acht zu ihm nach Vindern kommen?«

      »Super. Grüßen Sie ihn und sagen Sie ihm, dass ich mich freue!«

      Sie ging zur Tür.

      »Nur noch eine Sache«, rief Løvdal ihr nach. »Ich habe in der Physik angerufen und gebeten, die Kataloge über die Fallout-Proben zu checken. Nach unseren Angaben müsste sich die Probe, die Sie angesprochen haben, noch in unserem Lager im Keller befinden.«

      »Aber ich habe doch gesehen, dass sie nicht da war«, antwortete sie leicht resigniert. »Jedenfalls steht sie nicht an ihrem Platz.«

      »Ich weiß«, sagte Løvdal und rang nach Atem. Er saß mit angehobenen Beinen da und war mitten in einer weiteren Reihe von Übungen. »Ich war drüben und hab nachgesehen, aber vergeblich. Ich werde morgen weitersuchen.«

      Etwas in seiner Stimme verriet ihr, dass er nicht damit rechnete, sie zu finden.

      22

      Eva Tamber war aus der Kajüte an Deck gekommen, stützte sich mit den Händen an der Reling ab und sah an Land. Es war ein traumhafter Wintertag, sechs, sieben Minusgrade, wolkenloser Himmel und kaum Wind. Sie war gut gelaunt nach der schnellen und unkomplizierten Reise mit dem Linienflug nach Alta und von dort weiter mit einer zweimotorigen Widerøe-Maschine nach Hammerfest. Die ganze Reise hatte nicht einmal drei Stunden gedauert. Jetzt, eine knappe Stunde nach ihrer Ankunft, waren sie und die Polizeibeamten bereits auf dem Weg nach Ingøy, dem letzten Landzipfel vorm offenen Meer, um das Heim von Enok Paulsen, dem ermordeten Robbenfänger, der ohne Stiefel zwischen ein paar Ufersteinen gefunden worden war, unter die Lupe zu nehmen. Ingøy gehörte zwar zum Polizeibezirk Havøysund, da Paulsen aber in Sørøya an Land getrieben worden war und bisher niemand wusste, wo er umgebracht wurde, beschloss man, die lokalen Ermittlungen von der Polizeikammer in Hasvik leiten zu lassen. Bei Bedarf konnte man immer noch die Polizei aus Havøysund hinzuziehen.

      Sie hatte selten etwas so Schönes gesehen. Die schneebedeckten Inseln ragten aus dem schwarzen Wasser wie die scharfen Zähne im Maul eines Eisbären. Der Himmel war rußig grau. An manchen Stellen stürzten die nackten Felsen so steil ins Meer ab, dass der Schnee nicht liegen blieb. Einige Felsvorsprünge zierten Seevögel, die aufgeregt kreischten und aufflogen, als das Boot vorbeituckerte.

      Tamber lächelte in sich hinein. An Tagen wie diesen wusste sie mit Sicherheit, dass sie Norwegerin war. In der Großstadt war sie sich da nicht immer so sicher. Dort war sie bestenfalls irgendwer von irgendwoher. Aber hier draußen auf dem offenen Meer, wo sich einem die strenge Schönheit der arktischen Natur darbot, ohne als Gegenleistung zu fordern, geliebt zu werden, fühlte sie sich merkwürdig heimisch. Vielleicht hatte es ja doch einen tieferen Sinn, dass sie hierher geraten war, auf die falsche Seite des Globus? Vielleicht würde sie sich auf den weiten, dampfenden Reisfeldern Koreas erst recht verloren fühlen?

      Sie umrundeten eine Landzunge. Vor ihr öffnete sich ein schmaler Fjordarm mit ein paar verstreuten Schären und Holmen. Ganz am Ende, verborgen hinter einer schneebedeckten Baumgruppe, lag ein rot gestrichenes Haus mit Schieferdach und grünen Fensterläden. Ein idyllischer Platz, mit eigener Fahnenstange und eigenem Bootsanleger. Die wenigen Häuser, die im näheren Umkreis zu sehen waren, wirkten leer und verlassen. Einige waren buchstäblich dabei, zu verfallen. Es war nicht viel, was an die guten alten Tage des Wohlstands erinnerte, als Ingøy noch wirtschaftliches Zentrum der Region war mit seinen Fischerdörfern, Garnsiedereien und eigenen Großkaufleuten. Vor siebenhundert Jahren war die inzwischen fast entvölkerte Insel die Hauptstadt der Finnmark!

      »Mafjord«, sagte Polizeimeister Svein Moe, der Eva an Deck gefolgt war. Jetzt stand er neben ihr und zeigte mit einem kolossalen Lederfausthandschuh übers Wasser. »Vor weniger als hundert Jahren pulsierte hier noch das Leben: Fischerdörfer, Boote, Walfang. Da hinten auf der anderen Fjordseite sehen Sie die Überreste der letzten Walfangfabrik. Aber trotz der üppigsten Fischgründe des Landes direkt vor der eigenen Haustür können die Leute es sich nicht leisten, hier wohnen zu bleiben. Heutzutage wird der Fischfang mit Fabrikschiffen und Trawlern betrieben, während die Kutterfischer ums nackte Überleben kämpfen.«

      »Ich habe in der Touristenbroschüre gelesen, dass Ingøy 330 Sturm- und Windtage im Jahr hat«, sagte Tamber, um das Gespräch in Gang zu halten. »Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn die Leute wegziehen?«

      Sie schwiegen und beobachteten einen Schwarm Kormorane, der auf der Jagd nach etwas Essbarem flach über die Wasserfläche strich. Der Polizeibeamte erzählte ihr, dass es auf der anderen Seite der Insel eine große Kormorankolonie gebe. Als der letzte Vogel hinter den Wellenkämmen verschwand, sagte Tamber ernst:

      »Ich muss gestehen, dass mir in diesem Fall noch einiges unklar ist. Die schöne Umgebung macht es mir, wenn möglich, noch unbegreiflicher, dass dieser alte Einsiedler, der nichts anderes auf dem Gewissen hatte als ein vierzig Jahre altes Urteil wegen illegaler Einfuhr von Branntwein, in eine so ernste Sache wie Plutoniumschmuggel verstrickt gewesen sein soll. Wodka hätte ich ja noch verstanden!«

      »Ich glaube auch nicht, dass er was damit zu tun hatte«, sagte Moe. »Vielleicht ist er zufällig draußen auf dem Meer auf den Schmuggler gestoßen und hat zwei und zwei zusammengerechnet. Vielleicht hat er sich an Bord geschlichen und etwas von der Ware eingesteckt, um sie als Beweis mit nach Hause zu nehmen. Und da haben sie ihn auf frischer Tat ertappt, liquidiert und ins Wasser geworfen, um alle Spuren zu verwischen.«

      »Schon möglich. Aber ich verstehe nicht, wieso sie seine Taschen nicht vorher durchsucht haben.«

      »Wahrscheinlich, weil alles schrecklich schnell gehen musste. Ich denk ja mal, dass Schmuggler, die um ein Haar aufgeflogen wären, es sehr eilig haben, zu verduften. Und wenn die Partie groß genug war, haben sie den Verlust der 20 Gramm in Paulsens Brusttasche sicher gar nicht bemerkt.«

      Die starke Motorjacht, ein ausrangiertes Rettungsboot, das Moe speziell für diesen Anlass requiriert hatte, stampfte zielsicher durch die Wellen auf den Anlegesteg zu. Tamber hatte anfangs geglaubt, das Boot gehöre dem Polizeibeamten. Aber Moe hatte ihr mit einem Stoßseufzer erklärt, dass die Tage, an denen die Polizeibeamten an der Finnmarkküste mit einem eigenen Boot ausgerüstet waren, ferner Vergangenheit angehörten. Jetzt hatten sie gefälligst den Küstendampfer zu nehmen! Nur in ganz besonderen Fällen, wie diesem, durften sie ein eigenes Fahrzeug nutzen. Nein, von den Ölreichtümern war in seinem Etat nicht viel zu merken!

      Als sie sich dem Ufer näherten, sahen sie, dass vor dem Anleger ein Mann stand und sie erwartete.

      »Wer ist denn das?«, fragte Tamber überrascht. »Ich dachte, Paulsen hat allein gelebt. Haben Sie nicht vorhin gesagt, bis zum nächsten Nachbarn wären es zwei Kilometer?«

      Der Polizeibeamte hatte ein großes Fernglas dabei und brauchte ein paar Sekunden, bevor er antwortete.

      »Den hab ich hier noch nie gesehen«, sagte er felsenfest überzeugt und reichte das Fernglas