Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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Rühm und Attersee in der Bauernstube der Rühm’schen Wohnung in Wien. 1961

      Die vorlesungsfreie Zeit freilich sah ganz anders aus, das Segeln und das Reisen wurden noch lange beibehalten. Im Sommer bin ich gesegelt und gereist, zum Beispiel nach Griechenland. Diese Reisen hat ja jeder von uns gemacht, mit Schlafsack und ohne Geld, damals ging das noch. Mit ein, zwei Freunden, anfangs noch aus Seglerkreisen, später dann aus den Künstlerkreisen. Ich bin meist mit dem Pichler unterwegs gewesen, das hat so lange gedauert, bis wir beide erfolgreich wurden, dann hat es die Mittelmeerreisen nicht mehr in dieser Form gegeben; da wurde dann auch der Sommer in den künstlerischen Arbeitsbereich mit einbezogen. Destinationen waren Italien, Griechenland Frankreich, Schweden, Holland, Belgien, Türkei sowie die USA. So mancher Auslandsaufenthalt schlug sich aufs junge Œuvre nieder – die Serie „Gemona“ wurde etwa Teil der Diplomarbeit.

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      „Komposition mit Augenpaar“. 1961. Öl und bemaltes Papier auf grundiertem Papier. 65 x 90 cm

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      „Porträt Hanni Rühm“. 1962. Öl und bemaltes Papier auf Holzplatte. 125 x 125 cm

      Der gemeinsam mit Walter Pichler nach Beendigung des Studiums unternommene Besuch auf Kreta sollte Christian dann überhaupt ausgiebiger beschäftigen, nämlich gleich zwei Jahre lang. Der legendäre kretische König Minos hatte in Knossos seinen Palast, der in den heroischen Tagen der Archäologie von Sir Arthur Evans ausgegraben und ab 1900 in einer durchaus eigenwilligen Variante von Historismus und Secessionsstil wieder aufgebaut worden war. Dies hatte des jungen Künstlers Unwillen erregt, der sich daraufhin eine Figur aus der Dekoration der königlichen Anlage nahm – einen Prinzen, ansehnlich, wohlgestaltet und deutlich Produkt einer Rekonstruktion – und ihn einer grundlegenden Veränderung zu einer nahezu obszönen Hässlichkeit unterzog. Ich war in Knossos, und natürlich hab’ ich sofort gemerkt, dass das ganze eine Art-déco-Rekonstruktion ist und mit dem Original nichts zu tun haben kann. Darum hab’ ich bei meiner Untersuchung zum Begriff Schönheit die absolut höchstmögliche Hässlichkeit mit der sogenannten Rekonstruktion von Knossos gegenübergestellt. Der Schwindelprinz der hässlichen Schönheit ist bereits mit dem Knossos-Prinzen definiert. Diese Arbeit steht relativ alleine da, sie ist eine Reaktion auf die Reise, auf eine Bildungsinformation, die ich so nicht akzeptieren konnte. Es gibt auch noch eine Variante von Pichler, der das natürlich ganz anders sieht, er hat die Ästhetik nie in seinem Leben verlassen.

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      Walter Pichler vor seiner Arbeit „Fundstücke aus Kreta“ im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien. 1967. Fotografie von Barbara Pflaum

      Und dann gab es da die Auftritte, in denen der Kunststudent und Paradeskipper zum Rock ’n’ Roller wurde. Unter den vielen Lieblingsliedern seines Lebens – es hat immer welche gegeben, aber es hat sich auch immer wieder geändert – ist Attersee „I Forgot to Remember to Forget“ im Gedächtnis geblieben. Gesungen wird es vom König des Rock ’n’ Roll, Elvis Presley hat es 1955 zusammen mit „Mystery Train“ als Single veröffentlicht. „Vor Elvis“, schreibt Nik Cohn in seiner wunderbaren Geschichte der Popmusik in ihren großen Jahren bis 1969, „war der Rock nur eine vage Geste der Rebellion gewesen. Mit Elvis aber wurde er auf einen Schlag unabhängig und stabil, und dann brachte er seinen eigenen Stil hervor, in Kleidung, Sprache und Sex, eine totale Unabhängigkeit in fast allen Dingen – alles das, was man jetzt für selbstverständlich ansieht“ (Cohn 1971, 19).

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      „Prinz von Knossos“. 1967. Acryl und Lack auf grundierter Leinwand. 80 x 60 cm

      Damals war es in der Tat nicht selbstverständlich. Es gab nichts Eigenes für die genuine Welt der Heranwachsenden, die man mit einem Begriff, der so medizinisch klingt, wie er gemeint war, die „Adoleszenz“ nannte. Auch die Musik war ein Hort des „comme il faut“. „So ist Mozart für uns Vorbild, Vollendung und Zukunft, völlig zeitlos in seiner Vollkommenheit, zeitfern und zeitnah zugleich, wie alle Leistungen der Menschheit. Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht, ein Mensch zu sein; und erst recht nicht ein Österreicher“ (Karl Franz Müller, Herausgeber des Köchelverzeichnisses, zit. n. Hildesheimer 1977, 12). Dergestalt hatte es im einschlägigen Jargon noch ein paar Jahre zuvor, 1951, geklungen, mit Musik einher gingen Idolatrie, Chauvinismus und Allüren auf Ewigkeit. Mit Elvis kam das Gegenteil: Auflehnung, Internationalität und die Bereitschaft, Moden zu folgen. Elvis konnte ein Terrain erobern, das brachlag; die Quantitäten, die in der Nachkriegszeit die Welt veränderten, schlugen mit ihm um in eine neue Qualität. Es gab mehr Wohlstand, es gab mehr Jugend, es gab mehr Massenkommunikation: Sie taten sich nun zusammen und schufen mit einer Teenagerkultur die Popkultur.

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      Fanpostkarte. 1960

      Wie immer, wenn es ein Produkt aus der Kultur der Schwarzen ist, das sich aufmacht, die Welt zu erobern, war es ein Weißer, der dafür die Meriten einheimste. Mit Elvis, nicht zuletzt machte das seinen Erfolg aus, ließ sich auch die Auflehnung portionieren. Nik Cohn hat das perfekt beschrieben: „Die Schwierigkeit war, wie er sich aus einem jugendlichen Rebellen in eine respektable Persönlichkeit des Establishments verwandeln konnte, ohne den Fans das Gefühl zu geben, daß sie betrogen wurden. Da kam ein Geschenk vom Himmel: Presley wurde von der Armee eingezogen (…) Seine Vorgesetzten lobten ihn überschwenglich, die Presse schwenkte um. Amerikas Eltern waren beruhigt – das Schaf hatte seinen Wolfspelz abgelegt“ (Cohn 1971, 22). Mit Elvis wurde das, was den Rock ’n’ Roll ausmachte, Kleidung, Sprache, Sex, vermittelbar an die Autoritäten.

      Attersees Stimme und die Stimme von Elvis ähneln einander. So bot sich an und ließ sich vor allem auch umsetzen, was damals ohnedies alle wollten: dem Idol nacheifern und Auftritte hinlegen, dass die Fetzen und manchmal auch die Stühle flogen. Noch in Linz, in einem Etablissement namens „Rosenstüberl“, begann Attersee als Rock ’n’ Roller, nachdem er sich schon während seiner Gymnasialzeit als Pausenentertainer versucht hatte: Natürlich bin ich auch in der Mittelschule aufgetreten, mit der Gitarre. Immer wenn Pause war, bin ich auf die Bühne der Schule, habe schnell irgendwelche Lieder gesungen und bin dann gleich wieder verschwunden. „Christel“ war sein Künstlername, später nannte er sich auch, inspiriert vom Segeln, „Europameister“. Siebzehn Jahre war er alt, und bei allem Selbstvertrauen und individuellem Elan ist das kein Zufall. Siebzehn ist das spezielle Alter, da die Jugend und die Kalküle des Pop-Geschäfts einander zu entdecken beginnen, „Seventeen“ hieß die 1944 erstmals auf den US-amerikanischen Markt gebrachte Zeitschrift, in der sich, wie Jon Savage in seiner Geschichte der Teenager schreibt, „Demokratie, nationale Identität, altersorientierte Kultur, Zielgruppenmarketing und jugendlicher Konsum zu einem unwiderstehlichen Gesamtpaket verbanden“ (Savage 2008, 457). Siebzehn Jahre waren auch vom biologischen Standpunkt her, jedenfalls bei gutem Willen, unbedenklich. Wenn die Beatles in ihr „I Saw Her Standing There“ mit der Zeile „Well, she was just seventeen, you know what I mean“ einstiegen oder Udo Jürgens „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ besingt, dann kam zum Ausdruck, dass es genau die paar Monate später waren, die einen Abgrund an Unverständnis überbrückten. Chuck Berry jedenfalls, der Anarchist, bei dem sich alle bedienten und der in ihrer aller Schatten blieb, hatte eine „Sweet Little Sixteen“ im Gepäck. Das war ein entscheidendes Stück zu jung. In der erfolgreichsten Schmonzette der Sechziger, „The Sound of Music“, der Story um die Salzburger Trapp-Familie, die den Nazis trotzt, wird der notorische Abstand mit dem Lied „Sixteen Going on Seventeen“ besungen: Es gelte ein Jahr zu warten, um nicht „totally unprepared“ zu sein, „to face a world of men“. Man wusste, worauf es ankam.

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      Josef Holstayn. „Elvis und Attersee“. Ende der 1980er Jahre. Ölstudie. 69 x 59 cm

      Mit siebzehn also schlüpfte