Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

Читать онлайн.
Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



Скачать книгу

gebrachte Wiener Schule der Neutöner, also der Musiker um Arnold Schönberg, und der in den Zwanzigern und Dreißigern operierende Wiener Kreis der analytischen Philosophen hatten Vorarbeit geleistet in Sachen Avanciertheit und Avantgarde. Und auch die Missverständnisse, die mit Innovationen stets einherzugehen pflegen, hatten sie schon gekannt. Wien war Prädikat und Bürde in einem. Der Kunsteleve, so lässt sich vorwegnehmen, hat von allen drei Gruppierungen der Jahre um 1960 gelernt. Auf die – von Kritiker Johann Muschik so genannten – Phantastischen Realisten lässt sich ein gewisses Faible für die Feinmalerei zurückführen, für eine handwerkliche Sorgfalt und Gediegenheit der Gestaltung, bei der stets ein kontrollierender Geist waltet. Die Aktionisten haben mit Attersee die Neigung zur obsessiven Beschäftigung gemein, die sich vor allem auf zweierlei Essenzialitäten richtet: Nahrung und Sexualität. Die Wiener Gruppe schließlich war das Trainingsfeld schlechthin, sie war das ästhetische Milieu, in das der heranreifende Mensch eintauchte, um als Künstler wieder aufzutauchen. Die Wiener Gruppe hat mir geholfen, weil ihre Mitglieder sehr gebildet waren. Maler sind ja meist dumme Leute, darum war ich bei ihnen selten anzutreffen. Dichter haben mich mehr interessiert, und die waren auch bei der Hand. Vor allem die Freundschaft mit Gerhard Rühm hat dem jungen Mann das Entree verschafft in einen Zirkel, der durchweg zehn Jahre älter war als er. Allein die Übungen in Kleinschreibung, die Attersees Texte speziell der Sechziger durchzieht, sind dem Literatenkreis zu verdanken, wie er der Sprache und ihrer Orthografie so etwas wie ein demokratisches Bewusstsein zu geben suchte, Egalität und kollektive Identität.

      Konrad Bayer hat am 3. September 1964, einen Monat vor seinem Selbstmord, im „Times Literary Supplement“ Rückschau gehalten auf die exquisite Runde. Von 1954 bis 1959, sagt er, war „die periode unserer intensivsten zusammenarbeit“. In verschiedenen Konstellationen sind Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener als illustres Quintett, im Duo oder Trio und auch allein hervorgetreten, und gerade diesen Wechselgesang haben sie als ihre Unverwechselbarkeit gepflegt – heute würde man sagen: ihr Alleinstellungsmerkmal. „die tatsache“, schreibt Bayer in seinem Artikel, „dass wirkliche gemeinschaftsarbeiten produziert werden konnten, und zwar als teil unseres programms und nicht nur als gelegentliche nebenprodukte: dieses drängen auf anonymität, diese selbstauslöschung des autors zugunsten der zusammenarbeit – eine haltung, die zweifellos auch auf unsere jugend zurückgeführt werden kann – war ein hauptmerkmal unserer gruppe, und ich halte es immer noch für eine der wenigen vorstellbaren begründungen literarischer zusammenarbeit. die wiener gruppe war nicht so sehr ökonomisch motiviert, sie war vielmehr ein labor und ein experimentierfeld“ (zit. n. Weibel 1997, 30). Diese Literatur hat die Zauberformeln der orthodoxen Moderne eingearbeitet: das Kalkül mit dem Zufall und die Aleatorik, wie sie von Dada und Surrealismus kommen, den Hang zum Reduktiven und den Purismus, wie sie die Abstraktion und der Konstruktivismus entwickelten, und überhaupt das Spiel mit dem Vernachlässigten, Ephemeren, gegen den Kanon Gerichteten, das die Avantgarde immer schon betrieb.

image

      H. C. Artmann und Konrad Bayer im Café Hawelka in Wien. 1956. Fotografie von Franz Hubmann

image

      Konrad Bayer, H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener (mit dem Rücken zur Kamera) im Café Hawelka in Wien. 1956. Fotografie von Franz Hubmann

      Attersee bringt die Differenzen und die Kompetenzen der einzelnen Gruppemitglieder schön auf den Punkt: Artmann war ein Musketier als Sprachtalent, er war der Surrealist der Wiener Gruppe. Der Konkrete war der Rühm. Der Bastler war der Achleitner. Der Wissenschaftler, der sich immer wieder versucht hat, in philosophische und theoretische Projekte hineinzubringen, das war der Ossi Wiener. Auf jeden Fall war die Dialektlyrik die publikumswirksamste der Hervorbringungen der Wiener Gruppe; H. C. Artmann drohte mit seinem Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“ (1958) gar zum „volksbarden“ zu werden, wie Gerhard Rühm es pointiert formulierte. Rühms Text „das phänomen der ‚wiener gruppe‘ im wien der fünfziger und sechziger jahre“ ist im Jahr 1967 geschrieben, und er fasst die Geschichte dieses veritablen Phänomens wunderbar zusammen. Einer breiten Würdigung zugänglich ist das Phänomen dank jener voluminösen Publikation, die Peter Weibel, treibende Kraft, Impresario und Kompilator der avantgardistischen Tendenzen in den späteren Sechzigern, für die österreichische Präsentation auf der Biennale di Venezia 1997 der Gruppe gewidmet hat: Der dickleibige Band stellte das Exponat dar, das im Pavillon zu sehen war, gestapelt auf Paletten, zur freien Entnahme, und es war ein Auftritt von eigener künstlerischer Qualität, wie die Beinahe-Folianten von den schwitzenden Besuchern durchs Gelände, auf die Vaporetti und in die Hotels geschleppt wurden.

image

      Einband zu H. C. Artmanns „med ana schwoazzn dintn. gedichta aus bradnsee“. Salzburg: Otto Müller Verlag 1958

image

      Das „1. literarische cabaret“ der Wiener Gruppe mit Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer. Wien, Künstlervereinigung „alte welt“, Windmühlgasse. 1958. Fotografie von Franz Hubmann

      In das Jahr 1958 fällt die erstmalige Zuerkennung des einschlägigen Etiketts, als Dorothea Zeemann im „Neuen Kurier“ vom 23. Juni von der „Wiener Dichtergruppe“ berichtet. Im Dezember findet das „1. literarische cabaret“ statt, in einem Theatersaal in der Wiener Windmühlgasse, bei einem „alle erwartungen übertreffenden andrang“ und einem dezidierten „nachträglichen echo“, wie Rühm sich erinnert (ebd., 27). Im April des folgenden Jahres fand man sich im Porrhaus am Naschmarkt zur zweiten Veranstaltung ein, diesmal reagierte auch die Presse, „mit der typischen mischung von entrüstung und sensationsgier“, schreibt Rühm. Es waren die Jahre, da die Kunst ihre performative Wende nahm und das Werk, das vordem als in sich ruhend, autonom und vollendet gedacht war, dynamische Züge eines Ereignisses erhielt. Handlung, Ablauf, Auftritt, Vortrag waren die neuen Medien, und was eine Gattungsästhetik streng in Dichtung, Bildnerei, Musik getrennt hatte, wurde theatralisch und fügte sich zusammen zu einer gewichtigen Vorstellung von Totalität. Verwandte Tendenzen gab es weltweit, im Happening Allan Kaprows in den USA etwa oder bei Dieter Roth in der Schweiz, später ein zentraler Weggefährte Attersees. In Österreich jedenfalls bestellte die Wiener Gruppe das neue Terrain, als Proponenten eines „totalen theaters“ und der entsprechenden öffentlichen Ablehnung.

      Wie immer, wenn es um Expeditionen ins Unbekannte geht, hatte es mit der Pioniertruppe bald ein Ende. Am 10. April 1964 brachte man die bereits 1958 gemeinsam verfasste „kinderoper“ zur Uraufführung, es war im „Chattanooga“, einem Lokal am Graben, zu dessen Eröffnung der Betreiber Uzzi Förster auf die Spektakeleffekte von Skandalen setzte und das Radikalste der Wiener Szene einlud, sich zu exponieren. Es wurde die „abschiedsvorstellung“, formuliert Rühm: „achleitner wandte sich wieder ganz der architekturtheorie zu, bayer zog sich nach schloss hagenberg in niederösterreich zurück, um seinen roman (unvollendet geblieben und ,der sechste sinn‘ betitelt, Anm. d. Verf.) fertig zu schreiben, wiener hatte einen job bei ‚olivetti‘ und arbeitete an der ‚verbesserung von mitteleuropa‘, ich übersiedelte zwei tage nach der aufführung nach berlin“ (ebd., 29). Auf diese Übersiedelung und ihre Folgen für die Biografie eines aufstrebenden Künstlers wird zurückzukommen sein. Artmann übrigens lebte zu der Zeit schon im schwedischen Malmö. Er war seiner seltsamen Reputation als Wiener Mundartdichter entflohen.

      Schon am 14. April 1964 kommt es im „Chattanooga“ zum Auftritt einer illustren neuen Tendenz, die die Wiener Gruppe an Direktheit und Streben nach Unmittelbarkeit, an Skandalträchtigkeit und Kriminalisierung weit in den Schatten stellen wird. Die Literaten und die jungen Radikalen, die im Jahr 1969 von Peter Weibel auf den Begriff „Wiener Aktionisten“ gebracht werden, haben trotz der räumlichen und zeitlichen Koinzidenz miteinander nichts zu tun, einzig Oswald Wiener nimmt von ihnen Notiz. Er ist mit Otto Muehl befreundet, und eben Muehl setzt im „Chattanooga“ seine „Materialaktion Nr. 6“ in Szene. „Ein weibliches Modell“, stellt es Hilde Spiel, die Grande Dame der Kulturberichterstattung