Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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und auch bei Artmann setzt die Welt zum Tigersprung ins Globale an, sind Töne aus dem Radio. Immerhin, wie es Artmann, später einer der besten Freunde und wichtigsten ästhetischen Gewährsleute Attersees, in seiner berühmten Hommage an Wien, „wos en weana olas en s gmiad ged“, formulieren wird: „und en hintagrund auf jedn foe: da liawe oede schdeffö“, der Turm des Stephansdoms (ebd., 48). Wien ist Ödnis, die sich am Sonntag verdichtet, Wien ist Denkmal, und Wien ist eine spezielle Mentalität seiner Bewohner, bei der es durchaus angezeigt ist, ihr aus dem Weg zu gehen – darüber sind sich der Vertreter soignierten Schriftstellertums und der Kader der Avantgarde einig. Das augenzwinkernde Faible für den Umschlag in die Perversion kommt bei Artmann aber schon hinzu. So gehört zu den Dingen, die einem Wiener ans Gemüt gehen, auch Folgendes, Unübersetzbares: „a kindafazara wossaleichn foxln“ oder „a rodlbadii met dode“ (ebd., 48). Für die kommende Dekade ist mit einem solchen Tunnelblick aufs menschliche Fleisch auch eine Perspektive künstlerischer Beschäftigung abgesteckt.

      Vorbereitet durch das Zeichnen mit dem Vater und dem Unterricht bei Alfons Ortner in Linz, war Christian Ludwig im Frühjahr 1957 in Wien zur Aufnahmeprüfung an der Hochschule für angewandte Kunst angetreten. Im Herbst des Jahres konnte das Ausnahmetalent mit einer Sondergenehmigung, jünger als die anderen und ohne Matura, mit dem Studium beginnen. Wie bereits in der vorhergehenden Generation lief es auch diesmal – bei aller Förderung und allem Wohlwollen von väterlicher Seite – auf einen Kompromiss hinaus: nämlich nicht freie Malerei anzustreben, sondern eines der Fächer mit technisch-kunstgewerblicher Ausrichtung. Mit dem Ziel vor Augen, einmal als Filmarchitekt berühmt zu werden, hieß die Entscheidung vorerst Bühnenbild. In den zwei Jahren an Vorbereitungskursen bei den Professoren Friedrich Böhm für allgemeine Formenlehre und Alfred Soulek für Innenarchitektur und Möbelbau wurde allerdings für den phantasiebegabten Anfänger deutlich, dass er das für dieses Studium notwendige technische Zeichnen, Entwerfen von Barocksesseln und all das klassische Inneneinrichtungsmobiliar zu konstruieren, nicht aushält. So wechselte er doch zur Malerei, und zwar in die Klasse von Professor Eduard Bäumer. Durch diese zu eng gebundene Ausbildung, die mir zu technisch war, bin ich erst zur Malerei gekippt.

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      „Aktstudie“. 1959. Kohle auf Papier. 44 x 31 cm

      Nach den vielen naturgetreu gezeichneten Streichholzschachteln während der Schulzeit und den zwei Jahren Interieur-Skizzen samt historischen Schnörkeln interessierte sich der Student bald nur mehr wenig für Aufgabenstellungen wie Proportions- oder Naturstudien, mit denen man in der klassischen Ausbildung der Malerei zu beginnen pflegt. Er widmete sich gleich den „abstrakten Kompositionen“, wie es der überaus tolerante Klassenleiter im Protokoll festhielt (zit. n. Werkverzeichnis [WV] 1994, 7). „Komposition mit Fleischstücken“ ist eine allererste Werkgruppe betitelt, es ist ein Vortasten, eine Initiierung, eine Spurensuche – das nahrhafte Motiv immerhin wird Attersee als Bildzeichen ein Leben lang begleiten. Etwas später während des Studiums folgen dann Experimente mit 3-D-Bildern, zu betrachten mit rot-grün-brille. Gemäß Bäumers Grundsatz, den Studenten nie seinen eigenen Stil aufzudrängen und sie vielmehr nach ihren eigenen Fähigkeiten sehen zu lehren, konnte sich in seiner Klasse jeder durchaus nach seiner Fasson entwickeln. Während sich der junge Ludwig an eben den „abstrakten Kompositionen“ abarbeitete, schulte Kommilitone Günter Brus sein Zeichentalent mit steten Wiederholungen und Verbesserungen auf Pauspapier; Bruno Gironcoli zeigte ein Faible für welke Blätter, die wieder und wieder auf Papier festgehalten werden mussten; und Alfons Schilling, auf der Suche nach der „totalen Malerei“, fand sich mit gestisch bis ekstatischen Pinselstrichen schon auf dem besten Weg zur nachmaligen Aktionsgestaltung auf rotierenden Leinwänden.

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      „Aktstudie“. 1959. Rötel auf Papier. 44 x 31 cm

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      „Abstrakte Komposition“. 1959. Aquarell auf Karton. 44 x 31 cm

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      „Jesus mit schwarzer Nase“. 1959. Bleistift und Tusche auf Karton. 44 x 31 cm

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      Eduard Bäumer. Um 1960

      Bei all den unterschiedlichen Auffassungen, wie sie zwischen Student und Professor zur Aufgabenteilung gehören – was dem Schüler gemein war mit seinem Lehrer, das war das Interesse an Wassily Kandinsky. Zusammen mit František Kupka und Robert Delaunay kommt Kandinsky das Etikett des ersten Abstrakten zu. Beispielhaft verkörpert er eine der Meistererzählungen der Moderne, ein heroisches Projekt, das von der Ablösung des Wiedererkennbaren handelt. Ausgehend vom Vorgefundenen schält Kandinsky an den Motiven die Schichten ab, die ihm beiläufig vorkommen, nebensächlich und fadenscheinig. Es ist ein Purifizierungsprozess, bei dem weniger nach einem vorhandenen Programm als in der Ad-hoc-Gestaltung eine Kunst des Weglassens exerziert wird. An deren Ende entsteht ein Eindruck dessen, was das „Wesen“ sein könnte, ein Wesen, das selbst erst aus der Konstruktion erwächst. Das Gemälde erlangt Autonomie, und in der Tat werden die Relationen, die sich innerhalb des Karrees abspielen – die Verteilungen reiner Farbe, das Verhältnis von Linie und Fläche, die Ponderation in oben und unten –, immer wichtiger. Die Visualität der Welt ist etwas anderes als die Piktoralität des Bildes. Der Eleve wusste, was er an dem Vorbild hatte. Zu der Ausgewogenheit von Einfall und Vielfalt in Kandinskys Bildern fühlt er Verwandtschaft, schreibt Attersee später in seinem selbst zusammengestellten, in der dritten Person verfassten Curriculum, heute fügt er hinzu: Diese Bilder muss man absolut ergänzen, weil sie Ausschnitte einer unheimlichen Dynamik sind. Das ist etwas, was mich interessiert hat. Meine Bilder sind sowieso nur Ausschnitte einer großen Dynamik. Bäumer indes, der den großen Russen persönlich gekannt hatte, sollte Kandinsky zum Verhängnis werden. Als er 15 Jahre nach seiner Emeritierung am 21. Januar 1977 aus dem Münchner Haus der Kunst tritt, ganz in Gedanken versunken nach dem Besuch der großen Kandinsky-Schau, wird er von einem Fahrzeug erfasst und getötet.

      Während der gesamten Studienzeit lebte der angehende Künstler in einem Untermietzimmer in der Köstlergasse im sechsten Bezirk, einer einigermaßen bürgerlichen Gegend am Rande der damaligen Halbwelt des Naschmarktes mit ihrem einschlägigen Personal. Frau Wutschka, die Vermieterin, zeigte sich fürsorglich, und sie schmierte die „Frühstückssemmerln“, die selten verzehrt, sondern lieber mitgenommen wurden an die Schule. „Der Christian kam immer später als die andern, hatte manchmal die Gitarre und einen Doppelliter dabei und verteilte sein Frühstück an Kollegen“, erinnert sich Hanni Rühm, Mitstudentin und langjährige Lebensgefährtin Attersees. 1959 hatte Hanni in Bäumers Klasse begonnen, doch der Beau war ihr bereits im Vorbereitungskurs bei Professor Soulek aufgefallen. Nicht unbedingt positiv: „So ein furchtbarer Schnösel, hab’ ich mir gedacht, alleine wie der dahergekommen ist, mit seiner weißen Lammfelljacke, das Hemd fast bis zum Nabel geöffnet und so unheimlich schön.“ Mit der Zeit bemerkte Hanni auch, dass sich hinter der geschmackvoll aufgeputzten, schick gekleideten und auf Upperclass getrimmten Schönheit ein schüchterner, liebenswerter Zeitgenosse mit einem gewaltigen Hörproblem verschanzt hatte. Ebenso blieb nicht verborgen, dass dieser Mensch ganz ernsthaft arbeitete, und so kam es, dass sich manchmal von Staffelei zu Staffelei Blicke begegneten; auf einer Party lernte man sich schließlich besser kennen.

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      Bernd Griesel und Attersee, Meisterklasse Eduard Bäumer. 1960

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      Wassily Kandinsky. „Komposition VI“. 1913. Öl auf Leinwand. 195 x 300 cm

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      „Kompostion mit Fleischstücken“. 1962. Öl auf grundiertem Papier (auf