Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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der Zeit der vielen Krankenhausaufenthalte stammt die früheste wie auch seltsamste Erinnerung des schwächelnden, fiebernden Knaben: Von allen Erstprägungen gibt es eine, die ich mir bis heute nicht erklären kann: In meiner Erinnerung sehe ich, im Spitalsbett liegend, im Gegenlicht drei oder vier dunkelhäutige Krankenschwestern auf und ab spazieren. All das wäre – bis auf die Hautfarbe der Schwestern – nicht weiter bemerkenswert, wenn die Damen nicht einzig und allein mit dem einschlägigen Häubchen bekleidet gewesen wären und sich dem Knaben nicht besonders die nackten Hintern ins Gedächtnis geschrieben hätten. Bis zu seinem dritten Lebensjahr war Christian immer wieder im Spital, mit fünf oder sechs schon hat er versucht, dieser in jeder Hinsicht komischen Vision auf den Grund zu gehen. Weder seine Eltern noch irgendwer sonst konnten eine Erklärung bieten, eine Recherche vor Ort noch Jahrzehnte später blieb erfolglos – eigentlich sucht Attersee noch immer nach einer Antwort. Ich bin ja vieles, auch ein Gesäßfetischist, aber auf Krankenschwestern war ich noch nie fixiert. Jedenfalls legt er Wert darauf, dass die obskuren Gesichte mehr sind als ein Traum.

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      Susanne und Christian Ludwig, Attersees Eltern. 1938

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      Susanne, Horst und Christian Ludwig. 1943

      Zwei Jahre nach Christian kam Horst zur Welt, dessen erste Erinnerungen in Bratislava sich notgedrungen auf den älteren Bruder beziehen. Dass dieser stets größer war und ihm dadurch der Blick aus dem Fenster oder das Ergreifen der höher im Regal platzierten Spielsachen möglich war, erklärt sich rein körperlich; dass der Ältere mehr Zuwendung und diverse Luftveränderungen benötigte, dagegen psychologisch. In Sachen einer Kur für die angegriffenen Lungen von Christian reiste die Mutter mit den beiden Söhnen in die Karpaten, was anfangs als Keuchhusten diagnostiziert wurde, stellte sich im Laufe der Jahre dann als Asthma heraus, ein weiteres Handicap, mit dem das Kind zu leben lernen musste.

      Für „Deutsche“, als die die weitverzweigten Ludwigs galten, wurde es in Bratislava vorhersehbarerweise immer schwieriger, sodass Christian Ludwig begann, sukzessive das Hab und Gut der Familie donauaufwärts zu schaffen. Manches auf dem Landweg, vieles aber auch auf einem selbstgebauten Floß, an dem befestigt auch die zwei Motor- und die zwei Segelboote, die der Familie gehörten, in Richtung Oberösterreich verschifft wurden. Über Wien reiste die Ehefrau mit ihren beiden Kindern 1944 hinterher, ein Bombenangriff auf die Stadt, bei dem den dreien der Zutritt in einen Luftschutzkeller nahe dem Schwarzenbergplatz verwehrt wurde, zählt zu den eindrücklichsten Kindheitserinnerungen. Landshaag war die erste Station, wo die Familie bei einem Freund, dem Primarius Dr. Kurt L. Müller, unterkommen konnte. Ein Jahr später setzten die Ludwigs dann, gewarnt vom Vordringen der russischen Truppen, mit dem Floß – in der Mitte des Floßes befand sich eine bescheidene, fast würfelförmige Wohnhütte aus Holz–über die Donau: ins gegenüberliegende Aschach, in die amerikanische Besatzungszone.

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      Die Eltern Susanne und Christian Ludwig mit ihren Söhnen Christian (li.) und Horst. 1946

      Aus „Deutschen“ in Bratislava waren in der Gegend von Linz „Slawen“ geworden, aus alteingesessenen Bürgern Flüchtlinge, und dementsprechend war der Empfang. Mit der einschlägigen Etikettierung „Du Slawensau“ konnte das Kind Christian zu seinem Glück wenig anfangen, viele Jahre später, 1980, hat er mit dem Zyklus „Der Slawe ist die herrlichste Farbe!“ auch die allfälligen Ressentiments abgearbeitet, die in der Kindheit angebrandet waren. Zumindest aber war die gesamte Familie in Sicherheit. Mit einem ausgeprägten Spürsinn für die politischen Entwicklungen hatte der Vater Vorsorge getroffen, dass auch seine Eltern und die Brüder mitsamt Familien irgendwo unterkommen konnten. Nur zwei Tage, bevor die Rote Armee in Bratislava einzog, war er ein letztes Mal vor Ort, um Wertsachen in Sicherheit zu bringen, sodass man in den Nachkriegsjahren, auch wenn es an vielem fehlte, irgendwie das Auskommen hatte. „Es ist uns nie richtig schlecht gegangen“, erinnert sich Horst.

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      „Slawinocker (Der Slawe ist die herrlichste Farbe)“. 1980. Mischtechnik auf Karton. 87,5 x 62,5 cm

      In diese Zeit fallen auch zwei einschneidende Erlebnisse, die, auf ihre Art Initiationen, das Leben und Denken des Jungen nachhaltig prägten: als mein vater nach dem blonden knabenschopf einen meter tief in die donaufluten griff, zog er nicht nur seinen ins stromwasser gefallenen sechsjährigen sohn christian ludwig aus dem flußsog, es war gleichsam auch die geburtsstunde der liebe und des vertrauens des jungen zu wasser, zu blau. weder scheu noch angst wirkte aus dem kind, ein nasses stück menschenobst lachte am landshaager donauufer, der sturz ins wasser war schnell vergessen (Archiv Attersee, 1990, unpubliziert). Der Vater hatte seinem Sohn das Leben gerettet, er hatte mit seiner unaufgeregt-schnellen Reaktion dem Jungen dabei auch die Furcht vor dem nassen Element genommen, und ähnlich sollte es auch beim Eintritt in die Schule sein. Christian war der einzige evangelische Schüler in einer sehr ländlich und sehr katholisch geprägten Lehranstalt. Gleich zu Beginn ließ man ihn das merken, der Junge musste woanders sitzen, und er durfte nicht mit den anderen in den Religionsunterricht. „Gott gibt es nicht, aber du musst hier mitmachen“, hatte der Vater seinem Buben mit auf den katechetischen Weg gegeben. Er hat sich plötzlich umgedreht, und durch seine Ausstrahlung habe ich sofort gewusst, das ist das größte Geheimnis, das ich erfahren werde – und so war es auch. Mit dieser Nachricht musste ich leben und ich musste überleben in diesen Schulen. Bald wurde immerhin das zeichnerische Talent des ruhigen, allein durch die Hörprobleme schüchternen Kindes erkannt: Er durfte für den Lehrer alles an die Tafel malen, was im Unterricht an Illustrationen gebraucht wurde.

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      „Nachtslawin (Der Slawe ist die herrlichste Farbe)“. 1980. Mischtechnik auf Karton. 62,5 x 87,5 cm

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      „Zärtlich färbt die Slawin, das Wetter füttert (Der Slawe ist die herrlichste Farbe)“. 1979. Mischtechnik auf Karton. 56,5 x 44 cm

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      Christian Ludwig auf dem Floß. 1951

      Nun blieb auch Zeit, musikalische Neigungen bei Christian wahrzunehmen und zu fördern. Blockflöte, Klavier und Okarina, jenes kleine tönerne, meist in Vogelform gestaltete Blasinstrument, wurden eingeübt, später kam Gitarre hinzu. Hatte der Vater Muße, zeichnete er mit ihm, und dann gab es noch das Wasser, den Wind und die Boote: siebenjährig wurde derselbe bub mitten am attersee in eine alte, von südwindwellen umspielte olympiajolle, baujahr 1936, bootsname „thetis“, gesetzt, und ob er wollte oder nicht, alleine sollte er ans festland segeln. eine stunde später legte der junge segler das bugtau der jolle um den alten anlegepöller des union jacht club attersee, ein relikt aus dem alten österreichischen kriegshafen pula und lange zierde des jachtclubufers. es war die erste wetterstunde des später so erfolgreichen seglers, es war aber auch der beginn des knabens liebe zu wetter, zu wetterfarben (Archiv Attersee, 1990, unpubliziert). Das Floß, mit dem man sich nach Westen gerettet hatte, das über die gesamte Zeit an der Donau als Ponton gedient hatte, wurde 1947 an das Ufer des Jachtclubs am Attersee verschifft, wo es, nochmals um eine Plette und einen Raum erweitert, das Sommerdomizil der Ludwigs sowie Anlauf- und Anlegestelle aller Freunde wurde. Ein dramatisches Ende erlitt die „Arche Noah“, wie die Leute es nannten, zwei Jahrzehnte später, als sie bei den Dreharbeiten zu Luchino Viscontis 1969 fertiggestelltem Spätwerk „Die Verdammten“ ihre eigene Götterdämmerung fand und verbrannte.

      Mit dem Abschluss der Grundschule begann für den gerade Zehnjährigen auch schon die Zeit der Abnabelung. Aus dem Jungen sollte schließlich, wie es sich gehörte, etwas werden, er musste aufs Gymnasium, und das bedeutete, dass er in einem evangelischen Schülerheim in Linz zu wohnen hatte. So hätte er seine Eltern früh verloren,