Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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den damals 17-Jährigen die Fahrt mit einem Dampfer von 1906 von Triest nach Athen. Dort waren es weniger die antiken als die christlichen Bilder: Ich habe nie vorher etwas Besseres, Tolleres gesehen als die Ikonen, die ich in Athen im Museum antraf. Michelangelo in Florenz, van Gogh in Amsterdam, in Split Mestrowitsch, in Paris Toulouse-Lautrec und nochmals, in Augenschein genommen 1962 im Art Institute von Chicago, der Meister der Sonnenblumen und, von Attersee besonders geliebt, der Blütenzweige: Van Gogh hatte gute und schlechte Tage, gemalt hat er die letzteren, die guten hat er für sich behalten, zum Schutz der Schmerzhändler, sicher auch, um Kadaversinne in Schwung zu halten, um Zufluchtsorte zu malen für die Rast abseits von Blüten. An malfreien Tagen saß er bei den jungen Vögeln im Nest, weit weg von Krankheit und Geldnot, saß er zwitschernd in veronesergrünen Hellen, zwitschernd in den Farben lebensfroh vagabundisierender Karren, so wollen wir es jetzt sehen. Nur wer Meister der linkischen Hand ist, versteht auch die wahre Rechte im warmen Schatten des Lichtes. Vincent gehört zu den Auserwählten, zu den beidhändigen Meistern, sein schwarzer Fleck im Sonnigen Tag ist nicht der Schatten des Herzens eines Geisteskranken, sein schwarzer Fleck ist der gemalte Anspruch auf Mitsprache bei der ununterbrochenen Weiterschöpfung dieser Welt (Taulocke 1992, 91).

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      Vorschoter Erich Moritz und Christian Ludwig erhalten nach dem dritten Regattasieg (1959, 1960, 1961) das „Blaue Band“ im Yachtclub Adriatico in Triest. 1961

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      Anton Lutz. „Junger Segler“. 1958. Öl auf Holz. 84 x 60 cm

      Zwischen den musealen Werken das Wasser, Wind und Wetter vor den hungrigen Augen. Dreimal werde ich Staatsmeister, danach gehe ich nach Wien und werde ein berühmter Künstler, lautete die Prämisse. Als „Junger Segler“ stand er erst einmal auf der anderen Seite der Leinwand – nämlich dem oberösterreichischen Maler Anton Lutz 1958 Porträt. Es ist ein Werk von deutlich mediterraner Atmosphäre, das hier entstanden ist, der Sonnenhut wie bei van Gogh, das gestreifte Hemd wie bei Picasso und der Bildausschnitt, der am Oberschenkel Halt macht, wie bei Cézanne. Erster Flaum ist auf dem Weg zum Oberlippenbärtchen, der Blick weniger nach außen als auf die eigene Nachdenklichkeit gerichtet, und die Augenbrauen sind hochgezogen, schon einmal die Skepsis markierend, die Zurückhaltung und leise Melancholie, die sein Leben begleiten und leiten. „Junger Segler“ ist beileibe kein Meisterwerk. Aber seinerseits hat es dieses Leben begleitet. Heute findet man es in Attersees Wiener Atelier im dritten Bezirk.

      Der junge Segler ist ein berühmter Künstler geworden. In beiden Metiers geht es darum, mit Eleganz Erfolg zu haben, das Elementare von Materie und Material überzuführen in den hochartifiziellen Einsatz von Kalkül, Geschick, Virtuosität. In beiden benötigt man bei aller Rationalität der Verfahren eine gewisse Instinktivität, und beide lassen ein gehöriges Quantum Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit im Raum zu: Die Kontingenz der Welt, die unhintergehbare Erfahrung, dass alles auch ganz anders kommen kann, haben im Sport und in der Kunst ihre speziellen Refugien, ihre Spielwiesen gewissermaßen, denn es sind Felder, wo ein Scheitern reversibel ist. Als Attersee in die Kunstwelt kam, vollzog diese gerade ihre physische Wende, ästhetische Arbeit nahm sich mit Happening, Fluxus, Performance und Body-Art auf neue Weise den Leitfaden des Leibes vor und wurde körperlich, als sei sie ihrerseits Ertüchtigung. Dass Attersee den Paradigmenwechsel zum eigenen Körper als Medium der Kunst weniger buchstäblich nahm als viele seiner Freunde im Wien der Sechziger, dass seine Arbeiten Schaubilder blieben und sich nicht zum Aktionismus radikalisierten und brachialisierten, mag speziell mit dem Segeln zu tun haben. Für diesen Sport braucht man ein Hilfsmittel, das Boot und seine Ausstattung, die eine Verlängerung bedeuten, eine Hybridbildung zwischen Körper und Instrument – und damit von vornherein ein Distanzmoment einbauen. Immer wieder tauchen in Attersees artifizieller Welt Prothesen auf, die ebenso als Hilfsmittel funktionieren und bisweilen, als Takelagen oder Ruderblätter, die Bilder als Motive bevölkern. Dass irgendwann, nämlich 1971/72, ein „Zyklus Segelsport“ in diesem Œuvre auftauchen würde, ist da nur konsequent. Um dort anzukommen, bedurfte es zunächst der Einführung in die Kunst: in Gestalt einer Ausbildung.

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      „Der Siegbild“. Attersee in seiner Segelpokal-Welt. 1967. Fotografie von Hanni Rühm

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      Christine Melichar (später Gironcoli), Attersee und Günter Brus in der Meisterklasse Eduard Bäumer. 1959

       1957–1963

      „Fürstin Grace hat den Monegassen einen blauäugigen braunhaarigen Prinzen geschenkt, und Françoise Sagan hat sich endlich vermählt, nachdem sie sich mit frühem Ruhm und früher Katastrophe hinreichend bekannt gemacht hat; die persische Operette, in der unsere Staatsoberhäupter animiert mitspielen, schrillt aus. Je mehr solcher Nachrichten man zusammenträgt, um so gespenstischer wird der Aspekt: Gesellschaft defiliert auf dem Fernsehschirm. Zu welcher Melodie? Und der Fernsehschirm ist in den Verdacht radioaktiver Tücke geraten, welcher Verdacht sicherlich von Sachverständigen behoben werden wird – während die Sputniks der alten Mutter Erde um die Ohren brummen“ (Schneider 1958, 260).

      Im Herbst 1957, da ein junger Mensch nach Wien gekommen ist, um hier sein künstlerisches Leben zu beginnen, ist auch ein alter Mann in die Hauptstadt Österreichs gereist, und er wird es hier beschließen: Reinhold Schneider, Literat aus Freiburg im Breisgau, katholisch, reaktionär, aber auch im Widerstand gegen die NS-Diktatur, verbringt hier eine letzte Saison, seinen „Winter in Wien“, wie die posthum erschienenen Extrakte aus seinen Notizbüchern betitelt sind. Drei Wochen, nachdem er die zitierten Gedanken zu einer Welt, die sich zunehmend in die Massenkommunikation schickt, mit allzu argen Vorahnungen zu Papier gebracht hat, ist er tot.

      Die Monate davor hatte Schneider in der Kaiserstadt seine Honneurs gemacht, die Oper besucht, die am 5. November 1955 mit großem Aplomb wiedereröffnet worden war, hatte die monumentale Vergangenheit besehen und die nicht ganz so beeindruckende Gegenwart: „Millionen schnupfen und husten mit tränenden Augen und fiebrigen Stimmen; der Friede der Ehe- und Liebespaare wird von verständlicher Gereiztheit beeinträchtigt, während die Cafés von Patienten beherrscht werden, die ihr Kranksein rücksichtslos ausüben“ (ebd., 57). Was der Wiener Journalist Robert Scheu über Karl Kraus geschrieben hat – „Er wurde der Anwalt der Nerven und nahm den Kampf gegen die kleinen Belästiger des Alltags auf, aber der Gegenstand wuchs ihm unter den Händen, er wurde zum Problem des Privatlebens. Es zu verteidigen gegen Polizei, Presse, Moral und Begriffe, schließlich überhaupt gegen den Nebenmenschen, immer neue Feinde zu entdecken, wurde sein Beruf“ (zit. n. Benjamin 1980, 360) –, es gilt auch für den Besucher aus dem Nachbarland: Was man in der großen Stadt von seinen Menschen wahrnimmt, ist immer schon die Beeinträchtigung, für die sie sorgen. Wien ist kein Paradies für Umarmungen. „Tauwetter – Sonntagmorgen von bemerkenswerter Tristesse, im Februar eben, der den alten Kant, als die Vorhänge immer dichter fielen, zu Dankesversen bewegte. Schnee, Schnee; unter den hoffnungslosen Fronten der mißmutige, obligate Spaziergang behoster Hausfrauen mit den in Mänteln steckenden Lieblingen. So habe ich mir Petersburg gedacht“ (Schneider 1958, 196). Wien, als wäre es eine Metropole des Ostblocks: Diese griesgrämige Bemerkung fällt oft bei der Betrachtung seiner Nachkriegszeit.

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      Attersee stehend in der Meisterklasse Eduard Bäumer an der Wiener Hochschule für angewandte Kunst. 1961

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      Porträt H. C. Artmann. 1956. Fotografie von Franz Hubmann

      „wo is den da greissla?“ ist ein Stück Lyrik betitelt, in dem sich H. C. Artmann 1958 mit einer schwarzen Tinte aufschreibt, was seine Stadt ausmacht. Auch bei Artmann ist es Sonntag, und „de sundeg“, wie er es mundartdichterisch