Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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Balkon markiert die vierte Seite des Treppenhauses, von hier aus ergibt sich der beste Blick auf das zentrale Werk des Traktes, gemalt vom Meister selbst: ein Porträt von Ingried Brugger, der jetzigen Hausherrin, samt Jules, dem tibetanischen Tempelhund. Gemälde gibt es zuhauf in diesem Prachtbau, wenige indes stammen von Attersee. Gehängt sind sie in erstaunlich strenger Systematik: Im Foyer wird man stilecht empfangen von Gustostücken der Jahrhundertwende, von einem Rückenakt des belgischen Symbolisten Willy Schlobach und einem 1899 ins Pastell gebannten Doppelporträt von der Hand des Wiener Gesellschaftsmalers Franz Hohenberger, das zwei Schwestern aus der Dynastie des Sektherstellers Kattus zeigt. In der Küche prangen Küchenstillleben, eines der Gästezimmer ist allerliebst ausgestattet mit Frauenakten sowie, als ließe sich darin eine Logik greifen, einem Leopardenfell; eine andere der im zweiten Stock gelegenen Unterkünfte ist tapeziert mit Hundebildern.

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      „Ingried und Jules“. 2003/06. Acryl und Lack auf grundierter Leinwand. 187 x 187 cm

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      Musikzimmer. Fotografie von Kurt-Michael Westermann

      Prachtstück des gesamten Hauses ist das Esszimmer, der ehemalige Salon: In Paris hat der Hausherr dafür eine Speisegarnitur namens „London“, hergestellt von der Wiener Möbelmanufaktur Portois und Fix in dessen großer Zeit um 1900 ausfindig gemacht, mit ausladendem Tisch, an dem leicht fünfzehn Personen Platz nehmen können, mit den entsprechenden Sesseln, mit zwei Vitrinen und einer Anrichte; Attersees 1997 fertiggestelltes Triptychon „Junges Blau“, „Naturbursch“ von 1982 und „Erstes Grün“ von 1991 setzen dieser Schwelgerei in Jugendstil zeitgenössische Akzente entgegen, und es gibt eine Jukebox in bester Fifties-Herrlichkeit, eines jener Ausstattungsstücke, die Attersees Existenz garnieren. Denn jede seiner Wohnungen und jedes seiner Ateliers ist mindestens mit folgenden Unabdingbarkeiten bestückt: mit einem Flügel, einem Großbildschirm samt Abspielgeräten für Video und DVD, einer Musicbox, die ihre besten Tage gesehen hat und meist außer Funktion ist, einem großen Kühlschrank mit entsprechenden Weinvorräten sowie einigen Kommoden und Wandschränken, die der Künstler selbst entworfen hat, erkennbar vor allem an den Griffen in Knopfform, weil nur so, wie er sagt, gewährleistet ist, dass sie auch praktikabel sind.

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      „Junges Blau“. 1997. Triptychon. Acryl und Lack auf grundierter Leinwand. 105 x 315 cm

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      „Naturbursch“. 1982. Acryl und Lack auf grundierter Leinwand. 105 x 105 cm

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      Esszimmer. Fotografie von Kurt-Michael Westermann

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      „Erstes Grün“. 1991. Acryl, Lack und Farbkreide auf grundierter Leinwand. 105 x 105 cm

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      Billardzimmer

      Eine spezielle Trouvaille unter all den kleinen Sensationen der Villa ist der Billard-Salon im ersten Stock. Der Tisch, der die Mitte besetzt hält, ist wie fast immer bei Attersee ein Vintage-Stück, ein Original aus den amerikanischen fünfziger Jahren, hergestellt von Brunswick, dem ehrwürdigen Unternehmen, 1845 gegründet mit Firmensitz in Chicago. Auch die anderen Ausstattungsstücke des Billard-Salons können sich im Sinn authentischer Herkunft sehen lassen. Den Raum und seine Atmosphäre dominieren mehr als fünfzig afrikanische Standfiguren, allesamt von einem halben Meter Höhe bis zu Lebensgröße, meist weiblichen Geschlechts mit ausladenden Brüsten und überbordenden Unterleiben. Links und rechts an den Seitenwänden postiert, vor Bücherregalen, die es selbstverständlich auch noch gibt, blicken sie einen an und sehen einfach zu, als wären sie jene Schauplatzwächter, die vielfältig Attersees Bildwelten verkörpern und die Menschen verwundert und amüsiert beobachten bei ihren verqueren Verrichtungen. Unter den Plastiken gibt es einige Bangwa-Figuren aus der Gegend des heutigen Kamerun, die Attersee besonders liebt: ausdrucksstarke Gebilde, die eine Art Ponderation auszeichnet, die ausbrechen aus der Starre der Stelenhaftigkeit, die ihren Kopf leicht schräg halten und so etwas wie Kontaktaufnahme erlauben. Weitere solcher Figuren gibt es in Attersees Atelier, wo sie, abermals Schauplatzwächter, dem Künstler beim Malen über die Schulter blicken. Das Atelier hat er sich vor einigen Jahren geleistet, einen Zweckbau modernen Zuschnitts, loftartig mit großen Seitenfenstern und einem grasbewachsenen Flachdach für die Camouflage, dessen Untergeschoss von einer weiteren Besucherattraktion markiert wird, einem geräumigen Schwimmbad.

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      Schallplattenzimmer

      Attersee ist ein manischer Sammler. Das Exquisite der Möbel und Ausstattungsstücke wird gekontert von der Exuberanz der Dinge, die es sonst noch gibt. Vis-à-vis des Eingangs öffnet sich die Tür in das Plattenzimmer, hier sind in raumhohen Vitrinen insgesamt 8.000 Schallplatten gelagert, Unterhaltungsmusik von Elvis und den Rock ’n’ Rollern, aber auch von Caterina Valente oder Udo Jürgens: Meine Lieblingsmusik im Unterhaltungsbereich ab Ende der 1950er Jahre ist bis heute Rhythm ’n’ Blues, Soul- und Jazzmusik, etwa Otis Redding, Ruth Brown, James Brown, Isaac Hayes und Charles Mingus. Die 12.000 Scheiben mit den klassischen Werken hat Attersee in Wien aufbewahrt. Schier jeder Raum ist von Regalen eingegrenzt, die die Bücher aufnehmen, von denen Woche für Woche durchschnittlich vierzig Bände angeschafft werden; viele von ihnen sind noch originalverpackt, doch ihr Besitzer versichert seriös, allein die Beschäftigung, sie zu erwerben, signalisiere ihm den Inhalt der Werke. Unterm Dach erwartet einen die nächste Kollektion: In Regalen und vor allem in Papiersäcken eines Wiener Filmladens auf dem Fußboden sind DVDs angehäuft, geschätzte 25.000 Titel, Filme und filmische Dokumente aus allen Sphären des Kinematografischen, die zum einen erworben wurden, weil Attersees Professur an der Wiener Universität für angewandte Kunst auch Trickfilm beinhaltete, und die zum anderen ein weiterer Beleg sind für die Lust an der Aneignung.

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      Blick ins Atelier am Semmering. Fotografie von Kurt-Michael Westermann

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      Atelierhaus am Semmering

      Das Englische unterscheidet beim Sammeln zwei Begriffe: das „collecting“ und das „gathering“. Während jenes die räsonierend-detektivische Suche nach dem einen unbedingten Exponat, das fehlt, in den Mittelpunkt stellt, beinhaltet dieses eine Option auf Wahllosigkeit – oder zumindest auf eine Nonchalance, die davon ausgeht, dass unter dem vielen, das man erwirbt, schon das Richtige mit enthalten sein wird. Attersee ist in diesem Sinn ein Gatherer, einer, der hortet und rafft, und er gibt unumwunden zu, dass es die Erfahrung der Kargheit in seinen ersten Lebensjahren ist, die ihn hier motiviert. Nie wieder Mangel, das ist das Motto, und bis zur Verausgabung wird herbeigeschafft und herangeholt. Manche sagen, es sei krank, wie ich sammle. Das Gegenteil stimmt: Weil ich sammle, bin ich gesund. Und bei aller puren Überwältigung durch die Quantität dessen, was alles da ist, kann ihr Besitzer das Gesuchte mit geübtem Sensorium schnell aufspüren. Bücher, Schallplatten, CDs sind meine Verwandten.

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      Malend im Garten der Villa Alber. Sommer 1992. Fotografie von Kurt-Michael Westermann

      Attersees Villa am Semmering ist ein Ensemble von berückender Stimmigkeit und Eleganz. Sie ist das perfekte Ambiente für jene Reportagen ad personam, die man ganz international Home-Story nennt, die aber besonders ein spezielles Faible der österreichischen Promi-Berichterstattung