Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

Читать онлайн.
Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



Скачать книгу

Amerikanismus«, der ihm die hiesigen Verhältnisse in allzu ungünstigem Licht erscheinen lasse.107 Durch seine Berichte nehme das Vaterland mehr und mehr den Charakter eines »Auswanderungsorgan[s] für die nordamerikanische Republik« an. Die Leserschaft werde deshalb allmählich »amerikamüde«: »Von allen Seiten beschwert man sich über die Anpreisungen des Wirtschaftslebens jener in Wahrheit bis auf die Knochen verfaulten Republik. Die ganze Literatur ist angefüllt mit den Skandalen der dortigen Wirtschaft – nur Dr. Meyer will nichts davon wissen und anerkennt nur das, was man ihm von der korrumpierten Verwaltung in die Hand gesteckt hat. Das ›Vaterland‹ fing schon an lächerlich zu werden.«108

      Zum Dissens in der Sache kamen bald persönliche Animositäten hinzu. Anstatt die Probleme zu lösen, steigerten mehrere Gespräche nur das wechselseitige Unverständnis und die Erbitterung, bis Vogelsang schließlich gegenüber den Geldgebern seine Tätigkeit für das Vaterland zur Disposition stellte. Da er seine »sozialdemokratisch tangierten Ansichten« nicht habe durchsetzen können, habe Meyer sich »immer mehr zu einem bösen Element in der Redaktion ausgebildet«, er habe die Mitarbeiter gegen ihn, Vogelsang, aufgewiegelt und verfolge ihn geradezu mit »unauslöschlichem tödlichen Haß«.109 Graf Thun versuchte eine Zeitlang, in diesem Konflikt zu vermitteln, wußte er Meyers Expertise doch durchaus zu schätzen. Schließlich stellte er sich jedoch auf die Seite Vogelsangs, so daß Meyer keine Wahl sah, als das Vaterland Ende 1882 zu verlassen. Das folgende Jahr verbrachte er damit, die Erfahrungen seiner Amerikareise zu zwei umfangreichen Büchern auszuarbeiten.110 1884 lieh er sich Geld von Freunden und erwarb in Kanada einen Bauernhof von 64 ha, den er durch weitere Ankäufe nach und nach zu einem Latifundium von 2000 ha erweiterte. 1889 mußte er aus gesundheitlichen Gründen das Anwesen verkaufen und nach Europa zurückkehren.111

      III.

      Rudolf Meyers letztes Lebensjahrzehnt war von einer Diabeteserkrankung überschattet, die häufige Kuraufenthalte, meist in Karlsbad, nötig machte. Obwohl durch den Erlös aus dem Verkauf seiner Farm finanziell einigermaßen gesichert, war seine Einkommenslage doch nicht gut genug, um nicht hin und wieder der Aufbesserung zu bedürfen. So nahm er nach seiner Rückkehr für längere Zeit die Gastfreundschaft des Grafen Silva-Tarouca in Anspruch und beriet anschließend den Fürsten zu Salm-Reifferscheidt-Raitz in landwirtschaftlichen Fragen.112 Der Tod seines alten Widersachers Vogelsang am 8. 11. 1890 öffnete ihm auch wieder das Vaterland, dessen Oberleitung seit dem Rückzug Graf Thuns bei Egbert Graf Belcredi lag, zu dem Meyer seit den Tagen ihrer Zusammenarbeit an der Gewerbereform ein gutes Verhältnis besaß.113 Ab wann sein erneutes Engagement beim Vaterland begann und wie lange es dauerte, ist allerdings nicht zweifelsfrei festzustellen, da Meyer seine alte Sigle nicht wieder aufnahm und sich nur unklar über seine neue äußerte. Gegenüber Kautsky gab er sich als Verfasser der mit einem Vollmond gezeichneten Artikel zu erkennen und ordnete sich außerdem die Sigle »-y« zu, unter der er im Volkswirtschaftlichen Teil publiziert habe. In diesem Teil finden sich jedoch meist nur kurze, überwiegend unmarkierte Meldungen und nur selten Texte mit der erwähnten Sigle.114 Dagegen enthält der Hauptteil seit Januar 1891 zahlreiche Artikel, die mit »-y-« gezeichnet sind und sich hauptsächlich auf Frankreich und Belgien beziehen – ein Gegenstand, den Meyer zwar in den späten 70er Jahren bearbeitet hat, der nun aber außerhalb seines Itinerars lag. Mit einem Vollmond markierte Texte finden sich erst zwei Jahre später.115

      Angesichts dieser Unsicherheiten hält man sich am besten an solche Texte, die Meyer mit vollem Namen andernorts publiziert hat. Das betrifft neben den Historisch-politischen Blättern, der Gegenwart und Maximilian Hardens Zukunft vor allem ein Medium, wie es mit Blick auf Meyers politische Biographie überraschender nicht sein könnte: Die Neue Zeit, das Theorieorgan der deutschen Sozialdemokratie. Zwischen Dezember 1892 und Juni 1895, also zwischen den Parteitagen von Berlin (November 1892) und Breslau (Oktober 1895), veröffentlichte Meyer dort sechzehn (!) Aufsätze, darunter zwei, die aufgrund ihrer Länge in zwei bzw. vier Folgen erschienen, ein Volumen, das sonst nur wenigen Autoren zugebilligt wurde.116 Wie ist es zu dieser ungewöhnlichen Verbindung gekommen?

      Was Rudolf Meyer angeht, so hatte er dafür bereits Mitte der 70er Jahre eine wesentliche Voraussetzung geschaffen, nicht nur durch die Aufmerksamkeit, die er dem Emanzipationsstreben des vierten Standes widmete, sondern auch durch den Respekt, den er der wissenschaftlichen Leistung wie den politischen Analysen von Marx zollte.117 Persönliche Treffen mit Marx und Engels in London, ein jahrelanger brieflicher Austausch mit dem Letzteren sowie insbesondere Meyers Kritik am Sozialistengesetz bei gleichzeitiger Einforderung umfassender sozialpolitischer Reformen dürften ein Übriges dazu beigetragen haben, den Hiatus zu überwinden, der normalerweise zwischen Konservativen und Sozialisten bestand. Für den Herausgeber der Neuen Zeit, Karl Kautsky, mag ein fachliches Interesse an Meyers agrarpolitischer Expertise hinzugekommen sein, bezog er sich doch in seinem Buch über Die Agrarfrage mehrfach auf sie, selbst wenn er, wie zu zeigen sein wird, zu anderen Einschätzungen kam.118

      Für Meyer war die Neue Zeit das gegebene Forum, um auf die der europäischen Landwirtschaft drohenden Gefahren durch die wachsende überseeische Konkurrenz aufmerksam zu machen und für eine Agrarreform großen Stils zu werben. Die Verschärfung der Konkurrenz, so der cantus firmus aller seiner Beiträge, treibe auch im Agrarsektor die Konzentration und Zentralisation voran, wie dies nach Marx und Engels in der geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation lag.119 Sei dies zur Zeit der preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vor allem auf Kosten der Bauern gegangen, so habe sich daran eine »Latifundienbildung« durch Aufkauf der Rittergüter durch Großgrundbesitzer angeschlossen.120 Jetzt zeichne sich ein weiteres Stadium ab: die »Entindividualisierung der Unternehmungen« durch den Übergang der Eigentumstitel auf Hypothekenbanken oder durch Umwandlung in Aktiengesellschaften.121 Die Folgen seien verheerend. Der ländliche Mittelstand werde vernichtet122, Kleineigentümer und Landarbeiter würden zur Auswanderung getrieben und die noch Verbliebenen infolge der niedrigen Löhne und der miserablen Ernährung außerstande gesetzt, die von der technischen Entwicklung bereitgestellten komplizierten Feldmaschinen zu bedienen.123 Mit einer derart heruntergebrachten ländlichen Bevölkerung, so Meyer, sei Preußen und damit Deutschland international gesehen nicht mehr wettbewerbsfähig, darüber hinaus auch nicht einmal mehr kriegsfähig, was angesichts der zunehmenden Gefahr eines militärischen Konfliktes mit Rußland, wenn nicht gar eines Weltkriegs, in höchstem Grade bedrohlich sei.124 Da die Großagrarier aufgrund kurzfristiger Profitinteressen künstlich das Getreide verknappten, entweder durch Zwischenlagerung oder durch die Umstellung der Produktion auf »Zucker, Spiritus und Stärke für das Ausland«, sei schon im Frieden mit einer Verteuerung der Lebenshaltungskosten in der Stadt wie auf dem Land zu rechnen, im Kriegsfall mit einem totalen Kollaps der Nahrungsmittelversorgung125 – eine Prognose, die sich einige zwanzig Jahre später auf drastische Weise erfüllte. Einige Tausend Großgrundbesitzer im deutschen Osten, so Meyers Fazit, belasteten das ganze deutsche Volk mit einer indirekten Steuer, weil sie nicht mehr genügend Grundrente erzielten. Hohe Grundrente aber sei

      »kein Staatsinteresse, noch weniger eine Anhäufung von Latifundienbesitz, der das Land entvölkert. Und zudem ist der Staat ohnmächtig, die meisten der jetzigen Großgrundbesitzer zu schützen, er schützt hauptsächlich die Hypotheken-Aktien-Banken und hilft ihnen, die subhastirten Großgrundbesitzer auszukaufen, ohne daß sie selbst dabei zu Grunde gehen. Das hat Rodbertus mit Trauer geahnt und zu vermeiden gesucht. Aber die Regierung hat seine Rathschläge nicht befolgt. Und so wird es bald kommen, daß die Söhne und Enkel der Expropriateurs der Bauern und Büdner ihrerseits exproprirt werden durch die Hypotheken-Aktien-Banken, durch das anonyme, souveräne Kapital!«126

      Hoffnung schöpfte Meyer immerhin aus der Beobachtung, daß in neuen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Kanada zwar nicht der Latifundienbesitz, wohl aber der Latifundienbetrieb bereits im Absterben begriffen sei und in zunehmendem Maße großbäuerlichen Betrieben weiche.127 Der preußische Staat sei deshalb gut beraten, sich auf diese Tendenz einzustellen. Anstatt Rentengüter unter Bedingungen einzurichten, die à la longue zu einer »moderne[n] ländliche[n] Leibeigenschaft« führen würden128, solle er lieber all jene Großgrundbesitzer aufkaufen, welche