Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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einen großen Teil der Grundbesitzer enteigne und sie zwinge, »ihre Gründe an die bisherigen Pächter zu veräußern.« 130 Denkbar sei auch, sie in Domänen zu verwandeln, auf denen der Staat Lebensmittel für das eigene Volk produzieren könne.131 In jedem Fall aber sei es geboten, alle landwirtschaftlichen Großbetriebe mit mehr als 100 ha, unter Umständen auch Kleingüter von 20 bis 100 ha, unter Staatsaufsicht zu stellen; auf diese Weise werde es möglich, Anbaupläne zu entwerfen, die eine ausreichende Ernährung der Bevölkerung mit Getreide sicherstellten.132 Ergänzend sollten alle Zölle auf notwendige Lebensmittel aufgehoben werden, desgleichen die Exportprämien auf Zucker und Spiritus; sollte dies nicht genügen, könnten auch Ausfuhrzölle auf diese Produkte sowie auf Stärke festgelegt werden.133 Weitere Empfehlungen betrafen die Bildung von Zwangsgenossenschaften bezüglich Drainage, Bewässerung und den Einsatz von Dampfpflügen, außerdem die Einführung eines obligatorischen Heimstättenrechts.134

      Zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage empfahl Meyer eine höhere Entlohnung nach englischem Vorbild, bessere Ausbildung und Schutz vor der Konkurrenz durch ausländische Saisonarbeiter, die zumal in Ostelbien die Löhne drückten und à la longue ganz Norddeutschland zu ›polonisieren‹ drohten.135 Wichtig seien außerdem Chancen zum sozialen Aufstieg, insbesondere, indem man Wege eröffne, »den Landlohnarbeiter in einen selbständigen Bauer zu verwandeln, der Herr seiner Productionsmittel und Besitzer seiner Producte ist.«136 Zielten die Anfang der 70er Jahre gemachten Vorschläge noch in erster Linie darauf ab, den Großgrundbesitz zu stärken, indem man ihm seßhaft gemachte, aber nach wie vor auf Lohneinnahmen angewiesene Landarbeiter zur Verfügung stellte, so rückten sie jetzt in eine Perspektive, die vom Gedanken beherrscht war, daß der kapitalistische Großbetrieb seine transitorische Aufgabe erfüllt habe. Wie Max Sering, der zwei Jahre nach ihm Nordamerika bereist und darüber ein umfangreiches Buch publiziert hatte137, sprach auch Meyer von der sinkenden Rentabilität der Riesenfarmen und einer Schwerpunktverlagerung der landwirtschaftlichen Produktion auf die kleinen und mittleren Güter.138 Seine früher geäußerten Bedenken hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit des Kleinbetriebs nahm er explizit zurück. Als er dies geschrieben habe, ließ er Kautsky wissen, habe niemand ahnen können, »dass die ›verflixten‹ Amerikaner solche Feldmaschinen erfinden würden, welche plötzlich den ›intelligenten Kleinmaschinenbauer‹ alle seine Concurrenten schlagen lassen!«139 »Die ›handwerksmäßige‹ Bauernlandwirthschaft«, hieß es an anderer Stelle, erschlage »vor unseren Augen die landwirthschaftliche Fabrik, den landwirthschaftlichen Großbetrieb« und eröffne so die Hoffnung auf eine Wiederkehr der traditionalen Ordnung, mit »schmucken Häuschen für je eine Familie« nebst einigen Knechten, »mit Garten und Feld dabei«. Das klingt wie eine Vorwegnahme des Auenlands der Hobbits bei Tolkien. Auf »große Kraftmaschinen und gewaltige Arbeitsobjekte, wie Schiffskörper und Lokomotiven« wollte Meyer indes nicht verzichten.140

      Im Briefwechsel mit Meyer ließen weder Engels noch Kautsky im Zweifel, daß sie solche Szenarien nicht teilten. Für beide war ausgemacht, was gleich zu Beginn des Erfurter Programms von 1891 als Dogma formuliert wurde: daß die ökonomische Entwicklung sowohl im Handwerk als auch in der Landwirtschaft vom unvermeidlichen Untergang des Kleinbetriebes bestimmt sei.141 Der forcierte Ton, in dem diese Überzeugung vorgetragen wurde, vermochte jedoch kaum die Unsicherheit zu überdecken, die sich in den näheren Ausführungen immer wieder zeigte. Sah sich schon Engels gegenüber Meyer zu dem Zugeständnis genötigt, die Entwicklung des Kapitalismus vollziehe sich im agrarischen wie im industriellen Sektor nicht in klar voneinander getrennten Stadien, weil »der Latifundienbetrieb auf die Dauer den Kleinbetrieb und dieser wieder ebenso sehr und ebenso notwendig jenen erzeugt«142, so kam auch Kautsky, obschon erst einige Zeit nach Schluß der Debatte, zu dem Ergebnis, »daß der Kleinbetrieb in der Landwirthschaft keineswegs in raschem Verschwinden ist, daß die großen landwirthschaftlichen Betriebe nur langsam an Boden gewinnen, stellenweise sogar an Boden verlieren«.143 Der an die Adresse Meyers gerichtete Vorwurf, von der früheren Einsicht in die Unhaltbarkeit des Kleinbetriebes abgerückt zu sein, wurde an anderer Stelle durch das Eingeständnis relativiert, es sei nicht daran zu denken, daß der kleine Grundbesitz in der heutigen Gesellschaft verschwinden und völlig von dem Großbesitz verdrängt werde.144

      Eine Zeitlang sah es so aus, als sei in dieser Frage mit dem Erfurter Programm das letzte Wort in der SPD noch nicht gesprochen, war die Partei doch ein heterogenes Gebilde, in dem sich nicht nur die Anhänger einer an rein proletarischen Klasseninteressen ausgerichteten, der bestehenden Staats- und Rechtsordnung opponierenden Politik sammelten. Vertreten wurde die Gegenposition auf pragmatisch-praktische Weise durch den Führer der bayerischen Sozialdemokratie, Georg von Vollmar, der 1893 in einer Rede über »Die Bauern und die Sozialdemokratie« die Bauern aufforderte, sich zu organisieren und zusammen mit der Arbeiterschaft »den Staat zu zwingen, daß er die Ausbeutungsfähigkeit des Kapitalismus in wachsendem Maße einschränke«, anders ausgedrückt: die bestehenden Kleinbetriebe vor der Konkurrenz schütze.145 Sukkurs kam aus Hessen von Eduard David, der seinen Parteigenossen vor Augen hielt, daß in der Landwirtschaft andere Gesetze gälten als in der Industrie, sei doch »ein Auffressen der kleinen Betriebe durch die mittleren, der mittleren durch die großen und der großen durch die Riesenbetriebe […] als Massenerscheinung in der Landwirthschaft nirgends zu konstatiren.«146 Im Gegenteil sei zu erwarten, »daß die Kleinbauern, da sie in hohem Maße keine Waarenproduktion, sondern Produktion zum Selbstgebrauch treiben, […] wenn nicht konkurrenzfähig, so doch in viel höherem Maße existenzfähig bleiben, als der inländische Großbetrieb, der mit der vollen Breitseite dem Angriff der überseeischen Konkurrenz ausgesetzt ist«. Nehme man die Zwergbesitzer hinzu, so sei deutlich, daß die Zukunft der Landwirtschaft statt durch die Konzentration des Eigentums durch dessen »Pulverisirung« bestimmt sein werde, worauf sich die sozialdemokratische Programmatik einzustellen habe.147 Auch wenn der Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, Bruno Schoenlank, so weit nicht gehen wollte, mahnte er doch seine Partei: »Wir müssen verhüten, daß die nägelbeschlagenen Schuhe der Bauern und der Bauernsöhne sich gegen uns wenden, wir müssen sie neutralisieren, pazifizifieren.«148 Zwei Jahre später gehörte er zu den ersten, die Werner Sombarts Sozialismus und soziale Bewegung einen hymnischen Empfang bereiteten, einem Werk, das die Unanwendbarkeit des Marxschen Systems auf die agrarische Produktion behauptete und für eine »Aufnahme jener kleinwirthschaftlichen Elemente in den Rahmen der Bewegung« eintrat.149

      Aus parteitaktischen Gründen hüteten sich die Genannten, sich direkt auf die Arbeiten eines erklärten Konservativen wie Rudolf Meyer zu berufen. Daß diese gleichwohl bekannt waren und z. T. geschätzt wurden, zeigen indes die Interventionen von Paul Ernst, der Ende der 80er Jahre über die Friedrichshagener Bohème zu den »Jungen« in der SPD gestoßen (und darüber mit Engels in Streit geraten) war, an verschiedenen sozialdemokratischen Blättern als Redakteur gearbeitet hatte und trotz wachsender Distanz zur Partei bis 1898 in der Neuen Zeit publizierte.150 Seit 1891 in brieflichem und persönlichem Kontakt mit Meyer, bekräftigte er dessen These, »daß heute der Kleinbesitz konkurrenzfähiger ist, wie der große«, womit er allerdings allein den kleinbäuerlichen Besitz meinte, nicht den bäuerlichen. Während die Bauern im allgemeinen »Arbeiterschinder« seien und daher als »unsere erbittertsten Feinde« zu gelten hätten, stünden die Kleinbauern in keinem Interessengegensatz zu den Arbeitern. Aufgrund ihrer großen Zahl müsse es unbedingt vermieden werden, sie – etwa durch die Drohung mit Expropriation – zu Gegnern zu machen. »Ihnen müssen wir vielmehr ihren Besitz garantiren, sie durch gewisse Reformen uns geneigt machen – Schuldentlastung etc. – und im Uebrigen hoffen, daß sie im Laufe der Zeit, wenn sie erst der große Produktionsaufschwung auf den rationell betriebenen, im Eigenthum des Staates befindlichen Gütern überzeugt, daß sie bei ihrer überkommenen Weise schlechter fahren, von selbst dem Staat ihren Besitz übergeben werden, um eine bessere Nährstelle einzutauschen.«151 Das liest sich wie eine Paraphrase zu Meyers Texten, und tatsächlich berichtet dieser im Anhang zu seinem Buch über den Capitalismus fin de siècle, daß Ernst ihm während einer längeren Krankheit bei der Abfassung des Werkes assistiert habe.152

      Die reformistischen Dissidenten erarbeiteten 1895 eine Reihe von Vorschlägen, die das Erfurter Programm ergänzen sollten. Diese Vorschläge