Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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zu bezeichnen wären), kannte Stahl ›öffentliche Stände‹ (Beamte, Geistliche und Militär) sowie ›politische Stände‹, bei denen »grundsätzlich das Bewußtseyn der nationalen Gemeinschaft über das des Standes und die Principien über die Interessen überwiegen« sollten.98 Die dafür angemessene Form sei die »reichsständische Verfassung«, das berufene Organ der Vertretung die »Versammlung der Auserlesenen (die Elite) aus allen Ständen«, »die wahre und reine Darstellung (Repräsentation) des Volkes«.99 Basierend auf dem freien Mandat, ausgestattet mit dem Recht auf Zustimmung zu allen Gesetzen, insbesondere zum Staatshaushalt100, sollte diese Vertretung ihrer Natur nach »vorherrschend konservativ« sein, sich zu der eigentlichen »konservativen Macht im Staate« entwickeln und sich nötigenfalls auch gegen die Regierung stellen, wo es galt, »das Bestehende zu schirmen«.101

      Mit der Behauptung, eine reichsständische Verfassung im geschilderten Sinne gewähre »eine bedeutende Ermäßigung und Berichtigung gegen büreaukratische Richtung der Regierung«102, konnte Stahl sich auf den antiabsolutistischen Konservatismus berufen. Zwar setzte er insofern einen anderen Akzent, als er die absolute Monarchie für die im Vergleich mit der altständischen Verfassung höhere Form hielt, sei doch der »Fortgang in der Geschichte von der früheren Autonomie zur echten Centralisation […] ein Fortgang vom niederen Organismus zum höheren Organismus«.103 Da sie sich jedoch im Unterschied zum Despotismus, wie er außerhalb des christlichen Europa verbreitet sei, stets durch »strenge Beobachtung der erlassenen Gesetze, Unabhängigkeit der Gerichte und gesicherte Rechte der Unterthanen« auszeichne, sei ihr ein hohes Maß an historischer Bewährung nicht abzusprechen, wie ihr auch eine sachliche Angemessenheit für besonders heterogen strukturierte Staaten (Österreich) zuzubilligen sei.104 Als optimale Lösung aber könne sie weder aus historischen noch aus sachlichen Gründen gelten. Aus den ersteren nicht, weil die absoluten Könige auf dem Kontinent eben jene »naturwüchsige Ordnung und die stetige Entwicklung« zerstört hätten, die in England aufgrund der »Eingeschränktheit des Königthums« lange bewahrt geblieben sei.105 Aus den letzteren nicht, weil sich inzwischen gut begründete »Forderungen nach Schutz der individuellen Freiheit, nach verbürgten staatsbürgerlichen Rechten, nach politischen und socialen Vollrechten des höheren Bürgerthums, nach unverbrüchlicher Verfassung und Rechtsordnung« erhoben hätten, über die hinwegzugehen arbiträr wäre, »falsche Reaktion«.106

      Die richtige, »gesunde und nothwendige Reaktion«107 konnte nach Stahl nur darin bestehen, die Defizite beider Seiten zu korrigieren, ihre Errungenschaften auf eine neue Stufe zu heben und mit den Anforderungen der Gegenwart zu vermitteln. Die dafür angemessene Regierungsform sei die »ständisch konstitutionelle Monarchie«, die an die alten Stände anknüpfen, sie jedoch in einen »höheren Typus« überführen sollte, »nämlich aus dem bloß privatrechtlichen in den öffentlich-rechtlichen staatlichen Charakter, aus dem blos ständischen in den nationaleinheitlichen Charakter«108; die hierzu passende Verfassungsform die »institutionelle Monarchie«, die durch zwei Merkmale bestimmt sei: die Berücksichtigung ständisch- aristokratischer Elemente bei der Gestaltung der Landesvertretung und die Prävalenz des ›monarchischen Princips‹ gegenüber dem parlamentarischen. Beides zusammen begründe eine im Vergleich zur rein konstitutionellen Monarchie, wie sie von den Liberalen angestrebt werde, höhere Form: »eine wirkliche Monarchie im alten Begriff, selbständig, in voller starker königlicher Gewalt, aber das Königthum umgeben von Institutionen, die es beschränken und ihm ihre eigene Gesetzmäßigkeit und höhere Nothwendigkeit zum Gebote machen.«109

      Was das monarchische Prinzip für Stahl alles implizierte, sei hier noch einen Augenblick zurückgestellt. Zuvor sind die beiden Begriffe in den Blick zu nehmen, die den institutionellen Charakter der anvisierten Verfassung illustrieren: das Verständnis des Staates als einer »Anstalt der Beherrschung« und als »Rechtsstaat«.110 Obwohl in »Beherrschung« bzw. »Herrschaft« ein schwer zu leugnendes voluntaristisches Element steckt, tritt es doch in der Verbindung mit »Anstalt« stark zurück hinter Bedeutungen, die zeitlich auf ununterbrochene Kontinuität zielen, sachlich-strukturell auf Einheit, Ordnung und Gesetzmäßigkeit.111 Dabei ist die postulierte Kontinuität das allgemeinere, der Ordnungscharakter das spezifischere Merkmal, das in den frühen (patriarchalischen, patrimonialen, polizeistaatlichen) Formen des Staates nur schwach entwickelt zu sein pflegt, um erst in den Republiken des Altertums und der frühen Neuzeit (z. B. von den Puritanern) institutionalisiert zu werden, von wo aus es dann, Stahl zufolge, auf die großen monarchischen Flächenstaaten übertragen wurde – und zwar nicht bloß auf die konstitutionell verfaßten, sondern auch auf die absolutistischen. Durch die Republik, so der für einen vermeintlichen Apologeten des Absolutismus immerhin überraschende Befund, sei

      »eine allgemeine Wahrheit weltgeschichtlich zu Bewußtseyn und Existenz gekommen: der anstaltliche (institutionelle) Charakter des Staates, daß der Staat seinen eigenen Bedingungen und Anforderungen, seinen innewohnenden Gesetzen und nicht der bloßen Persönlichkeit der Obrigkeit, sey es monarchische oder republikanische, zu folgen habe, ja daß diese Persönlichkeit der Obrigkeit selbst nur ein Glied der Institution ist. […] Ja der Gedanke des Staates selbst ist republikanisch in diesem Sinne, und ihn kann die Bildungsstufe Europa’s sich nicht wieder rauben lassen.«112

      Die hier angesprochene Errungenschaft zeigte sich empirisch auf doppelte Weise. Zum einen in der Funktionalisierung des Fürsten, dessen Zwangsgewalt nicht länger als »in seiner Person, sondern als im Wesen der Anstalt« begründet zu denken sei (man könnte auch sagen: in seiner Rolle als ›Anstaltsleiter‹)113; zum andern in einer entsprechenden Versachlichung seines Regiments. Der Staat, so Stahls bis zum Aufkommen des staatsrechtlichen Positivismus wirkungsmächtige Definition, solle Rechtsstaat sein, d. h. »die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern«, jedoch die darüber hinausweisenden materialen Postulate »nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäunung.«114 Das hat Stahl den Vorwurf eingebracht, den ursprünglich sehr viel weiter gehenden, auf das »menschlich erreichbare Maß an Vernünftigkeit des Gesetzes« zielenden Sinn des Rechtsstaates, wie er vom Frühkonstitutionalismus entwickelt worden sei, auf ein rein formelles Verständnis reduziert zu haben, das als »Ersatz für die demokratische Partizipation der Bürger« fungiert habe.115 Soweit damit gemeint ist, daß Stahl kein Demokrat war, ist dem nicht zu widersprechen. Im Verständnis des Rechtsstaates jedoch als einer Ordnung, die sich durch die Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz und die Einräumung einer freien Individualsphäre auszeichnet, war die Differenz seiner Vorstellungen zu altliberalen Konzeptionen, wie sie etwa Robert von Mohl vertrat, nicht allzu groß.116 Für einen Liberalismus »im ächten Sinn«, der dem Untertan Sicherungen gebot gegen die Obrigkeit, »selbst gegen die Gesetze des Staates, daß sie nicht in die Sphäre, die nur seiner Freiheit gebührt, eingreifen«, hatte Stahl offensichtlich einiges übrig.117 Und so überrascht es denn auch nicht, bei diesem Bannerträger des Konservatismus auf Elogen zu stoßen, die dem Liberalismus ausdrücklich bescheinigen, »den überkommenen Zustand geläutert, ihn in Einrichtungen und Sitten menschlich gemacht« und sich damit eine eine »unleugbare Berechtigung« erworben zu haben:

      »Ihm verdankt man die Abschaffung der Tortur, der grausamen Strafen und der Leibeigenschaft, die religiöse Toleranz, die Erhebung und das Selbstgefühl der mittlern und selbst der geringern Klassen, die ungehemmte Entfaltung aller geistigen Kräfte, die volle Würdigung, die den menschlichen Werth unabhängig von Stand und Geburt zu schätzen weiß. Dieser weltgeschichtliche Beruf und dieses Verdienst des Liberalismus soll nicht verkannt werden, und es hat deswegen auch nicht an ausgezeichneten Trägern desselben gefehlt in der Epoche, in welcher solches Geltendmachen des Menschlichen die Hauptaufgabe war.«118

      Von hier aus gesehen kann man Stahl zu den Autoren rechnen, die sich für eine Verschmelzung von Konservatismus und Liberalismus in dem von Kondylis bezeichneten Sinn stark gemacht haben.119

      IV.

      Der Rechtsstaat wie auch der ihm korrespondierende nationalökonomische Zustand, das sah Stahl allerdings genauer als die Liberalen,