Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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entdeckt, mehr Freizeit und Wissen gewonnen und so sein natürliches Bedürfnis nach Wohnraum, Ernährung, Erholung und Gesundheit immer besser befriedigt. Und, das sei nun einmal so und durch nichts aufzuhalten, er werde sich zwangsweise permanent weiterentwickeln, Entwicklung aber, Leben generell, Fortschritt und Fortbestehen gäbe es nirgendwo und nirgendwann ohne ein bestimmtes Quantum an Unvorhersehbarem und ohne ein gewisses Risiko.

      Der Fahrer sagte nichts, er fuhr.

      Und ich wiederholte mich, da mir schien, es passte noch immer: Natürliche Bedürfnisse haben ihre Grenzen … was irrigen Wunschvorstellungen entspricht, kennt kein Maß, denn der Irrtum spottet jeglicher Schranke … Bleibt trotz ständigen Fortschreitens immer noch ein unerfüllter Rest, so darfst du sicher sein: Dein Streben ist wider die Natur.

      Unsinn, sagte der Ältere: Wir müssen noch schneller vorwärts, in der Zukunft liegen die Lösungen für unsere heutigen Probleme, unser Wissen muss wachsen, unsere technischen Möglichkeiten, unsere Nahrungsproduktion, kurz: unsere Produktivität, nur so kommen wir da durch.

      Das nenn’ ich Flucht nach vorn mit zurückgebliebenem Denken, sagte der in Deinem Alter.

      Und er nannte es einen eklatanten Bruch des Generationenvertrages, der ja nicht nur die Sorgepflicht der Arbeitsfähigen für die Alten und Kranken enthalte, sondern auch der Gegenwärtigen für die Künftigen. Die heute Verantwortlichen seien tot, wenn deren Kindeskinder leben wollten und nicht könnten, weil wir ihnen eine gefledderte Erde hinterließen und unsere ungelösten Probleme. Plutonium, um nur eins zu nennen, das ihnen noch 25.000 Jahre eine strahlende Zukunft bereite.

      Maßlos übertrieben, sagte der Ältere. Wir hinterlassen ihnen auch die Nuklearmedizin zur Krebsbekämpfung.

      Ich lauschte dem Streit, an dem vieles für mich neu, wenn auch nicht fremd war, und dachte an die Verschwendung und Überhebung unsrer Tage, an Habsucht und Zügellosigkeit, die ständig wachsen wollen, dachte an die marmornen Bäder in Bajä und das nackte Elend nebenan, dachte an die Federn, die erlauchte Gaumen zum Erbrechen reizen, um neuen Platz zu schaffen in den überfressenen Mägen, dachte an den Hunger in der Welt und hörte, wie heute die einen ihre Exkremente mit Trinkwasser hinwegspülen, indes die andern kein sauberes Wasser zu trinken haben und zu Millionen daran sterben.

      Mit der Zügellosigkeit ist es im Grunde, sah ich, so geblieben, wie es war: Erst richtete sie ihre Wünsche auf Überflüssiges, dann auf Naturwidriges, schließlich lieferte sie den Geist dem Körper aus und machte ihn zum Sklaven seiner Begehrlichkeit. Und wenn ich riet, sich von diesem Endlos-Wünschen abzuwenden und die Bedürfnisse auf das natürlich Notwendige einzuschränken, so sah ich jetzt, das reicht nicht aus. Der Ältere erkannte durchaus einige der Gefahren als möglich an, meinte aber, es werde sehr viel für den Erhalt der Natur getan.

      Zu wenig, um zu überleben, sagte der Jüngere darauf.

      Es genüge nicht einmal mehr, langsamer zu fahren, man müsse raus aus dem gefährlichen Gefährt, in dem wir alle säßen.

      Verte! dachte, rief ich und fürchtete zugleich, rückwärtsgewandt geschimpft zu werden.

      Kehre um? fragte der Ältere: Wohin? Zurück?

      Die Wertewende in die Zukunft, sagte der Jüngere. Ohne Wertewandel ist Fortschritt tödlich, Umweltschutz Kosmetik, die das ursächliche Übel überschminkt, das unterm Make-up unbehandelt weiterwächst.

      Wertewandel. Sagte er’s, dachte ich’s? Der Jüngere war’s, mir weit voraus und doch nicht fern. Das anthropozentrische sei durch das ökologische Weltbild zu ersetzen: ein Vorgang, vergleichbar mit der Ablösung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltbild. Die Physik, spätestens desavouiert seit der Atombombe, könne nicht länger Leitwissenschaft sein. Die Ökologie müsse integraler Teil allen Denkens, Planens und Handelns werden. Nötig sei eine neue Ethik für Naturwissenschaft und Technik. Nötig, das Verhältnis des Menschen zur Natur grundsätzlich neu zu formulieren. Fort mit der Hybris, dem Herrschen, Unterdrücken, Ausbeuten und Foltern (Bacon, Vater der Wissenschaft genannt, habe aufgefordert, die Natur auf die Folter zu spannen, um ihr so die Geheimnisse zu entreißen). Hin zur Sanftheit, zum Lauschen, Betrachten und Bescheiden (bei der Photosynthese der Pflanzen würden 40 Prozent der Sonnenenergie genutzt: ein Wert, von dem der umso vieles klügere Mensch nur träumen könne). Umweltverträgliche Produktion. Sanfte Energien. Planetare Solidarität. Alternativkonzepte. Neue Werte: ein alter Baum sei notwendiger und schöner als ein neues Möbel, eine feuchte Wiese nützlicher als ein paar Zentner Fleisch, ein lebendes Nashorn wichtiger für den Fortbestand der Gattung Mensch als die aus seinen Hörnern gewonnenen Potenzplacebos. Alle Güter und Lebewesen seien gleich zu achten, sie hätten den gleichen Wert, der Mensch sei nicht das Maß der Dinge.

      Ganz recht: Als Verwandte hat uns die Natur geschaffen, aus den gleichen Stoffen und zur gleichen Bestimmung, und es gibt kein Gut ohne sittlichen Rang, und dieser ist überall der Gleiche. Ich fühlte mich verstanden. Reichlich spät, das gab ich zu, Lucilius, doch immerhin.

      In die Schwärze uns voraus dehnte sich ein Streifen Licht, weit hinten. Der Morgen, mir graute. Schälte Formen aus der Nacht: Bäume, Hügel, Häuser. Wir aber rasten unvermindert schnell zum Horizont, der sich entfernte. Morgen-Grauen: Wohin geht die Fahrt? Der Fahrer fuhr, sagte nichts, das hatte ich wohl schon geschrieben. Der Ältere aber schien ein Ziel, weit vorn im Morgendunst, zu kennen: Womöglich war’s der Horizont, den er zu erreichen suchte.

      Unbeirrbar, hörte ich ihn murmeln, vorwärts.

      Er hatte hier das Sagen, schien mir, der Jüngere die Worte. Der Mensch, so ließ er sich schon wieder hören, sei zerstörerisch: Er habe das Maß verloren und kompensiere den Verlust nun durch die Gier, sich alles einverleiben zu wollen. Unersättlich, um die bleibende Leere zu füllen. Die verlorene Mitte treibe ihn, sich zu zerstreuen. Die einen häuften Dinge, andre Geld, wieder andre fräßen, söffen aus Verzweiflung, flüchteten in Süchte, irrten manisch durch die Welt, besichtigten das Ferne, um sich selbst nicht nah zu kommen. Alleinsein sei für sie bedrückend, Stille nicht auszuhalten. Dagegen gäbe es die Unterhaltungsindustrie. Billigkultur, minderwertige, synthetisch hergestellte Massenware globalen Verschnitts, die sättige und nicht nähre, die ruhigstelle und nicht beruhige, die Leben imitiere und nicht belebe, die Zeit nicht nutze, sondern vertreibe. Es sei, als spiele sie so laut und lustig, um das Röcheln der Natur zu übertönen.

      Der einmal eingeschlagene Weg, murmelte der Ältere.

      Der Mensch, setzte der Jüngere seine Rede fort, werde wohl auf Überflüssiges verzichten müssen: Er, Nutznießer und Opfer seiner erstaunlichen wie erschreckenden Produktivität, sähe sich immer weniger imstande, den Selbstlauf der Prozesse zu steuern. Technologie gehe ihm vor Ethik. Instrumentelles Denken vor Moral. Gegenwart vor Zukunft. Wissenschaft vor Gewissen. Was er vorantreibe, erlebe er als Fatum, vor dessen Folgen er die Augen schlösse, zumindest eins.

      Im Vorwärtsschreiten Unvollkommenheiten überwinden, sagte der Ältere. Mit weniger mehr produzieren.

      Der Mensch als der Treibende, der immer mehr wolle, mehr Dinge, mehr Bequemlichkeit, mehr Unterhaltung. Wissenschaftsfasziniert, fortschrittsgläubig, wachstumsbesessen und nicht bereit, die naturverheerende Entwicklung durch eigenen Verzicht zu stoppen.

      Wo und was soll wann und wem gestrichen werden? fragte der Ältere. Und wer soll das entscheiden, wer das vorschreiben und durchsetzen?

      Fast hätte ich gesagt: Vorschriften zu geben, wird demnach gar nichts fruchten, wenn du nicht vorher alles diesen Vorschriften Entgegenstehende beseitigt hast. Doch ich schwieg und konnte es, da der Jüngere sagte: freiwilliger Verzicht, nicht verordnete Askese. Die Einsicht, dass es wichtigere Güter gibt als die käuflichen. Wasser. Oder Luft.

      Wasser und Luft, sagte der Ältere, konsumiert der Mensch wie andre Lebensmittel auch. Und er entnimmt sie der Natur. Das hat er getan, seit es ihn gibt. Und daran wird sich auch nichts ändern.

      Entnehmen klingt so mild, sagte der Jüngere. Ausrauben muss das heißen. Die Natur verarmt, der Mensch bereichert sich auf ihre Kosten. Und Reichtum wird gleichgesetzt mit dem Mehren materieller Güter. Unbegrenztes Wachstum innerhalb naturgegebener Grenzen: das ist der Punkt. Verzicht