Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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den Kopf, griff ein Warmhaltegefäß und eine Brotbüchse und aß. Die beiden anderen entfernten sich, miteinander diskutierend.

      He, du, willste mal? fragte der Fahrer, als wir allein waren.

      Ich weiß nicht, sagte ich und wusste, dass ich wollte.

      Wir wechselten die Plätze. Er zeigte mir, wo ich zu lenken, bremsen, kuppeln und Gas zu geben hatte, und los ging’s. Tatsächlich wie von selbst bewegte sich das Ding und mich, der ich nicht mehr tat, als mit dem Fuß auf ein Pedal zu tippen. Minimale Muskeltätigkeit, die Kräfte freisetzte, die meine eigenen weit überstiegen. Und ich der Herr darüber. Ich fuhr schneller, drückte das Pedal bis zum Anschlag durch und meinte bald zu fliegen. Rausch der Geschwindigkeit. Ich nahm die Straße vor mir wahr, seitlich jedoch verwischte, verhuschte alles, zog sich seltsam in die Breite, ein Bildbrei unkenntlicher Details. Es machte Spaß, Lucilius, und wie!

      Ich habe überlegt, ob ich Dir meine Verführung verschweigen sollte. Doch was nutzte das? Handelst du schändlich, was macht es dann noch aus, wenns keiner weiß? Du selber weißt es ja. Diesen Mitwisser zu verachten, das eigentlich bedeutet, elend zu sein.

      Mir war, als wäre ich gewachsen. Hätte mich vervielfältigt. Ein Riese nun, Gigant. Ein Gott. Allmächtig. Insekten schlugen auf die Scheibe vorn. Schmetterlinge wurden in den Motorraum gesogen, ein Vogel prallte auf, und dann die Katze: plötzlich vor mir auf der Straße. Und ich fuhr direkt auf sie zu, der Fahrer riet (mit vollem Mund), auf keinen Fall zu bremsen oder auszuweichen. Draufhalten! schrie er, sich verschluckend, voll drauf! Die Katze mir voraus, die gelben Augen, darin die Angst. Das Gift in mir. Es war, als führe ich in dieses Gelb hinein. Ich das Gift. So also war das Ende, dachte ich, erschrak: vor mir, dem Töten noch im Sterben. Die Katze duckte sich, da war es schon geschehen: ein dumpfer Schlag vorn, ein Poltern unterm Wagenboden, aus. Mit ihr. Mit mir. Der Traum ein Leben. Das Leben ein Verrat. Nicht mich versteh ich, doch die anderen besser. Zu spät, Lucilius. Doch Du, Du hast noch Zeit, das Deine Dir zu denken. Und nun leb wohl.

      

Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 11/1989

       MEHR ALS GLAUBEN, MEHR ALS HOFFEN

      Rede Erlöserkirche Berlin, 28. Oktober 1989

      Als vor 18 Jahren Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich 28. Dem Neuen damals wollten viele glauben. Er ermunterte zu Meinungsstreit, doch zeigte sich sehr bald, er hatte es nicht ernst gemeint: die öffentliche Widerrede blieb weiter unerwünscht. Er verkündete, es gäbe von nun an keine Tabus mehr für Kunst und Literatur, doch blieben uns Zensur, Verbot und Vormundschaft. Er referierte über Volksverbundenheit, Lebensnähe, Realismus in der Politik und besah sein Volk am liebsten von Tribünen, wie es, straff organisiert, spontan an ihm vorüberjubelte. Er versprach den Bürgern kühn eine bürgernahe Bürokratie, doch war’s verbal die Quadratur des Kreises, da jegliche Büroherrschaft zum Eigenleben neigt und Sekretär, zum Beispiel, von lat. secretus kommt und abgesondert, geheim heißt. Schließlich hob er ab in Sphären, wohin ihm das unreife Volk, der große Lümmel, auch Massen genannt, nicht zu folgen vermochte, und während er das politische Strafrecht um drei dehnbare Paragraphen bereicherte, rief er seinem Volke munter zu, es habe zu keiner Zeit so frei geatmet wie eben hier und jetzt, unter seiner Führung. Demokratie, sprach er, wir hätten sie schon, die sozialistische, und nannte als Beweis die Mitarbeit in Küchenkommissionen. Die Statistik produzierte Wachstumszahlen, die auf dem Weg nach oben dynamisch schwollen, indes der reale Mangel unten blieb und wuchs. Transparente statt Transparenz. Losungen statt Lösungen. Das alles ist Geschichte, doch unser Leben auch.

      Als am 18. Oktober 1989 Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich 46. Des Neuen Rede geht von lebensnahen Medien, von Dialog ohne Tabus, von Realismus in der Politik. Noch nicht genug, doch einiges ist anders, vor allem eins: Sehr viele sind 18 Jahre klüger. Diesmal wollen sie dem Neuen nicht nur glauben müssen, wollen nicht nur hoffen dürfen, sie bitten nicht, sie fordern: Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit. Und sie misstrauen eilig aufpolierten Worthülsen wie: … die sozialistische Demokratie noch wirksamer entfalten … Noch wirksamer: Als hätte es die schon gegeben. Der alte Apparat greift zur Puderquaste und schminkt die grauen Wangen jugendlich, doch diesmal, sehen wir, lassen sich die Vielen mit Kosmetik nicht besänftigen und fragen nach: nach der Struktur des Staats. Sie fragen friedlich auf der Straße und beharrlich im Diskurs, damit sie künftig mehr als glauben, mehr als hoffen können. Sie wollen wählen, was Auswahl und Abwahl voraussetzt. Und so demonstrieren sie dem bislang allmächtigen Übervater, was er ist ohne seine Kinder, die längst erwachsen sind und mündig: ein einsamer und ohnmächtiger homo hierarchicus. Jetzt hat er die einmalige Chance, herabzusteigen und vom erstarrten Schemen zu einem lebendigen Wesen zu werden. Wir stehen bereit, ihn hier unten herzlich zu begrüßen.

      

Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 2/1990

       DER KRANKE PATIENT

      Rede Schriftstellerverband der DDR, 2. November 1989

      Der Schriftstellerverband ist krank. Sich selbst paralysierend liegt er mit inneren Krämpfen darnieder. Statt Stimme der Erneuerung zu sein, ist er verstummt. Einzelne Mitglieder sprechen, der Verband aber schweigt. Ein beschämender Vorgang für die Literatur in der DDR, da zu gleicher Zeit ein Volk seine vormals verordnete Sprachlosigkeit überwindet. Der Patient behauptet, nie ernsthaft krank gewesen zu sein, sträubt sich seit Wochen gegen Anamnese, Diagnose und Therapie und wähnt, jeder, der sich seinem Krankenlager nähert, wolle ihn mit der Medizin meucheln.

      Dieser Verband sollte an der Spitze der Veränderer stehen, sonst fällt er aus der Zeit. Dass er da nicht steht, ist, wie ich meine, ein Problem seiner unveränderten Spitze. Erinnern wir uns der äußerst zurückhaltenden Resolution vom 14. September 89 hier im Berliner Verband und der Abstimmung darüber. Wer stimmte dagegen? War’s nicht der Präsident, der Bezirksvorsitzende und drei weitere Vorstandsmitglieder? Lesen wir die Verlautbarung des Präsidiums, eine inhaltlich und sprachlich lendenlahme Erklärung, die von den anderen Künstlerverbänden weit überholt ist.

      Ich schlage vor, erstens, substanziell zu werden und öffentlich zu erklären, was wir Schriftsteller konkret verändert sehen wollen und wie wir uns einen lebensfähigen und lebenswerten Staat vorstellen. Darin sollten freie Wahlen, Pressefreiheit, Reisefreiheit für alle, Zulassung alternativer Parteien, Kontrolle aller staatlichen Organe, Informationsfreiheit und Abschaffung jeglicher Zensur klar und ohne jegliche Einschränkung genannt sein. Zweitens: Ein außerordentlicher Kongress ist einzuberufen. In Vorbereitung dieses Kongresses sollte eine Statutenkommission gebildet werden, die ein neues, der gewachsenen Reife der Gesellschaft adäquates Statut erarbeitet. Dieser Kommission sollen Mitglieder angehören, die von der Basis direkt delegiert werden. Auf diesem Kongress sollten zudem alle Gremien des Verbandes neu gewählt und das neue Statut verabschiedet werden. Alle sollten der Direktwahl unterliegen. Es geht um eine radikale programmatische, strukturelle und personelle Erneuerung des Verbandes. Er darf nie mehr durch kaderpolitische Verquickung von Parteifunktionen und Verbandsmandaten ein abhängiges Vollzugsorgan einer Partei und ihrer Kulturpolitik sein!

      Wer solches sagt, wird schnell des Versuchs der Spaltung bezichtigt. Ein altes Muster. Gewollt aber ist nicht die Spaltung, sondern ein einiger, starker Verband, den wir als kollektiven Interessenvertreter bitter nötig haben werden. Ein Verband, der vordenkt, nicht nachhinkt. Nicht Ende also, sondern Anfang. Nicht Spaltung, sondern Veränderung. Wer aber Veränderung Spaltung nennt, will keine Veränderung.

      Nicht alles braucht geändert zu werden. Was gut war, soll gut bleiben. Doch Anachronismen müssen über Bord. Es geht um einen neuen Stil, neue Regularien der Gesellschaft. Ein Beispiel: Unser aller Präsident ging beim „Sputnik“-Verbot zu dem, der das verbot. Oder er erklärte sich bereit, den bedrückenden Fall einer von der Stasi