Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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von Rohstoffen, Energie, Land und Lagerplatz für Abfälle. Die Umwelt wird so Unwelt werden.

      Links und rechts der Straße Bäume, Wald. Ein schütteres Gebilde: verkahlte Kronen, gilbende Blätter, skelettiertes Geäst.

      Wissenschaft und Technik, sagte der Ältere, stellen lediglich Wissen und Mittel für Zwecke bereit. Die Zwecke jedoch werden nicht von ihnen, sondern von der Politik gesetzt, letztendlich aber von der herrschenden Kultur.

      Das delegierte Gewissen, sagte der Jüngere.

      Du, Lucilius, weißt es so wie ich: Das ist ein Unding. Gewissen meint den inneren Mitwisser, den Zeugen jeder schlechten Tat in jedem Einzelnen von uns. Den kann man keinem andern einfach übergeben. Und selbst wenn man’s versuchte, wird kein Politiker, kein Wissenschaftler die Gesamtverantwortung übernehmen. Siehe Caligula, Nero und weitere Sehenswürdige im Potentaten-Panoptikum der Weltgeschichte. Und täte einer diesen rhetorischen Kraftakt, es bliebe Imponiergehabe, schöne Floskel, ebenso viel wert wie die Versicherung des Älteren, die Verantwortung für die überhöhte Geschwindigkeit zu tragen. Er saß hinten, weit weg von Bremse, Gaspedal und Lenkrad, und hatte keine Möglichkeit, irgendetwas zu tun, rechtzeitig zu reagieren im Falle der Gefahr, er hatte nur die Macht, dem Fahrer Richtung und Geschwindigkeit anzuweisen. Tatsächlich trug der Fahrer die Verantwortung, denn nur er war wirklich in der Lage, etwas zu tun. Der aber fuhr, wie ihm geheißen war, schweigend, mit dem Gleichmut der Gewöhnung im Gesicht, das weder Zustimmung noch Ablehnung verriet. Zeige mir den, der kein Sklave ist: der Begierde, des Geizes, der Geltungssucht, des Machtstrebens, der Hoffnung, der Furcht, der Gleichgültigkeit.

      Felder beidseits nun. Soweit das Auge reichte, Monokulturen. Kein Weg, kein Baum, Bäche betoniert, begradigt. Ungeziefer zu Lande und zu Luft bekämpft mit tödlichen Dosen, die anderen Kräuter, das Getier, nützlich auch den Menschen, zu dessen kurzfristigem Gewinn mit, für den er später zahlen muss.

      Kompetenz, sagte der Ältere. Es wäre besser, alles den Fachleuten zu überlassen.

      O weh, Lucilius. Ich hielt, innerlich errötend, den Atem an, da ich fürchtete, zitiert zu werden mit dem stolzen Satz von mir: Über Dinge von Rang muss ein Geist von Rang entscheiden. Dabei dachte ich natürlich an mich selbst, wen sonst. Gottlob hielt sich der Kompetente allein für kompetent genug, dass er eines Autoritätsbeweises nicht zu bedürfen glaubte und mich, den er ohnehin nur flüchtig wahrnahm, nicht zitierte.

      Unmündigkeit, sagte der Jüngere. Selbstverschuldete Unmündigkeit: Ich habe den Satz, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit bisher immer falsch gelesen. Unverschuldete Unmündigkeit, las ich, obwohl es anders schwarz auf weiß geschrieben stand. Unverschuldet unmündig, las ich und dachte an die wechselnden Herren Vormünder, die immer ein Interesse an der Ohnmacht des massenhaft Einzelnen hatten und sie aus ihrer Vogelperspektive auch so nennen: die Volksmassen, ein emsiges Gekrabbel am Boden. Unverschuldet unmündig – das nahm ich bis vor Kurzem auch für mich in Anspruch und suchte die Verantwortung außerhalb von mir, bei denen da oben, den Erdengöttern, Häuptern, Ernannten, Vertretern, den Befugten und Geheimnisträgern, und hatte einen Grund, nicht selber verantwortlich zu sein und nichts zu sagen und zu tun.

      Wir fuhren durch eine große, graue Stadt: dicke Luft, brennender Müll, brüllender Verkehr. Die Menschen hastend, mürrischen Gesichts, so mürrisch, dass man denken konnte, Leben sei ihnen Last, nicht Lust: Jäger und Sammler, hochzivilisiert.

      Inkompetenz, sagte der Ältere.

      Unwissen, sagte der Jüngere. Verantwortungsbewusstsein braucht Wissen. Und Wissen braucht Informationen: Daten, Vergleiche, Schadensbilanzen, der Blick aufs eigene Nahe so scharf wie der aufs fremde Ferne.

      Es ist Hoheitsaufgabe jedes Staats, sagte der Ältere und hob die Stimme ein klein wenig, mit seinen Zahlen so oder so umzugehen. Schließlich trägt er die Verantwortung fürs Ganze.

      Er allein? Und wer ist ER überhaupt, der Staat? Die Führung? Der Apparat? Die Bürger? fragte der Jüngere. Natur ist keine Domäne. Wir alle sind ihr Teil und also jeder einzeln auch verantwortlich. Verantwortlichkeit aber steigt mit dem Grad der Mündigkeit.

      Wenn hier und da diese oder jene Zahl zurückgehalten wird, sagte der Ältere, dann allein im Interesse der Menschen: um sie nicht zu beunruhigen und unnötige Ängste zu wecken. Um Zahlen zu verstehen und komplex einzuschätzen, braucht es Wissen, Überblick.

      Und beide brauchen Informationen, sagte der Jüngere. Da liegt der Hund, der sich in den Schwanz gebissen hat, begraben.

      Am Rande der Städte Fabriken. Ein Zementwerk: die Landschaft in weitem Umkreis gestäubt, gestorben. Bäume wie Totenmale aus Beton.

      Weitere Vervollkommnung des prinzipiell Bewährten, sagte der Ältere.

      Neues Denken, sagte der Jüngere.

      Dem Volk gefällte Entscheidungen geduldig erläutern.

      Daran beteiligen, sagte der Jüngere.

      Umerziehen, der Ältere.

      Informieren, sensibilisieren und eigene Schlüsse ziehen lassen.

      Laienhafter Eifer moralisierender Schöngeister, sagte der Ältere und lächelte. Übrigens ist die Ökologie auch eine Wissenschaft.

      Und Demokratie, sagte der Jüngere, eine Kunst.

      Ja, die Künstler! rief der Ältere. Heulen. Zähneklappern. Klagen mit der Lust am Untergang. Genießen der Wehmut, leicht morbid. Kassandrarufe.

      Eine Chemiefabrik: Man roch sie schon, bevor sie sich in ihren satten Farben zeigte. Der Ältere rümpfte die Nase und wies den Fahrer an, das Fenster dicht zu schließen.

      Ganz so, fuhr er fort, als wären Wissenschaftler ohne Ethos. Nicht mal jene, die für die Rüstung arbeiten, haben ein Interesse am Krieg.

      Pervers, sagte der Jüngere.

      Dialektik, sagte der Ältere. Zusammenhänge, Abhängigkeiten, Widersprüche, Zwänge, Notwendigkeiten. Das alles hält uns im Griff. Noch. Schwärmer werden das nicht erkennen, geschweige denn ändern, sondern nur exakte Wissenschaft.

      Darauf schwieg der Jüngere, mir schien, entnervt, und ich dachte, lieber sich selbst bessern wollen als die Götter, und weiter dachte ich, dass nicht Wissenschaft noch Kunst allein die Welt im Ganzen fassten. Aber die Kunst, mein lieber Lucilius, hat den unschätzbaren Vorteil, das Recht und die Pflicht, unorthodox, querdenkerisch, apodiktisch, radikal moralisch zu sein, da ihr Wesen weder zweckhaft war noch jemals sein wird.

      Ein Tagebau. Das gigantische Erdloch eine schrundige Wunde. Eisenungetüme fraßen Landschaft, schaufelten Felder, Wälder, ganze Dörfer, Bäche, Wiesen, Wege in sich hinein und schieden sie hinter sich wieder aus. Eine zerkleinerte, amorphe Masse, leblose Halden kilometerweit, die Folgelandschaft eine Steppe: ohne Gesicht, auch rekultiviert der Geschichte beraubt, exkrementiert.

      Wählen Sie, sagte der Ältere und zeigte freudlos nach draußen. Das hier. Oder das da vorne.

      Wir sahen Kühltürme in der Ferne und näherkommend ein Atomkraftwerk. Da roch nichts, da war kein Rauch zu sehen und kein Lärm zu hören. Blumenrabatten, sauber gefegte Wege, beschnittene Büsche, viel Grün ringsum, hell gestrichene Gebäude, Kühe, in der Nähe grasend, friedlich, das setz ich noch hinzu, ein Fluss, der still vorüberfloss. Ein freundlicher Eindruck, den nur der hohe Stacheldraht um die Idylle störte. So hoch, als lagere dahinter eine besonders gefährliche Waffe.

      Das die Alternativen, sagte der Ältere.

      Wenn Wissenschaft nicht mehr zu bieten hat, sagte der Jüngere und schwieg.

      Dörfer, kaum zu unterscheiden voneinander. Bauten aus Beton, genormt. Gasthäuser, die hießen: Wildschütz, Anglertreff, Jägereck.

      Apropos, sagte der Ältere. Ich habe Hunger.

      Ein weiteres Dorf, der Teich verschlammt, müllgesäumt. Storchennester, keine Störche.

      Hunger und Durst, sagte der Jüngere. Müssen muss ich auch.

      Na also, sagte