Название | Das Blöken der Wölfe |
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Автор произведения | Joachim Walther |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783954629664 |
Das bloß Tatsächliche: Utopie ist offensichtlich nicht ersetzbar durch Bruttosozialprodukt und Wachstumsraten, nicht durch kurz- oder bestenfalls mittelfristige Politikinhalte, nicht durch Diesseits und Jenseits versöhnende Religionen. Gegen die Macht des Tatsächlichen, gegen die Zwänge des Entweder-oder, in denen wir Täter und Opfer zugleich sind, muss ein Kraut wachsen bei Strafe des Untergangs, der ein Suizid wäre: das heilende und kräftigende Wunderkraut der Utopie, des Hoffens, des Tagträumens nach vorn.
Die Pflanze scheint nur ausgestorben mit dem mondialen Scheitern der missratenen Praxis einer ursprünglich menschenfreundlichen Idee. Und selbst dort lebt sie weiter als utopische Spore, so im marxschen Kernsatz, dass die Freiheit des Einzelnen die Bedingung für die Freiheit aller ist. Sie lebt als Spore in Mythos und Märchen, in den libertinen Sozialutopien wie in der Poesie der Völker, und was 2.000, 3.000 Jahre widrige Wetter überstand, überlebt auch (und ziemlich gelassen) die historisch läppischen 40 Jahre pervertierten Sozialismus. Zwar ist das Bild der Utopie so schwer beschädigt, dass man nicht zu Unrecht meinen könnte, das größte denkbare Übel sei die Realisierung einer Sozialutopie, zwar sind die heroischen Illusionen der Gutgläubigen bitter enttäuscht, der mythische Gehalt pseudowissenschaftlich reduziert von eilfertigen Philosophen, die sich selbst als Ideologieproduzenten bezeichneten, womit sie ihren Salto rückwärts trefflich selbst benannten. Im Kern aber lebt die Spore, verkapselt zwar und ziemlich unansehnlich, doch keimfähig bei klimatisch günstigen Bedingungen. So überlebt die Utopie im Stillen, sie ist vertagt, womöglich gar verjährt, verbannt ins Reich des reinen Wünschens, in die Welt der bloßen Worte, ins Erinnern an das, was kommen soll.
Wärme braucht’s zum Keimen. Und Feuchtigkeit. Ein multikulturelles Biotop, erwärmt von globaler Solidarität, befeuchtet aus den Quellen des Mythischen wie des Antizipatorischen. Und sehr wahrscheinlich beseelt von einer neuen Naivität, die nicht notwendig infantil sein muss, massenhaft bevölkert von einem Geist, wie ihn Charles Fourier beschreibt.
„Der menschliche Geist, der fünfundzwanzig Jahrhunderte lang an dieser Aufgabe gescheitert ist, wird vor einem neuen Kampf gewiss zurückschrecken. Doch wenn Heerführer und Soldaten niedergeschlagen sind, bedarf es zuweilen nur eines Kindes, um neue Hoffnungen zu wecken. Der zehnjährige David richtete Israel auf, als er Goliath besiegte. Jeanne d’Arc, ein einfaches Hirtenmädchen, begeisterte die französische Armee und führte sie zum Sieg … Gerade meine Unscheinbarkeit gibt mir das Recht, die Zügel in die Hand zu nehmen, wenn alle Welt sie schleifen lässt, wenn der menschliche Geist nur noch seine Ohnmacht beklagt und mit Voltaire ausruft: Welch tiefe Nacht umgibt noch die Natur!“
Der Ausgang des Menschen aus dieser selbstverschuldeten Umnachtung als der Beginn eines neuen Age of Enlightenment im geistigen Biotop Europa? Fourier, der Unwissenschaftliche, der Utopist (was die Virtuosen der instrumentellen Vernunft selbstredend synonymisch gleichsetzten), sah diesen Ausgang aus Ohnmacht und Unmündigkeit in der Versöhnung von Nützlichkeit und Vergnügen, in der Synthese von Arbeit und Harmonie und der Kreation sogenannter „sozialer Leidenschaften“. Die Aufhebung der Entfremdung, die befreite Arbeit – eine Utopie, ferner als je. Das Angebot in Ost und West hieß: Freizeit statt Freiheit. Im Westen mehr, im Osten weniger, doch hier wie da zu wenig. Freizeit als Freiheit von Arbeit, als reduzierte Arbeitszeit. Es geht jedoch um die Freiheit der Arbeit selbst.
Wie auch immer die neue Utopie heißen, aus welchen Quellen sie sich speisen und wo auch immer sie entstehen mag, sie wird freiheitlich, ganzheitlich, interdisziplinär und global sein müssen, um konkret zu sein.
Literatur und Poesie waren immer utopische Laboratorien und sie werden es, ist zu hoffen, bleiben. Der beste Teil der deutschen Literatur, die in den letzten 40 Jahren in der nun kollabierten DDR geschrieben wurde, hatte dieses utopische Potential in sich. Vielleicht war es unter anderem das, was sie auszeichnete und was, so wünschte ich, auch nach den Vereinigungen der beiden Deutschländer und Europas, die nicht der Weisheit letzter Schluss sein können, erhalten bleibt.
Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 2/1991
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