Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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       125. MORALISCHE EPISTEL

      Zum letzten Mal: Seneca grüßt seinen Lucilius. Sei es ein Ende oder ein Hinübergleiten in etwas anderes, ich fürchte es nicht, da ich nirgendwo so eingeengt sein werde wie hier. Der befohlene Freitod, dessen Art ich selbst bestimmen darf, lässt mir Zeit, Dir den Traum von meinem Ende zu beschreiben, der mich einige tausend Jahre in die Zukunft riss, unsere.

      Ich also in der von uns fortgeschrittenen Welt, in einem Fahrzeug. Genannt Automobil. Selbstbeweger: ein hybrides Wort. Du musst Dir vorstellen, es war Nacht, über uns kein Mond, kein Stern und also eine Schwärze uns voraus, die dem Auge vorenthielt, was sie in sich barg, und das konnte alles sein: das Gute wie das Böse, Glück und Gefahr, Anfang und Ende. Unter uns die Straße, grau und ölbefleckt, sie jagte unaufhörlich auf uns zu und tauchte unter uns geräuschlos fort, kein Stein, kein Halm auf ihr bot den Blicken halt, alles floss und war rasendes Verschwimmen, grelles Aufscheinen, stummes Verschwinden. Auf dieser Straße ich in diesem metallenen Geschoss, das sich windschlüpfrig in die Dunkelheit bohrte. Außen heulte, pfiff der Wind zerteilt vorbei, innen wehte kein Hauch, gedämpft war das Rollen der Räder von Federn und Polstern, das Tempo, die Wucht und Gewalt dem Körper nicht spürbar und nur dann zu ahnen in diesem wohltemperierten, bequemen Innenraum, wenn ein Insekt auf das Glas dicht vor meinem Gesicht prallte und zu einem gelblichen Brei zerplatzte. Vor uns das Licht der Lampen, das jedoch nicht weit griff, vielleicht zwei-, dreihundert Schritt, bewältigt in Sekundenschnelle. Beklemmend. Und doch auch faszinierend. Ich presste meine Knie aneinander, sah angestrengt voraus, soweit es das begrenzte Licht erlaubte und bebte innerlich, jenseits unseres eingeengten Blickfeldes könnte etwas sein, was wir nicht voraussehen konnten: eine hohe Mauer, ein tiefes Loch, ein toter, umgestürzter Baum, ein Mensch, ein Tier, der Rand der Welt – plötzlich herausgewachsen aus der Ungewissheit vor uns, zu spät, um zu reagieren. Dieses komfortable Geschoss war keine Sänfte, kein Pferdegespann, von ihm gab es kein Abspringen im letzten Moment. Ich war, sah ich, Gefangener der Geschwindigkeit. Umgeben von Bequemlichkeit und trotz vorhandener Türen unentrinnbar eingeschlossen. Während mir der Schweiß ausbrach ob dieser vorsätzlichen Raserei bei beschränkter Sicht, schien der Fahrer offenbar zu hoffen, darauf zu vertrauen oder gar vorauszusehen, alles vor ihm müsse sein wie das hinter ihm Liegende: neu zwar, doch ähnlich dem Bekannten, und also zu beherrschen. Es war ein Spiel, erschrak ich, ein Spiel um alles oder nichts, auf Leben und auf Tod. Durchaus, es konnte sein, wie er vermutete. Was aber, es wäre unversehens anders? Und wie wir derart in die Schwärze vor uns rasten, kam mir das Licht der Lampen wie eine an den Schiffsbug gesteckte Fackel vor: erfinderische Einfalt, wo kein Leuchtturm Richtung gibt. Ach was, raunte wer (einer der Insassen, ich, der Zeitgeist jener fernen Tage?), ist bisher alles glimpflich abgegangen, wird auch in Zukunft nichts passieren. So wird Optimismus fatal zum Überleben nötig. Das Glück als letzter Notausgang. Dies, Lucilius, die völlig irreale Szenerie. Nun zu den Personen.

      Der Fahrer neben mir starrte schweigend (fast hätte ich geschrieben: stoisch, wenn diese ausgestellte Seelenruhe nicht von Gewöhnung und Überforderung etwas stumpf gewesen wäre), starrte also auf das lächerliche kurze Stück beleuchteter Straße, und ich ahnte, welch gewaltigen Vorteil er hatte: Er lenkte mit seinen Händen, dirigierte mit den Füßen die Geschwindigkeit und besaß die Macht, das Gefährt zu beschleunigen oder abzubremsen, durfte also wähnen, es im Griff zu haben, während ich neben ihm, ohne jede Möglichkeit des Eingriffs oder Ausstiegs, allem ausgeliefert, deutlich spürte, wie er das Ganze zwar vorwärtsbewegte, aber nicht wirklich beherrschte, und dennoch ein trügerisches Gefühl von Sicherheit verströmte. Ich fand, wir fuhren zu schnell.

      Ich finde, wir fahren zu schnell, sagte jemand hinter mir, ein junger Mensch in Deinem Alter.

      Der Fahrer sagte nichts.

      Wir müssen noch schneller fahren, sagte der Ältere, der neben dem Jüngeren saß. Ich übernehme die Verantwortung.

      Im Rückspiegel vor mir sah ich vom Sprecher nur dessen Hut und die getönten Augengläser, die Augen selber nicht. Der Jüngere aber hatte mehr gemeint. Und sagte es. Er meine die vom Menschen verursachten Prozesse des Zerstörens, deren Geschwindigkeit seine Fähigkeit des Beurteilens und Bewältigens bei Weitem übertreffe. Wir sähen nicht weit genug voraus, doch was wir sehen könnten, sei Grund genug, sofort zu handeln. Die Menschen, uneins und ungleich, fräßen auf, was sie erhalte: die eine Erde.

      Der Ältere wandte ein, der Zuwachs in der Weltgetreideproduktion habe bisher stets das Bevölkerungswachstum übertroffen, die Erde habe Nahrung und Platz für alle.

      Menschen, ergänzte der Jüngere, vielleicht.

      Schon jetzt verdrängten die mit ihrem Raumbedarf und ihrer Produktion in jeder Stunde eine Tier- oder Pflanzenart, wodurch, wenn dieses Ausrottungstempo so weiterginge, im Jahr 2000 etwa eine halbe Million Arten unwiederbringlich von der Erde verschwunden wären, darunter solche, die dem Menschen noch nicht einmal bekannt geworden seien.

      Eine teilweise signifikante Reduktion, gab der Ältere zu, fügte jedoch an: Wir listen das auf und vervollständigen unsere Gen-Banken.

      Energieverbrauch, sagte der Jüngere. Den habe der hochindustrialisierte Mensch in den letzten hundert Jahren verzwanzigfacht, und dazu verbrenne er in einigen Jahrzehnten, was in Jahrmillionen entstanden sei, Bodenschätze, die als Gase in die Atmosphäre stiegen und von dort, angereichert, katastrophal auf uns zurückwirken würden. Der globale Klimakollaps sei von gleicher apokalyptischer Dimension wie ein nuklear geführter Krieg, der Himmel eine tickende Bombe.

      Verbale Panikmache! rief der Ältere. Die Beweise!

      Nichts ist zu beweisen, sagte der Jüngere, solange es nicht eingetreten ist.

      Handeln aber braucht Gewissheit, sagte der Ältere.

      Waldsterben sagte der Jüngere. Saurer Regen.

      Neuartige Waldschadbilder in einzelnen Regionen, verbesserte der Ältere. Langfristige Strategie: Revitalisierung. Schadfortschrittsverzögerung. Entwicklung rauchtoleranter Baumarten.

      Rauchtoleranz, dachte ich, beinahe amüsiert. Der rauchtolerante Mensch. Das Wörter-Boxen regte an. Schlag-Worte, gewiss, Lucilius, doch nicht zu unterschätzen. Unser schlechtes Gewissen hat Türwächter eingesetzt. Zensoren der inneren Ordnung, die unsern Geist beschützen sollen vor dem treffenden Wort. Benennt es bislang Unbenannt-Unerkanntes, wird es Begriff, das uns begreifen lässt, und ist den Türwächtern ein solches Wort entgangen (oder wie sie sagen: eingedrungen), wird es Zeit, Abschied zu nehmen vom liebgewordenen Bild der Welt in unserem Kopf, mit dem sich so gut leben ließ. Und das tut weh.

      Denaturieren, sagte der Jüngere.

      Renaturieren, der Ältere.

      Sagte der eine: vergiftete Luft, sagte der andere: partielle Belastung. Ein Spiel, dachte ich. Flüsse verkämen zu Abwasserkanälen, Meere zu Mülleimern. Dem folgte: schrittweises Minimieren des Schadstoffeintrags. Ein Gesellschaftsspiel. Hinter den Worten das Versteck. Wortspiel als Vorspiel, das ewige Spiel der Kräfte. Die Ewigkeit der Welt beruht auf dem Gegensatz. Diesem Gesetz muss sich unser Geist anpassen, ihm muss er folgen, ihm gehorchen. Und was immer sich auch ereignen mag, er muss es als notwendiges Geschehen begreifen und nicht der Natur Vorwürfe machen wollen. So weit, so gut, nun weiter. Der eine sagte: Verpestung, Verseuchung, Vernichtung. Der andere darauf: Beeinträchtigung, Sanierung, Überwachung. Müllgebirge: Deponien. Reaktorunfall: Sicherheitsstandard.

      Milliarden für Waffen, sagte der Jüngere.

      Ja, der teure Frieden, seufzte der Ältere.

      Frieden? fragte der Jüngere. Kein Krieg ist nicht Frieden.

      Sicherheit, sagte der Ältere. Das Gleichgewicht.

      Ökologische Unsicherheit, setzte der Jüngere dagegen. Gestörtes Gleichgewicht der Natur. Wüstenbildung. Sogenannte Naturkatastrophen: hausgemacht. Treibhauseffekt. Ozonloch. Industrie-Unfälle. Armut. Hunger. Millionen Tote.

      Der Ältere unterbrach ihn. Seine Augengläser blitzten, indes er sagte, die Bilanz sei äußerst einseitig. Der Mensch habe auch Großartiges geleistet. Er habe sein Durchschnittsalter erheblich erhöht, die