Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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den Schaufenstern so ungeheuer viel zu sehen und zu begehren, etwa weiße Mäuse im Kletterrad, ein Aquarium mit Purpurkopfbarben, Schleierschwänzen und flügelflossigen Guranis, ferner Boxhandschuhe, Fernrohr und Armbanduhr. Bevor er sich ein Paddelboot wünschen konnte, gelang es der Mutter, seine Aufmerksamkeit auf einen Rasselkasten zu lenken, der jeweils fünf Pfennige verschluckte und dafür portionsweise Bonbons und Fruchtwaffeln herausrückte. Vergnügt stopfte Guido die Taschen voll und gönnte seiner Begleiterin vorübergehend den Ausblick auf Kleider, Hüte und Strickmoden. Später zeigte sie sich erkenntlich, indem sie außer Utensilien für die bevorstehende Einschulung noch Buntstifte, Malbuch, Trommel und ein Miniaturmodell des neuesten Raketenautos erstand.

      Während der Rast im Stadtpark entdeckte der Knabe inmitten eines Wasserbassins eine Säule, auf deren Spitze sich ein zeppelinförmiges Marmorgebilde befand. „Ein Krokodil?“, mutmaßte er.

      „Nein, ein Delfin. Weißt du, das sind Tiere, die im Meer schneller schwimmen als Dampfer und Fische und den Matrosen manchmal zuzwinkern. Ein Steindelfin kann freilich nicht zwinkern, aber auf einer Inschrift erklärt der Denkmalbauer, dass es ein ‚klagender Delfin‘ ist.“

      „Warum klagt er?“

      „Weil er traurig ist, mein Junge.“

      „Und warum ist er traurig?“

      „Ich glaube, weil er baden und planschen und nicht immerzu in der Luft hängen möchte.“

      Guido überlegte ein Weilchen und sagte: „Nein, weil er so alleine ist! Er hopst bloß aus’m Schwimmbecken, damit er seine Freundin schneller sieht, wenn sie kommt.“

      „Vielleicht hast du recht“, meinte Frau Dagmar. „Aber Delfine können im Wasser besser gucken als in der Luft, und sie finden im Meer auch viel flinker andere Delfine, die lieb sind und sogar untergehenden Menschen helfen.“

      Leider erfüllte sich die Hoffnung der Eltern nicht, dass sich ihr Sohn bei Schulbeginn an neue Gefährten anschließen würde. Zwar versicherte der Lehrer, nahezu alle Siebenjährigen säßen wochenlang kontaktarm wie Kohlköpfe nebeneinander, bis sie plötzlich „Freunde“ entdeckten, doch Guido schien auf Annäherung keinen Wert zu legen. Da er von zu Hause aus eine Mittelpunktrolle gewöhnt war, dachte er, sie stünde ihm auch in der Klasse zu, weshalb er von den Mitschülern unbedingte Unterordnung erwartete. Es gab für ihn nur willige Zuhörer oder freche Ruhestörer, und als sich die meisten Jungen nicht fügen wollten, nannte er sie rundheraus doof. Nun blieb ihm nur, aus sich selbst heraus geeignete Partner zu schaffen.

      Beim Lesen- und Schreibenlernen fand er es reizvoll, das Alphabet zu verbildlichen und zu beleben. Beispielsweise bemerkte er im A die langen, hängenden Arme eines Affen, im B die ergänzungsbedürftigen Blütenblätter des Wiesenschaumkrauts und im O eine Orange; aus M flog eine Möwe hervor, und S wand sich wie eine Schlange. Während des Unterrichts unterhielt er sich minutenlang mit den Tieren und Dingen, die hinter den Buchstaben hervorlugten und ihm bedeuteten, dass sie Verkehrszeichen der Sprache seien. Besonders gut verständigte er sich mit der katzengesichtigen Eule, die reglos wie ein Yogi im U-Bogen hockte, sich über die Dummheit der Leute im Uhu-Märchen mokierte und dagegen die kauzige Begabung zur Durchdringung der Dunkelheit pries. Wortsymbole paradierten. Mühelos gelang es ihm, Texte in Bilder, Sinnbilder in Sätze zu verwandeln und nach flüchtiger Ansicht auswendig herzusagen.

      Lehrer Krause wunderte sich über die rasche Auffassungsgabe des Knaben, der offenbar gar nicht aufpasste. Immer wieder bemühte sich der alte Schulmann, durch kurzweilige Lernspiele nützliches Wissen zu vermitteln, doch Guido zeigte sich nur ausnahmsweise interessiert. Einmal beäugte er am Kartenständer erstaunt eine Reproduktion altägyptischer Bilderschrift. Ein andermal verblüffte ihn die Demonstration der Leichtgläubigkeit, denn nach episodischer Betrachtung eines Landschaftsfotos bejahten fast alle Kinder die Suggestivfrage, ob sie im Hintergrund eine (gar nicht vorhandene) gelbe Postkutsche gesehen hätten. Schließlich erregte ihn die pädagogische Umfrage, wen sich jeder zum liebsten Spielkameraden wünsche, weil bei der anonymen Auszählung eine rätselhafte Stimme für ihn dabei war. In der nächsten Zeichenstunde löste er die Aufgabe, das sympathischste Tier darzustellen, indem er zwei springende Delfine mit menschenähnlichen Köpfen malte.

      Als Dr. Möglich von der schulischen Verträumtheit des Sprösslings hörte, schimpfte er über die in seinem Hause „leider üblich gewordene törichte Verzärtelung“. Obwohl Frau Dagmar spöttisch fragte, seit wann er sich für die Ideale der behämmerten, ruppigen Schowi-Jugend begeisterte, hielt Theo am Erziehungsvorsatz fest, aus Guido einen Guide zu machen.

      Der Knabe zeigte sich anfangs durchaus beglückt davon. Wie sehr hatte er einstmals Annette um deren stets anteilnehmenden Ätti beneidet, und jetzt sollte er selbst endlich einen Papa bekommen, der sich mit ihm beschäftigte! Gern folgte er der Aufforderung zum lustigen Wettlauf und Seilhüpfen; vergnügt tummelte er sich beim Ballspiel auf dem Rasen, bis er sich unversehens als Torwart zwischen zwei Pappelstäbe gestellt sah. Nun flogen wuchtige Geschosse wie Donnerkeile um ihn her. Mehrmals traf ihn die harte Lederkugel frontal und bereitete ihm brennende Schmerzen, die ihn aufschreien ließen. Aber der Vater rief ungerührt: „Heul nicht! Fang auf oder köpfe! Dann kann dir gar nichts passieren.“

      Trotz mitleidiger Einwände der Mutter verlangte der Doktor in der Folgezeit immer neue Mutproben von seinem Sohn, dem er die „Gefahrlosigkeit jeder Situation“ erläuterte, vorausgesetzt, er verhalte sich vernünftig. Nach sportwissenschaftlicher Belehrung musste Klein Guido auf Bäume klettern, „federnd“ von Mauern hinunterspringen und „absolut entspannt“ über eine zwei Meter hohe Latte balancieren, wobei er das philosophische Schreck- und Schwindelgefühl über seine abgründigen Möglichkeiten erst hinterher spüren durfte. Ein andermal half ihm kein Weh und Ach gegen das Gebot, im fröhlichen gymnastischen Schwimmbewegungs-Einszweidrei einen Fluss zu durchqueren, was er am Ende im Vertrauen auf imaginäre rettende Delfine tatsächlich wagte. Seitdem blickte er seinen Erzeuger teils trüb-, teils feindselig an.

      Abends sank er sofort in tiefen Erschöpfungsschlummer. Während Frau Dagmar den „armen Jungen“ bedauerte, dozierte Theo über ausdauernde Gesundheit durch Turnen. „Nach unseren medizinischen Erkenntnissen“, sagte er, „begünstigen Training und langer Schlaf die Langlebigkeit. Außerdem trägt erquickliche Nachtruhe zur Intelligenzverstärkung und körperlichen Kräftigung bei, da sich das Wachstumshormon Somatotropin vorwiegend nachts auswirkt. Wünschst du noch mehr für Guido? Wachsend wird er sich ändern, nachdenklich wird er wandeln.“

       Zeitansage, 9. Jahr

      12. Juli: Während der Himmel das Land der rechtschaffenden Schowis segnete und dort eine Rekordernte reifen ließ, bescherte er dem Land der protzigen Yankees arge Hitzerekorde um sechzig Grad, katastrophale Dürre, Heuschreckenplage und (wie in einem Super-Western-Film) stündlich hundert Tote.

      18. Juli: Andächtig lauschten die Aufrechten Deutschen den Nachrichten über die Erfolge der Erneuerungsbewegung in Marokko und Andalusien. Als der oberste Falange-General seine Entschlossenheit bekundete, zum Zwecke der heiligen Machtergreifung gegebenenfalls „halb Spanien zu erschießen“, telegrafierte ihm Ahi entzückt Glückwünsche, verbunden mit der Ankündigung bombiger Mithilfe und der Entsendung manöverlustiger Flugzeuggeschwader.

      14. August: Anlässlich der Olympischen Spiele herrschten in Berlin zwei Wochen lang die Hellen Nächte. Hunderttausende Glühbirnen, griechische Feuer, Lampions, Scheinwerfer und Strahlendome erfüllten die goethesche Forderung: mehr Licht! Tagsüber besichtigten anderthalb Millionen Gäste und Reporter den üppigen Festschmuck (50 000 Quadratmeter Fahnentuch, 70 Kilometer Eichenlaubgirlanden), diverse Weiheräume und die Auslagen humanistischer Literatur in den Schaufenstern zur Welt. Beunruhigung durch die Broschüre „Lernen Sie das schöne Deutschland kennen“ mit Empfehlung eines Besuchs in „Sonderbehandlungsräumen“ der Konzentrationslager. Dennoch stimmten die Globetrotter begeistert in den Halleluja-Chor aus Händels „Messias“ ein, dieweil der Retter Ahi das Stadion betrat. Freundlich begrüßte er die Repräsentanten des Auslandes, huldvoll ehrte er die nationalen Triumphatoren, doch unmutig verließ er jedes Mal