Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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      ‚Nanu!‘, dachte Theo Möglich. ‚Das weiß er doch nicht von mir!‘ Dann sagte er: „Ihr Herz ist ein bissel huschlig. Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten?“

      „Ich bin seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet, Herr Doktor.“

      „Hm! Und weitere Kalamitäten, bitte? Zum Beispiel in der Schule? Da Sie mein Sohn merkwürdigerweise nicht ärgert, treiben es andere Jungen vielleicht ärger.“

      „Nach zwanzig Dienstjahren, Herr Doktor, glaube ich den Anforderungen meines Berufes gewachsen zu sein.“

      „Na, mein Lieber, Ihr Herz scheint aber nicht ganz mitgewachsen zu sein, sonst würde es nicht so puppern. Wer weiß, was Sie für ein unordentliches Innenleben haben! Und nun denken Sie, der olle Möglich wird die verheimlichten, schlafhemmenden Konfliktchen schon mit seiner chemischen Kriegführung aus dem Nischel jagen. So einfach ist das nicht, lieber Herr Krause, zumal unsere üblichen barbitursäurehaltigen Hypnotika meistens die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.“

      „Das möchte ich allerdings nicht riskieren. Und was empfehlen Sie in meinem Falle?“

      „Ein dickeres Fell, Herr Nachbar. Außerdem: beruhigendes Hellblau im Schlafzimmer, Nord-Süd-Ausrichtung des Bettes und Beachtung des Erdmagnetismus, Buddhaspiele und ermüdende Goethelektüre.“

      „Ist das Ihr Ernst, Herr Doktor? Sollte es gar keine unschädlichen Medikamente gegen gewisse Beunruhigungen geben?“

      „Aha!“, sagte Theo Möglich. Bevor er weiterredete, zündete er sich unter der Goldrahmenbrille eine Zigarre an. „Nun will ich Ihnen mal was erzählen: Wenn Sie schlecht schlafen, produziert Ihr Körper bestimmte narkotische Substanzen nicht ausreichend. Und warum nicht? Weil Sie es selbst angstvoll blockieren. Erst wenn es gelänge, die fehlenden körpereigenen Hypnotoxine künstlich herzustellen und damit Spannungen zu beheben, besäßen wir eine halbwegs harmlose Droge. Aber noch gibt es sie nicht! Vielleicht verraten Sie mir jetzt, was Sie bekümmert?“ „Es soll geheim bleiben, Herr Doktor. Mein Sohn wurde als Bombenflieger nach Spanien abkommandiert.“

       Zeitansage, 10. Jahr

      26. April: Markttag in Guernica! Die Sonne irisierte im Saphir des Himmels. In den Straßen der Stadt drängten sich Frauen in bunten, bortenbesetzten Trachtenröcken und Männer mit blauen Baskenmützen um die Basare. „Friede sei mit euch“, sagten die Ordensbrüder von der Heiligen Eiche. – Am Spätnachmittag kam der Krieg durch die Luft gebrummt. Juhe-Flugzeuge brausten im Tiefflug über den Ort dahin, warfen großkalibrige Bomben ab und schossen auf fliehende Menschen. In Staffeln und Wellen kehrten die geflügelten Zerstörer mehrmals wieder und streuten Brände aus. „Wir alle tauchen in ein Meer von Trauer“, sang einstmals Federico. Als die Nacht einbrach, zählte der letzte Ordensbruder von der Heiligen Eiche 4 450 überlebende, 1 650 tote und 900 verwundete Einwohner von Guernica.

       Der spanische Pavillon

      Wenn die Weiber auflachend ihre schönen Zähne zeigen, Pablo, dann fliehe! Sei eingedenk der heuschreckigen Gottesanbeterinnen, die Andacht heucheln und zärtlich wippende Männchen zwischen den Kiefern zermalmen.

      Doch er hatte (beim Apis!) einen gar sündhaften Leib. Vielleicht würden die Kunstschüler später seine Liebschaften aufzählen wie Buhlen des Zeus und bemerken, dass es ihm manchmal nur um Haaresbreite gelungen war, nicht den Kopf zu verlieren. Warum er trotzdem immer wieder erotische Abenteuer suchte? Aus purem Übermut und liederlichem Gelüst! Denn die Damen brauchten sich nicht auszuziehen, damit er sie gestalterisch anziehend fand; er malte ihre Frätzchen, Titten und schwarzovalen Pussis sowieso stilisiert und ohne hinzugucken.

      Aber welcher Teufel ritt ihn, als er sich mit drei Fangschrecken zugleich einließ? Das musste den stärksten Nahkämpfer umhauen! – Ja, ja, von Madame, dem rothaarigen Luder, hätte er sich längst trennen sollen. Ständig ihre Missvergnügtheit und hysterische Kreischerei! Erst die zimbelnden Schnappscheren zweier neuer Verehrerinnen ermutigten ihn, die Scheidung zu begehren, worauf das Chaos ausbrach: Olga verwandelte sich in eine Furie und hetzte ihm die Juristen auf den Hals, Therese kriegte ein Kind, und Dora glich dem unergründlichen, grünäugigen Meer.

      Oh, er war der unglücklichste Mann der Welt! Am besten, so schien es, genoss man seine Männlichkeit bei den Nutten vom Montmartre und schickte die „ehrbaren Dirnen“ in die Wüste. Nur ihretwegen gelang ihm seit fast einem Jahr kein gescheites Bild mehr. Einzig und allein sie machten ihn krank und künstlerisch lendenlahm, statt ihm durch liebendes Dienen die höchste Befreiung zu ermöglichen. Sein bisheriger Stolz: sich nach gigantischen, (bitte schön:) genialen Schöpfungen nicht erschöpft zu fühlen und in doppeltem Sinne hochpotent zu bleiben. Und nun? – Gewiss gab es jenen Auftrag der Leute aus Madrid, die für den spanischen Pavillon der Pariser Sommerausstellung ein Wandgemälde von ihm erwarteten. Sie würden noch lange warten müssen. Abgesehen von seiner Abneigung gegen bestellte Werke fiel ihm einfach kein geeignetes Thema ein. Begriff denn niemand, dass man von ihm nichts mehr erhoffen durfte, weil ihn die verflixten Weiber ruinierten? Während er Ende April sein neues Atelier in der Rue des Grands Augustins lustlos mit Malerkram vollstopfte, entdeckte er in einer hauptstädtischen Gazette die Nachricht von der Zerstörung des baskischen Wallfahrtsortes Guernica y Luno. Welch universelles Entsetzen: Blumen, Vögel, Phallus, Knochen, Ziegel, Gerüche, Streichholzschachteln und Atome schrien. Negermasken an den Wänden rissen Münder auf und heulten. Im Wendeltreppengang zerklirrten Lampen, Bücher, Kartonblätter und Ringpinsel wirbelten umher, bis Pablo einen winselnden Bleistift ergriff und allegro con moto vier Figuren auf blaues Papier skizzierte.

      Stier: Kein Symbol des evangelistischen Kunstpatrons oder des gegenwärtigen Tierkreises, sondern schwarzes, lauerndes, drohendes Widerspiel der Toreros. – Pferd: Kein helikontischer Pegasus, doch aus dem Blute der Medusa entsprungen, im Todesschmerz brüllend. – Frauen: Ein schreiendes, deformiertes und kein schönes Geschlecht; aus brennenden Häuserhöhlen hilferufend oder eine Kindesleiche bergend.

      Auf mehreren Entwürfen kombinierte und variierte Pablo die Detailstudien von Stier, Pferd und Frau. Bald setzte er dem zentaurischen Bullen ein Unmenschenhaupt auf, bald eine bärtige Teufelsfratze. In dem hochgerissenen Kopf der Mähre kennzeichnete er ein grässliches Kratermaul mit Luntenzunge und zigarettenstummelförmigen Zähnen. Langarmig ließ er eine stafettenähnliche Ölfunzel hinausreichen in den Raum, auf dessen Boden ein krepierender Kämpe lag.

      Nach anderthalb Wochen hisste Pablo im unteren Atelier dreißig Quadratmeter Segeltuch: von Seitenmauer zu Seitenmauer, von den roten Fliesen bis zum Dachgebälk. Sorgsam strich er ein gesiebtes Grundierungsgemisch auf die vorgeleimte Leinwand, schliff später mit Sandpapier ab und wählte einen grauen Unterton. Dann begann er zu malen.

      Er arbeitete täglich von nachmittags bis mitternachts, wenn von der Seine her das Tuten der letzten Dampfer durch die Stille hallte. Wie ein Artist turnte der kleine große Mann im Scheinwerferlicht. Mit Sweater und Shorts bekleidet, kletterte er auf die Leiter, um in drei Meter Höhe gespreizte Hände, geblähte Tiernüstern und Gottes besorgtes Glühbirnenauge zu formen. Selbst der Allmächtige konnte nicht mehr ohne Monokel auskommen, was Monsieur erheiterte, wenngleich nicht tröstete, denn mit der Eulenbrille (die er nur im verschwiegenen Atelier bei Feinarbeiten trug) sah er verdammt älter aus. Einfach drauf pfeifen? Oh, nicht vor den Damen! Doch er pfiff. Zwischendurch schwatzte er surrealistische Sprüche vor sich hin, die er in den Monaten der Brache sogar aufgeschrieben hatte. ‚Säcke voller Nüsse, ausgeschüttet über Glatzen und die sich schubsenden Konkubinen. Glacéhandschuhe übergestreift vor der Entscheidung, im Liebesstreit nichts zu entscheiden. Rösselsprung in Journalfetzen und drei Heulen mit Glaskonvex unterm Brennglas, während Rindox das Fegefeuer anbläst im Sarg und Golf von Biskaya. Bitte, anschnallen in der Kabine, Gespräche mit dem Piloten sind verboten …‘

      Unentwegt rauchte er und warf die Kippen achtlos in das staubige Kabuff, in dem es aus Büchsen und Terpentin, Leinöl und Chemikalien roch. Statt einer Palette