Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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helfen, den Türkenberg zu verteidigen.« Nichts von Lehrgang; Wirrwarr überall, in wüsten Kammern rüsteten sich die fünf aus mit Tarnjacken und ungarischen Gewehren, denen sie gründlich mißtrauten. Sie fanden Berge von Konserven mit jungen Erbsen und fast nichts Eßbares sonst, und jemand teilte sie ein, während der Nacht den Durchgang in einer Minensperre zu bewachen und die hindurchzuschleusen, die noch von Osten kämen. Sie standen zwischen Landsern, die die Fußlappen abwickelten, unter ihnen brannte rohes Fleisch, sie hörten von Rückzug über zwanzig, dreißig Kilometer jeden Tag, und einem wurden die Schultern geklopft, weil er einen Panzer abgeschossen hatte; er war grau im Gesicht und zu Tode erschöpft.

      Kalt war die Nacht an der Minensperre und stockdunkel, niemand kam. Am nächsten Morgen erfuhren sie, die Nahkampfschule würde nach Schönsee in der Oberpfalz verlegt, aber vorher müsse hinhaltender Widerstand geleistet werden bis zu einer Auffangstellung an der March. Jeder bekam einen Marschbefehl nach Schönsee und ein Fahrrad. L. schnallte eine Panzerfaust ans Rad und einen Beutel mit Erbsenbüchsen auf den Gepäckträger, so kurvte er nach Jablonove hinunter.

      An diesem Tag fiel kein Schuß. Am Abend faßte ein Feldwebel ein Dutzend Soldaten zusammen, die auf einen Hügel vorgeschoben werden sollten; der Feldwebel fragte, wer das Maschinengewehr nehmen wollte. Nun war L. während der Ausbildungszeit ein versierter MG-Schütze gewesen, ein Fuchs in der Bedienung dieser Waffe, hatte sie monatelang durch Zeithains Sand geschleppt und die Pappkameraden das Fürchten gelehrt. Was natürlicher, daß er sich meldete – aber da packte ihn böse Ahnung, ziehendes Gefühl in der Brust, wie er es noch nie gespürt hatte, melde dich nicht, nicht melden, jetzt bloß nicht melden. Druck im Schädel und im Kehlkopf, der Feldwebel fragte noch einmal. L. dachte: Gietzel und Steinbach und die beiden anderen warten jetzt, daß du dich meldest, wer denn sonst als das MG-As, Sekunden verstrichen, da sagte der Blonde aus Heidenau: »Da nehme ich’s eben«, und der Dunkle aus dem Thüringer Wald meldete sich als Schütze zwei.

      Im Morgengrauen wurden Steinbach und L. von einem Leutnant auf einen Hügel geschickt, dort wäre ein Panzerdeckungsloch. Die beiden streckten die Gewehre vor, ließen die Blicke schweifen, setzten Fuß vor Fuß, tappten in die Leere, fürchteten Schüsse jeden Augenblick, erreichten die Kuppe und ließen sich in das Loch fallen. Ein vortreffliches Loch in vortrefflichem festem Boden, die ausgeworfene Erde war sorgsam verteilt, hier hatten Überlebenskünstler gearbeitet. Kein Mensch, kein Laut, kein Krieg. Wieder dieser hohe, helle Himmel wie zwei Tage vorher, und L. überlegte, ob er wohl am vergangenen Abend feig gewesen war, nicht mehr der Held von Malacky, nicht mehr wie Luther, der nach Worms hatte gehen wollen, müssen, auch wenn die Stadt voller Teufel gewesen wäre. Das hatten sie gelernt: Zuerst den feindlichen MG-Schützen niederkämpfen, den gefährlichsten Mann der Gruppe. Das hatten sie nicht gelernt: Der Gegner rottete zuerst den eigenen MG-Schützen aus. Aber es war logisch.

      Einen halben Tag lang sahen sie zu, wie auf den jenseitigen Hügeln der Feind aufmarschierte. Auf der eigenen Seite waren die schwersten Waffen das leichte Maschinengewehr und die Panzerfaust, drüben waren es Granatwerfer und Panzerabwehrkanone. Keine Artillerie gab es in diesem Gefecht, keine Panzer, keine Flugzeuge, die stürmten gegen Bratislava und in der Mährischen Senke, wurden hinter der Oder zum Endkampf um Berlin gehortet, hier war Nebenkriegsschauplatz, Scharmützel, hier marschierte eine Partei auf wie im Siebenjährigen Krieg, protzte die Granatwerfer ab und zog von Hand die Geschütze in Stellung, das geschah mit vielem Hin und Her vor den Augen von Steinbach und L. Schützenreihen stiegen vom jenseitigen Hang herab. Das Kräfteverhältnis war fünfhundert zu zwei, trotzdem schossen Steinbach und L., bis die Angreifer im Grund verschwanden, sie sahen sie näher am Fuß ihres Hanges, schossen, trafen nicht, stritten, wer zuerst zurückspringen sollte, spring du, ich schieße, schließlich zickzackten sie gleichzeitig über den Hügelkamm, hörten Projektile pfeifen, hasteten auf das Dorf zu und sahen den Leutnant, der sie hinaufgeschickt hatte, verzweifelt winken und hörten ihn schreien, wo sie denn blieben. Über dem Dorf wolkten Rauchbäume der Granatwerfereinschläge, die Dorfstraße entlang flohen Landser – MG-Feuer, Gewehrfeuer, ein Oberfeldwebel schoß Panzerfäuste im Bogen ab über Gehöftdächer hinweg. Steinbach und L. hätten sich fünfzig Meter gegen den Strom stemmen müssen, um zu ihren Rädern zu kommen, aber das wagten sie nicht, wurden aus dem Dorf geschwemmt, sahen die Wiesen gesprenkelt mit Fliehenden, waren nicht mehr Werwölfe, die in den Rücken des Feindes drängten, sondern stoben zurück und besannen sich erleichtert auf den Marschbefehl nach Schönsee in der Oberpfalz, keuchten einander zu, daß alles gutgehen würde, wenn nur keine Panzer kämen. Vier Männer schleppten ihren verwundeten Kameraden auf einer Zeltplane, der schrie, sie sollten ihn erschießen; an ihnen rannten sie vorbei. L. sah Gietzel auf einem Fahrrad, rief ihn an, und das erste, was Gietzel hervorstieß, war, daß die MG-Schützen noch vor dem Angriff durch Scharfschützen getötet worden waren, Kopfschüsse. Da wird L. nicht daran gedacht haben, daß die beiden noch am Leben sein könnten, wenn er am Bahnhof von Malacky kein sturer Held gewesen wäre, dieser Gedanke kam später, wenn auch nicht viel später, und lange schlug er sich mit ihm herum, und auch der Chronist ist nicht fertig damit, wenn er auch nicht mehr oft daran denkt, meist nur am vierten April, oder wenn er mit der Eisenbahn durch Malacky fährt. Das muß man, will man zum Balkan hinunter.

      Am Bahndamm stand der Hauptmann, der sie am Türkenberg empfangen hatte. Er reckte die Pistole und schrie, hier sei die neue Widerstandslinie; jeden würde er niederknallen, der nicht stehenbliebe. Rechts und links von ihm klirrte die Flucht über den Schotter; er schoß nicht. Hier waren die Wiesen sumpfig, einen Kilometer vor sich sah L. den Wald. Die meisten fielen in Schritt, Gietzel schob sein Rad, er und Steinbach und L. schöpften Hoffnung daraus, daß sie zu dritt waren; sie glaubten, sie könnten sich aufeinander verlassen nach diesem Tag. Die Welle der Fliehenden versickerte im Wald, der Bahndamm war nur noch ein blasser Strich. Die drei blieben hinter der ersten Gebüschinsel liegen. Vor ihnen auf der Wiese warf ein Offizier sein Fahrrad weg und rannte in Sprüngen weiter. Das Feuer nahm zu, am Bahndamm war schon ein Maschinengewehr in Stellung gebracht worden. Plötzlich, ohne Erklärung, sprang Steinbach auf, rannte in schulmäßigem Zickzack zurück, verschwand im Wald und ward nicht mehr gesehen. Ein böses Wort schrie L. ihm nach: Feiges Schwein! Aber schon überlegte er, wie er selbst nach hinten kommen könnte, ganz weit nach hinten, doch er besaß kein Rad, und draußen auf der Wiese lag eins. Steinbach – den sah L. wieder drei Jahre nach dem Krieg, da spielte Steinbach Fußball bei Dresden-Friedrichstadt, dem Torso des ruhmreichen Dresdner Sportclubs, und mühte sich, nicht abzufallen neben Schön, Pohl, Lehmann und Kreische senior im Sportpark von Leipzig-Leutsch gegen Chemie, und Steinbach war dabei, als Horch Zwickau die Dresdner zusammentrat in diesem letzten Spiel von Dresden-Friedrichstadt, diesem Skandalspiel, das den Anstoß gab, daß Schön viel später Bundestrainer wurde und nicht Trainer der DDR-Nationalmannschaft. Aber daran war natürlich kein Gedanke auf der sumpfigen Wiese von Malacky; auf das Fahrrad rannte L. zu, während Projektile zirpten, auf das Fahrrad, das ihn über die March bringen sollte und durch Österreich und Böhmen nach Bayern, fort von der Front, schon gar nicht in des Feindes Rücken. Er riß das Rad hoch und schwang sich in den Sattel, hörte das Pfeifen um seinen Kopf, trat, sprang ab, schob, rannte, hörte immerfort das Pfeifen, warf sich nicht hin, hätte hundertmal getroffen werden können, wurde nicht getroffen, erreichte die Gebüschinsel, und nun waren sie zu zweit, Gietzel und L., besaßen jeder einen Marschbefehl nach Bayern und jeder ein Fahrrad. Durch stillen Wald fuhren sie, die Toten von Jablonove lagen hinter ihnen, Erregung klang ab, und da fiel ihnen ein: Man mußte ja nicht direkt Schönsee ansteuern, man konnte einen Umweg machen, und einer sagte: »Paar Tage zu Hause, Mensch«, und der andere überlegte schon, wie man radeln mußte, um nach Dux zu kommen oder nach Mittweida. Bei der Rast zogen sie ihre Marschbefehle aus der Tasche, Zettel mit einem Stempel und den Worten, daß der Gefreite Gietzel, der Gefreite Loest auf dem Weg nach Schönsee wären, nichts weiter, vor allem nicht, woher sie kämen. »Mensch«, sagte einer, »wir verschieben unseren Herkunftsort nach Norden, erst Mähren, Schlesien, dann die Lausitz.«

      Nach Norden traten sie, erreichten gegen Abend Malacky und klopften an Türen, hinter denen niemand antwortete, gingen in ein leeres Haus, Ställe standen offen, ein Schwein grunzte im Hof, Hühner pickten. Sie hätten gern ein Huhn geschlachtet, wußten aber nicht, wie man das machte. So kochten sie Kartoffeln, wuschen sich, aßen. Sie kamen nicht von dem schlechten Gewissen los, in ein fremdes Haus gedrungen zu sein; es wäre ihnen peinlich gewesen, wären die Bewohner