Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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stiegen sie den Plösser Berg hinauf, spürten den Höhenwind. Sie fanden einen Weg, der abwärts nach Osten führte; die Luft wurde linder, je weiter sie ins Tal kamen. Als es dämmerte, krochen sie in ein Dickicht, zogen Zweige über sich, ängstigten sich: Hunde konnten sie aufspüren. Aber sie waren zu erschöpft, als daß einer gewacht hätte. Manchmal schoß Artillerie, das Mündungsfeuer war noch immer zehn oder fünfzehn Kilometer entfernt. Sie redeten über den Führer, der nun schon lange tot war, der kein Gott gewesen war und sie im Stich gelassen hatte. Sie nannten ihn auch nicht mehr den Führer, sie nannten ihn Hitler, und die kühle Respektlosigkeit paßte zu ihrer Lage. Sie waren also keineswegs tot, sie wollten nach Hause, am liebsten in den Mutterleib zurück. Ein paar Tage noch würde sich nun der Krieg hinschleppen, diese Tage mußten sie überleben. L. stellte sich vor, wenn ihn die Amerikaner fingen, brächten sie ihn nach Italien, und er müßte im Hafen von Brindisi in glühender Hitze Kohlesäcke von Bord eines schwarzen Schiffes schleppen. Also nach Hause! Mit der gleichen Hartnäckigkeit hatte er vor Wochen zum Türkenberg gewollt. Das war tausend Jahre her.

      In der nächsten Nacht zogen sie durch ein Dorf, in dem ein Amerikaner in einer offenen Haustür lehnte; schwaches Licht leuchtete in seinem Rücken. Er redete sie an, sie gingen schweigend weiter. In einem anderen Dorf hatten Amerikaner einen Gutshof hell erleuchtet, es klang, als ob sie darin Fahrzeuge reparierten. Hundert Meter davor verließen L. und Gietzel die Straße, hundert Meter dahinter kehrten sie darauf zurück. Immer wieder berieten sie, in welchem Fall sie schießen und in welchem sie sich ergeben sollten. Das Wasser, in dessen Tal sie blieben, hieß Radbusa, und der Ort, über dem sie eines Morgens ins Dickicht schlüpften, vermutlich Hostau, das heutige Hostoun. Gegen Mittag krochen sie an den Waldrand vor und blickten in eine Mulde, drüben stiegen bewaldete Kuppen auf – sie waren aus dem schrofferen Teil des Gebirges heraus. Unten rollten Lastwagen, weit weg landete eines dieser kleinen Flugzeuge, die am Tag über die Wälder strichen. Den Nachmittag über schauten sie zu, wie die Amerikaner Panzer und Geschütze auffuhren, wie dort, wo die Straße im Wald verschwand, Granaten einschlugen und Rauchpilze aufstiegen. Schützenpanzer rollten vor, Infanteristen stürmten; allmählich trat Ruhe ein, die Sperre war durchbrochen. Das alles sahen sie wie von einer Theaterempore aus. Da hofften sie, die Amerikaner würden nicht allzu weit vordringen, ehe die Dunkelheit sank.

      An diesem Abend konnten sie es nicht erwarten, aus ihrem Gebüsch zu kommen. Schon während des Sonnenuntergangs verschnürten sie ihre Rucksäcke, wobei sie alberten, Kameramänner einer Propagandakompanie müßten diese Szene drehen: Werwölfe machten sich auf zu heldischem Nachtwerk.

      Sie mühten sich nicht einmal, die Höhe zu umgehen, auf der am Nachmittag das Gefecht gezuckt hatte, zwischen beiseite gezerrten Stämmen marschierten sie hindurch. Im nächsten Dorf klang Trubel aus einem Gasthof. Sie schlugen einen Bogen, marschierten, marschierten. Sie dachten, sie müßten irgendwann auf amerikanische Vorposten und später auf die der Deutschen stoßen, wenn sie auch nicht annahmen, es würde etwas geben, das einer geschlossenen Front ähnlich sah. Am Ortsschild von Bischofteinitz vorbei klirrten sie in die schlafende Stadt hinein, sahen weiße Tücher an allen Häusern, es war Sonntag, der 6. Mai 1945. Auf dem Marktplatz sahen sie im ersten dünnen Dämmern Shermanpanzer, Lastautos, Jeeps, keinen Posten dabei. So groß ihr Schreck war, L. griff doch in einen Jeep hinein und riß eine Packtasche heraus, sie rannten los, wollten hinaus aus der Stadt, irgendwo mußte Wald sein, und den mußten sie erreichen, ehe es tagte. Unfaßbar: Die Amerikaner hatten ihre Fahrzeuge auf den Platz gestellt ohne eine Wache daneben und schliefen in den Häusern. Durch eine Siedlung von Einfamilienhäusern hasteten sie, hörten Signale aus einer Trillerpfeife, gleich darauf traten Männer mit runden Helmen aus den Gärten, vor ihnen, neben ihnen, einer streckte ihnen das Gewehr entgegen, tappte angstvoll zurück, und L. ließ Maschinenpistole und Packtasche fallen und hob die Hände und rief diesem Mann zu, er möge nicht schießen, das rief er in seiner Aufregung deutsch, obwohl er in der Schule so viel Englisch gelernt hatte, daß er den einfachen Gedanken in fremder Sprache hätte ausdrücken können.

      Dann standen sie mit erhobenen Händen, GIs nahmen ihnen Handgranaten vom Koppel, MP-Magazine aus dem Rucksack und Uhren vom Handgelenk. Das taten sie ohne Hast und Haß. L. war gefangen, seiner Tötungsmaschinerie ledig und aller Pflichten, die mit ihr verbunden gewesen waren. Er mußte eine rasche Angst überwinden, aber eine Stunde später schon schwappte Freude über, am Leben zu sein und zu bleiben, da fühlte er sich kindisch fröhlich und hätte sogar mit den GIs gealbert, in deren Formation er marschierte, aber die sahen dazu nicht den geringsten Grund. Einer setzte ihm ein MG-Dreibein auf den Rucksack, da radebrechte er, dies sei gegen die Bestimmungen des Red Cross, und ein Gl trat ihm ein wenig gegen die Wade. Er lebte, nun würde er hundert Jahre alt werden. Am Straßenrand lag ein toter deutscher Soldat, das Gesicht im Dreck, das war keineswegs er selber, er stapfte vorbei auf gesunden Beinen, Rucksack und Dreibein auf dem gesunden Rücken. Wenn ihm ein Gl einen Stoß gab, daß er fast gestürzt wäre, wenn ein anderer befahl: »Sneller! Sneller!«, was bedeutete das schon. Bei einer Rast hätte hin und wieder ein Gl gern seine Uhr gehabt, die schon ein anderer hatte. »No, Sir«, sagte er, »sorry.« Er dachte neben vielem anderen, und auch das war ein Lebensgedanke: Vielleicht lernst du jetzt richtig englisch.

       3

      Hinter Stacheldraht lagen sie Mann an Mann, manche besaßen eine Decke, eine Zeltplane, andere einen Sack, einen Mantel, manche nichts. Sie verpflegten sich aus Rucksäcken und Brotbeuteln, die Läuse hatten es nahe von einem zum anderen. Am Tag prunkte die Sonne dieses ungeheuren Frühlings, nachts war es bitterkalt. Tag für Tag wurden neue Lastwagenladungen durchs Tor gedrückt, die Ankommenden hockten sich in die Gänge, die letzten fanden nicht mehr Platz, sich hinzulegen. Der Sieger fegte zusammen, was Uniform trug, Soldaten und Volksstürmer, Rot-Kreuz-Schwestern und Hitlerjungen, Wlassow-Verräter und NS-Ortsgruppenleiter, und sonderte erbittert aus: Fallschirmjäger und Waffen-SS.

      Er saß auf seinem Rucksack; wenn die Sonne stieg, zog er das Hemd aus. Aus einem Lautsprecher schallten Anweisungen, es sollten Fünfzigergruppen gebildet werden. Feldwebel machten sich an die Arbeit, gewesene Führer schwangen sich zu neuen Führern auf. Er hatte in den ersten Stunden der Gefangenschaft den gefährlichen Zettel, auf dem stand, er sei direkt dem Oberkommando des Heeres unterstellt, zerschnipselt, nun saß er da ohne die Möglichkeit, zu beweisen, wer er war. Als Graf Heribert v. Möllenbrock hätte er ein neues Leben beginnen können oder als Kurt Schulze, hätte sich fünf Jahre älter machen können und bezöge so fünf Jahre vorfristig höhnisch grinsend die Altersrente; aber wie soll ein Neunzehnjähriger auf diese Idee kommen. Er erwog durchaus einen Namenswechsel, denn wie leicht konnten die Amerikaner durch alle bayrischen Camps die Kunde schicken: Fahndet nach dem Werwolf E. L.! Wie, so überlegte er natürlich auch, waren die denn an die Namen gekommen? Diese Möglichkeit bestand: Ein Hauptmann hatte Schnaps ausgegeben und die Empfänger auf einer Namensliste abgehakt, sein Deckungsloch war zuerst aufgespürt und die Schnapsliste gefunden worden. Loest herauskommen! Gietzel herauskommen! Dieser Ruf konnte sich wiederholen.

      Aber zunächst einmal wurden Fallschirmjäger und SS- Männer, Wlassowskis und Krankenschwestern, Verwundete und Kranke ans Tor gefordert, die Offiziere bekamen ihr eigenes Geviert, die Sonne jubelte, und die Läuse heckten. Wasser tropfte für Tausende aus einem einzigen Hahn. Tee wurde ausgegeben und nach vier Tagen die erste Suppe. L. kaute mit seinen Nachbarn Gerüchte durch, was mit ihnen geschehen sollte, Lager in Texas oder Straßenbau in Belgien? Aus dem Lautsprecher tröpfelten Nachrichten: Göring war gefangen, in Böhmen und Kurland hatten die letzten Deutschen kapituliert. Suppe-Empfang für die Gruppen 342 bis 350, Tee-Ausgabe für die Gruppen 167 bis 178. Nürnberger trafen Landsleute siebzehn Uhr an der Baracke zwo.

      Sie waren beschissen worden, so hörte er es rechts und links, waren schwer angeschissen worden, von wegen neue Waffen, gleich nach Stalingrad hätte Hitler aufgeben sollen. Sie alle fühlten sich als Opfer von Hitler, Göring, Goebbels ab Stalingrad, die Zeit davor ließen sie im dunkel. Ihre Taten ließen sie im Vergessen und ihren Anteil am Krieg, sie zogen nicht einmal diesen Krieg in Zweifel, sie hatten Schuldige gefunden und fühlten sich als die armen Schweine, die nun im Dreck lagen. Die Amis mit ihrer Übermacht, für die war es ja kein Kunststück gewesen. Und der Iwan, hundert T 34 gegen einen Tigerpanzer. Nun mußten sie die Scheiße ausbaden. Ihnen sollte keiner wieder kommen. Friedfertig fühlten sie sich