Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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nicht notiert und würden den Diensteifer nicht auf die Spitze treiben. Dies hoffte er so stark, daß es ihn vor tödlicher Gefahr blind machte; in diesen Tagen wurden Soldaten wegen geringerer Vergehen gehenkt.

      Am Morgen erwachte er: seine Dachkammer, seine Bücher, das Schlagen der Kirchenuhr, kein U. v. D. pfiff. Danach hatte er sich ein Jahr lang wie nach nichts anderem gesehnt. Später stand er in der Eisenwarenhandlung seines Vaters; die Regale waren in sechs Kriegsjahren kahl geworden. Er bummelte durch die Stadt; sie hatte sich so verändert, daß sie nicht im entferntesten hielt, was sie in der Erinnerung versprochen hatte, als er durch Zeithains Sand gerobbt war. Zu Hause aßen Vater, Mutter und Schwester dünner gewordene Suppe von gewohnten Tellern. In die Schule waren Flüchtlinge gepfercht worden, das Jungvolk hatte seinen Dienst infolge Fehlens von Führern, Räumen und Schuhen eingestellt. Einmal ging er ins Kino, da heulten nach zehn Minuten die Sirenen. Der Wehrmachtsbericht: Amerikaner und Briten stießen in Thüringen und Norddeutschland vor. Hannover fiel. Einmal traf er ein Mädchen, mit dem er die Tanzstunde besucht hatte; das Mädchen fragte ihn, ob der Krieg noch gewonnen würde, und er antwortete verzweifelt, er müsse ganz einfach gewonnen werden. Sie waren zusammen Schlittschuh gelaufen und hatten sich auf vielen Wegen geküßt. Keine Erinnerung daran. Ihre Hände hingen herab. Das Mädchen fragte ihn, ob er bliebe, aber er sagte, er müsse wieder fort. Es wäre ihm gleichgültig gewesen, hätte es in dieser Minute sein müssen.

      Am fünften Morgen wurde er von seinem Vater geweckt: Die Amerikaner standen vor Leipzig. Hastiger Familienrat: bleiben, untertauchen? Aber er war in der Stadt gesehen worden. Gefahr durch Amerikaner, durch Feldgendarmerie, welche war größer? Rat des Vaters: Am sichersten bist du in deiner Einheit. Von der Art dieser Einheit hatte E. L. wohlweislich nichts erzählt. Wieder setzte er sich aufs Rad und fuhr übers Gebirge, diesmal in die andere Richtung. In der Nähe von Chemnitz sah er zu, wie Tiefflieger die Straße leer fegten. Er lag im Graben und dachte: Hannover gefallen, die Amerikaner vor Leipzig, noch werden die neuen Waffen nicht eingesetzt – sind sie immer noch nicht fertig? Jetzt noch einmal die Entscheidung von Malacky wäre er wieder zum Türkenberg gegangen? Er schlief in einer Scheune, stieß am Morgen in den böhmischen Kessel hinab und traf Gietzel in der elterlichen Küche inmitten spielender kleiner Geschwister an. Auch hier Debatte, ein wichtiges Moment darin: Sie hatten sich beide freiwillig gemeldet zum Werwolf, waren zusammen zum Türkenberg gezogen, jetzt riefen sie sich das gegenseitig ins Bewußtsein. Sie hatten beileibe nicht aus dem Krieg aussteigen wollen, hatten sich nur Urlaub gegönnt, der ihnen zustand. Vor sich selbst konnte jeder allenfalls vergessen, wie er in Plauen gelobt hatte, Einzelkämpfer zu werden, Durchhalter bis fünf Minuten nach zwölf. Hier stand nun einer, der dabeigewesen war, keiner wollte als erster sagen: Müssen wir so schnell nach Schönsee? Denk an die beiden in Prag!

      Wieder Abschied. Am Bahnhof warteten Gietzel und L. auf einen Zug nach Westen. Dünnen Kaffee schenkten BdM-Mädchen aus, dann lief der Zug ein, ein Katastrophenzug, vollgepfropft mit Menschen und Koffern und Angst, in ihn hinein zwängten die beiden Durchhalter sich und ihre Räder. Aus allen Fenstern suchten Augen den Himmel ab, langsam rollte der Zug durch Komotau, Klösterle, Karlsbad. Dahinter bremste der Zug ruckend und kreischend, Dampf quoll aus der Lokomotive, über die Trittbretter ergoß sich der Strom der Flüchtenden, die hin- und hergerissen wurden zwischen zwei Ängsten: von Tieffliegern getötet zu werden oder ihren Platz bei der Rückkehr besetzt zu finden. Ein Flugzeug strich über den Zug hinweg, eine der letzten Maschinen von Görings Luftwaffe, eine erbärmliche Krähe, und die Menschen in den Feldern ringsum fluchten auf den Idioten da oben, der ausgerechnet einen Zug in diesen Tagen der Tieffliegerpanik ansteuern mußte. Sie rannten zum Zug zurück, aber der fuhr nicht weiter, denn der Lokomotivführer hatte sich beim Sprung von der Maschine den Fuß verstaucht, vielleicht gebrochen. Nach einem Arzt wurde geschrien, und als L. und Gietzel merkten, daß es hier nicht vorwärts ging, hoben sie ihre Räder herunter und traten weiter nach Westen.

      Die nächste Nacht verbrachten sie in einem Schuppen auf einem Bahngelände. Soldaten saßen in der Schuppenmitte um ein sparsam und kunstvoll unterhaltenes Feuer; die Gespräche der Landser waren nüchtern und weise. Vom sowjetischen Granatwerferorkan an der Danziger Bucht war die Rede, von Märschen und Schlachten und Toten und Niederlagen, und L. und Gietzel hätten sich lieber die Zunge abgebissen als verraten, daß sie sich mutwillig als Werwölfe gemeldet hatten. Diese Männer wunderten sich nur über eines noch: daß sie lebten. Die Flucht durch Frankreich zurück hatte einer mitgemacht, ein anderer verfluchte die Balkanberge, durch die er von Griechenland heraufgehastet war, Berge von Athen bis Graz. Und wieder sagte der, der zu Anfang gesprochen hatte: Nichts konnte furchtbarer gewesen sein als das Granatwerferfeuer an der Danziger Bucht. Da beneidete L. diese Männer um ihre Erfahrungen, er hätte Jahre geopfert, wenn er sie hätte nacherleben können. Zehn Jahre später erinnerte er sich noch an die Stimmung dieser Nacht: Er setzte die Romangestalt des Harry Hahn ans Feuer alter Waffen-SS-Männer, als sie in die slowakischen Berge zogen, und das Dorf in der Nähe nannte er Jablonove wie das Dorf, durch das er um sein Leben gerannt war.

      Einmal noch wurden sie von einem Zug mitgenommen; der verkroch sich im Morgengrauen in einem Tunnel. Das war schon in Bayern. Dann radelten sie durch friedliche Dörfer und friedliche Städtchen, in denen die Bewohner fiebrig-eifrig Wehrmachtslager räumten. Sie trafen einen Mann, der auf einem Handwagen einen Riesenkarton Streichhölzer heimwärts zerrte, und baten ihn um eine Schachtel, aber der Mann lehnte ab: Er würde wegen einer einzigen Schachtel nicht die Verpackung aufreißen. In der Toilette eines Bahnhofs schlug L. neben einem Ritterkreuzträger der Waffen-SS sein Wasser ab, ihn hätte er um ein Haar gefragt, ob es noch Zweck habe, zu kämpfen.

      Sie erreichten Schönsee eines Abends. So blieben schließlich zwei von den zwanzig Freiwilligen von Plauen, die nun doch Werwölfe wurden, sich mit Tarnkombinationen und Maschinenpistolen ausrüsteten und mithalfen, Kartons mit Fleischkonserven, Heidelbeerkonserven, Knäckebrot und Zigaretten auf Pferdewagen zu laden und in den Wald zu karren. Allmählich überblickten sie die Formation: Vierzig Mann wurden befehligt von einem Oberst, ihm unterstanden drei Majore, etliche Hauptleute, Oberleutnants, Leutnants, Feldwebel, Unteroffiziere und schließlich diese beiden Gefreiten. Man sagte ihnen: Auf diesem Berg dort sitzt unser Funktrupp, hält Verbindung mit dem OKH, über diesen Kamm läuft die böhmische Grenze. Die Soldbücher wurden eingesammelt; auf einem Zettel, den L. dafür erhielt, stand nichts als Der Gefreite Loest ist direkt dem OKH unterstellt. Er begriff, daß es nun unmöglich sein würde, sich von der Truppe zu entfernen. Aber das wollte er ja nicht, wollte auf dem Weg weitergehen, den er in Plauen eingeschlagen hatte, denn der Satz war tief in ihn eingedrungen, daß es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.

      Wald über Hügeln und Tälern, im Wald schliefen sie und hoben Gruben aus, in denen sie Waffen und Munition, Lebensmittel und Schuhe, Zigaretten und Wolldecken versenkten. Die Vorräte, so wurde ihnen gesagt, waren auf ein halbes Jahr berechnet, und es würde erschossen, wer sich daran vergriff. Aber das nahmen sie nicht ernst: Eine Zwanzigliter-Milchkanne voller Kümmelschnaps vergruben sie nicht, sondern stellten sie ins Gebüsch, hin und wieder wallfahrteten sie dorthin und füllten ihre Feldflaschen, kümmelten bedächtig, und in heiterster Laune waren sie, als ihnen ein Oberleutnant mitteilte, der Sturmangriff der Sowjetarmee auf Berlin habe begonnen.

      Nach Tagen harter Arbeit versammelte der Oberst seine Wölfe um sich und gab das Ziel bekannt: Diversionstätigkeit im Rücken des Feindes. »Wir werden kämpfen, bis die Amerikaner merken, daß wir nicht unterzukriegen sind, und sich mit uns gegen die Sowjets verbünden.« Er verlangte Lautlosigkeit; nichts durfte im Wald liegengelassen werden, keine Knäckebrotpackung, nicht einmal ein Streichholz. Er spitzte die Lippen zu einem Pfiff; so, sagte er, pfeife die Kohlmeise, das sei künftig ihr Erkennungszeichen. »Beweisen Sie, daß Sie Karl May nicht umsonst gelesen haben.«

      Eines Nachmittags kamen die Amerikaner. Sie fingen drei Werwölfe, die auf einer Lichtung in der Sonne gesessen hatten. L. lag im Unterholz, sah Gamaschenschuhe ein paar Meter vor sich auf dem Weg, hielt die Maschinenpistole im Anschlag. Sein Herz klopfte, aber er tat nichts, das ohne Sinn gewesen wäre, und als die Amerikaner weitergezogen waren, als es wieder still geworden war im Wald, war er mit sich zufrieden: Sie waren von der Front überrollt, er war Werwolf, es gab kein Zurück.

      Morgens in der Dämmerung krochen sie aus ihren Löchern, die über eine Schonung verteilt waren, und sammelten sich am