Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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Gietzel hatten diese Aufgabe: nachts zwischen elf und eins an einer alten Mühle auf die Kuriere einer anderen Werwolfeinheit zu warten. An dieser Mühle rauschte ein Bach über ein Wehr, das verlassene Gebäude bildete eine Kulisse wie in einem Gruselfilm. Neun Uhr abends klemmten sie die Maschinenpistolen unter den Arm, schlichen durch den Wald, voller Angst erst, später mit wachsendem Mut, den sie gegenseitig anheizten: Die Amerikaner waren zu feig, sich nachts in den Wald zu trauen. Aber wenn sich die beiden Wölfe der Mühle näherten, sank ihr Mut, der Mond schien gegen kalkweißes Gemäuer; polterte es nicht irgendwo? Sie hockten sich dicht nebeneinander, legten die Maschinenpistolen über die Knie, lauschten. Bleierne Müdigkeit überfiel sie, wurde größer als die Furcht, sie nickten ein, schraken hoch, froren. Zehn Jahre später schrieb L. die Erzählung »Hitlers Befehl«. Als er einen gespenstischen Schauplatz für eine grausige Begebenheit brauchte, verlegte er diese Mühle aus dem Böhmerwald in die Ardennen, ließ an ihr Frantisek Homola und seine Rangerkameraden in die Falle der Faschisten tappen. Voller Martern waren diese Nächte; im Morgengrauen schlichen die beiden Wölfe zurück und meldeten ihrem Major, niemand wäre gekommen. Nie kam jemand.

      Bis zu jenem Nachmittag: Da krochen drei Männer in ihr Dickicht, blaß und abgehetzt, Angst stand in ihren Augen. Ihre Werwolfgruppe war von Amerikanern mit Hunden aufgespürt worden, eine Übermacht hatte sie aus ihren Löchern getrieben. Sie waren durchgebrochen, entkommen. Drei von dreißig.

      Manchmal teilte der Major bei der morgendlichen Befehlsausgabe ein Splitterchen von dem mit, was in der Welt vor sich ging. Hamburg und München fielen, aber noch tobte die Schlacht um Berlin, dort kämpfte der Führer. Von neuen Waffen war nicht mehr die Rede, nur davon, daß Amerikaner und Briten in den Krieg gegen die Russen einschwenken könnten. Das Beispiel des Preußenkönigs wurde bemüht, der scheinbar am Ende gewesen war, aber dann starb seine schlimmste Feindin, und das Blatt wendete sich. War nicht Roosevelt kürzlich gestorben?

      Eines Tages mühten sich Gietzel und L., ihr Loch auszubauen. Einer brach Erde los und schippte sie in einen Rucksack, der andere verteilte sie im Unterholz. Als L. gegen Mittag aus dem Loch kroch, flüsterte Gietzel, es würde geschossen, in einer bestimmten Richtung, dort lag der Oberst. Sie steckten das Notwendigste in die Brotbeutel: Schokakola, Ölsardinen, Knäckebrot, MP-Magazine. Die Schießerei kam auf sie zu, Handgranaten barsten, dann war Stille, in sie hinein brüllte eine Stimme: »Werwölfe! Ergebt euch! Wer in zehn Minuten nicht herauskommt, wird erschossen!«

      Da war L. kein Moralist mehr, da glaubte er nicht, er müsse kämpfend untergehen, wie das Gesetz es befahl. Angst packte nach ihm, Lebensangst, Todesangst, da rissen er und Gietzel ihre Tarnkombinationen herunter, damit sie schneller laufen könnten, krochen von dieser Stimme weg, die rief: »Alle herauskommen! Schreiner herauskommen! Loest herauskommen!« Sie krochen, fürchteten: Unten am Weg mußten Amerikaner lauern, mußten sie eingeschlossen haben. An diesen Weg schlichen sie heran, hielten die Maschinenpistolen vor, waren gefaßt, jeden Augenblick beschossen zu werden. Den Weg sahen sie, zwängten sich durch die letzten Fichten, sprangen gleichzeitig hinüber, bekamen kein Feuer, fielen ins Unterholz, hörten Schüsse weit hinten und noch immer diese Stimme, die Namen aufrief wie beim Jüngsten Gericht. Ohne Rücksicht auf Ästeprasseln rannten sie, stießen auf einen anderen Weg, hörten Rufe, Schritte, hoben die Waffen und sahen: Da trieb ein Bauer eine Kuh. Hundert Meter hinter ihnen war noch Krieg, hier wurde eine Kuh zum Verkauf getrieben oder zum Tausch oder zum Bullen. Sie flohen weiter, die Maschinenpistolen in angstschweißigen Händen und in der Brusttasche einen Zettel, auf dem stand, sie wären direkt dem OKH unterstellt. Sie keuchten auf den Berg hinauf, auf dem die Funker sitzen sollten. Dort, so war ihnen gesagt worden, wäre der Sammelpunkt, sollten sie versprengt werden.

      In dieser Nacht sank die Temperatur unter den Gefrierpunkt; es fiel ein wenig eisvermischter Schnee. Sie wagten sich nicht in die schützenden Täler, weil sie fürchteten, sie könnten so einen ihrer Kameraden verfehlen. Sie froren bis ins Mark hinein und ersehnten in jeder Minute das Ende dieser höllischen Nacht. Als es hell wurde, strich ein Aufklärungsflugzeug über die Wipfel, sie hatten den Eindruck, über ihnen bliebe es fast stehen.

      An diesem Tage aßen sie, was sie in ihren Brotbeuteln gerettet hatten; davon wurden sie nicht satt. Immerfort kreisten ihre Gedanken um das Thema, wer der Mann gewesen war, der sie aufgefordert hatte, sich zu ergeben, und woher er ihre Namen kannte. Als es Abend wurde, packte sie Verzweiflung: Noch solch eine Nacht würden sie nicht überstehen. Zwei Wege schienen möglich: versuchen, in einem Dorf unterzukriechen oder sich ins Lager zurückzuschleichen, zu vertrauen, daß die Amerikaner abgezogen waren, ihr Loch nicht gefunden oder nicht alles mitgenommen hatten. Sie entschieden sich für das Dorf.

      In der Dämmerung schlichen sie über harte Schollen heran. Einen Mann hinter einem Schuppen fragten sie nach Amerikanern. Es wären Panzer durchgefahren, jetzt wären keine mehr hier. Konnten sie die Nacht über bei ihm bleiben? Der Mann schüttelte den Kopf, das riskierte er nicht. Aber drei Häuser weiter wohnte der Ortsgruppenleiter der Volkswohlfahrt, dort sollten sie klopfen.

      Entsetzen trugen sie in dieses Haus. »Laßt die Waffen draußen!« rief der Mann, »bloß nicht die Waffen ins Haus!« Er flehte sie an, wieder zu gehen, ihn nicht ins Unglück zu stürzen, ihn und seine Familie. Dann packte ihn Mitleid: Aufwärmen sollten sich die Jungen rasch und etwas essen, dann um Christi willen verschwinden. Die Frau sagte: »Ich hab gerade gebuttert.« Sie sah Jungen vor sich, dachte an ihre Jungen draußen im Krieg, hoffte, eine andere Mutter würde sich ihrer annehmen, wie sie sich dieser Jungen annahm. Sie zog den Kaffeetopf aus der Ofenröhre, schnitt Brot ab und strich Butter auf, und die beiden aßen, aßen, fühlten noch nicht einmal den Beginn einer Sättigung. Die Frau hatte vier Jungen geboren, einer war gefallen, einer in England in Gefangenschaft, zwei waren irgendwo. Die Frau schnitt noch immer Brot ab, strich Butter auf, Gietzel sackte über dem Tisch zusammen. Da kapitulierte der Mann: »Ich verstecke eure Waffen. Bleibt auf der Ofenbank. Ehe es hell wird, wecke ich euch.«

      »Hoffentlich«, sagte L., »fällt in dieser Nacht kein Schnee, damit unsere Spuren Sie nicht verraten.« Er dachte: Hoffentlich fällt Schnee.

      Es schneite in dieser Nacht. Es war noch nicht hell, da führte der Mann sie auf den Boden und bedeckte sie mit Heu. Den ganzen Tag über schliefen sie einen Erschöpfungsschlaf, nur einmal weckte der Mann sie, brachte ihnen Knödel und Fleisch und berichtete, was er im Radio gehört hatte: Hitler war im Kampf um Berlin gefallen. Das galt den beiden als furchtbare Nachricht, nun war alles aus. Der Führer war unsterblich gewesen, nun war er tot. L. malte sich ein Blut- und Brandgemälde: Der Führer feuerte mit einem Maschinengewehr aus einem Fenster der Reichskanzlei, fiel durch Kopfschuß. Die Welt, wie L. sie gesehen hatte, stürzte zusammen. Der Führer war tot, er selbst lebte – nie hatte er geglaubt oder gar sich vorgestellt, dies könne geschehen. Unter Heu lag er, satt, gesund, fror nicht. Regungslos lag er, als müsse nun alles auf der Welt erstarren. Erst war es so still, als läge er wirklich im Grab, als wäre die ganze Welt ein Grab. Dann hörte er Schritte auf dem Hof, eine Frau rief einer anderen Frau etwas zu, er glaubte, sie müsse rufen, daß der Führer tot wäre und daß sie nun auch alle sterben würden. Aber von Eiern war die Rede, eine Tür klappte zu, eine Milchkanne schlug an. Er bewegte die Zehen, sie ließen sich bewegen. Er mußte austreten, das drang allmählich in sein Hirn. Er mußte enorme Energien aufwenden, Heu von sich zu schieben, sich in einen Winkel zu schleppen und die Hose aufzuknöpfen. Sein Wasser lief an einem Balken hinunter, also lebte er. Im Hof wurde ein Pferd angespannt, das ging nicht ohne Ärger ab. Er knöpfte die Hose wieder zu und kroch ins Heu. Ihm dämmerte, daß er nun ganz auf sich gestellt war.

      Im Abenddunkel verließen die Werwölfe das Haus. In der Nacht beobachteten sie im Osten Mündungsfeuer und zählten die Sekunden, bis der Schall an ihr Ohr drang: Weiter als fünfzehn Kilometer war die Front nicht entfernt. Sie schlichen zurück ins Tal und überquerten den Weg, auf dem der Bauer die Kuh getrieben hatte, lauschten, hörten nichts. Eifrig flüsterten sie sich zu: Die Amerikaner mußten abgezogen sein. Trotzdem nahm ihre Erregung zu, je näher sie dem Dickicht kamen, in dem ihr Loch lag. Sie pfiffen wie die Kohlmeisen, niemand antwortete, sie krochen Meter für Meter weiter, jeden Augenblick bereit, Feuer zu erwidern. Ihre Tarnanzüge lagen noch so, wie sie sie hingeworfen hatten, daneben Rucksäcke, Decken und Fleischbüchsen. Noch vor Morgengrauen brachen sie einen Vorratsbunker auf und schleppten Büchsen, Knäckebrot und Heidelbeergläser seitab.