Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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war Nazi. Er war nicht der fette grölende Säufer, den Bücher und Filme mit kleiner Münze darstellen, und nicht der Saalschlachttyp der Kampfzeit. Er war korrekt, gerecht, spartanisch. Für diesen Mann ging eine ganze Schule durchs Feuer. Er war Kathedertäter.

      Fast alle Lehrer überlebten den Krieg. L. hatte nie das Bedürfnis, mit einem von ihnen über das zu sprechen, was sie ihm anerzogen hatten; sicherlich wäre er Ausflüchten und Halbheiten begegnet. Mit einem hätte er für sein Leben gern gesprochen, mit dem Rex. Aber Lehnert wurde mit zwei Dutzend anderer Mittweidaer Faschisten interniert, im Herbst 45 mußten sie unter Bewachung ehemaliger polnischer KZ-Häftlinge auf schlesischen Äckern Kartoffeln roden. Die Bedingungen waren so hart, daß Lehnert den ersten Nachkriegswinter nicht überlebte.

      Im Sommer 1942, L. war sechzehn, ging die Rede, eine neue Waffen-SS-Division sollte aufgestellt werden, die Division »Hitlerjugend«. Die Werber argumentierten: Ein Dilemma bestünde darin, daß die Ausbildungszeiten zu kurz seien; deshalb würde diese Elite länger trainiert werden, nicht drei oder vier Monate, sondern anderthalb Jahre. Bewährte Führer aus anderen Waffen-SS-Einheiten sollten die Division befehligen, die Mannschaften würden ehemalige HJ-Führer sein, das Beste vom Besten, fanatisch, hart. Diese Division sollte geschliffen werden für den entscheidenden Schlag.

      L. und sein Klassenkamerad Joachim Barthel wurden sich schnell einig: Da gehen wir hin! Nicht zur stupiden Infanterie, die Waffen-SS hatte beste Waffen, beste Verpflegung! Wer schon nicht in einen Panzer kriechen wollte, konnte dort auch Panzergrenadier werden oder Panzerabwehr-Kanonier oder Funker. Also auf zum Rex, denn der mußte die Genehmigung geben.

      Er saß, als L. und Barthel die Hacken knallten und die Rechte reckten, schief auf dem Stuhl, den Arm seitlich auf der Lehne. Die beiden SS-Willigen sagten ihr Sprüchlein auf und baten ihren Rektor, er möge ihnen die Erlaubnis und vor allem den Notreifevermerk geben, den Abitur-Ersatz. Der Rex schüttelte ihnen keineswegs anerkennend die Hände. Ob ihn des Nachts bisweilen das Grauen packte, wenn ihn die Erkenntnis überfiel, daß er einen Jahrgang nach dem anderen in den Tod entlassen hatte, daß aufgerieben wurde, was bei ihm um Ovid und Tacitus bemüht gewesen war? Da standen nun wieder zwei, er sollte ihnen das Recht auf besonders frühen Heldentod bescheinigen, und da sagte er: Ihr kommt auch nächstes Jahr noch zurecht.

      Die Waffen-SS-Division »Hitlerjugend« wurde ohne Barthel und Loest aufgestellt, wurde gründlich ausgebildet und im Juni 1944 gegen einen Brückenkopf der Alliierten in der Normandie in Marsch gesetzt. Elite krachte auf Elite. Diese Division wurde aufgerieben. Der Rex hat L.s Lebenserwartung entscheidend erhöht und sein Hirn freigehalten von zweijährigem SS-Einfluß, der nach dem Krieg schwierig herauszuwaschen gewesen wäre. L. wäre in die Ecke gedrängt worden und hätte sich mit belastenderen Schuldgefühlen herumschlagen müssen. Der Rex hat ihm womöglich das Leben gerettet und mit Sicherheit sein Wesen von Verkrustung bewahrt, hat ihm Sensibilität erhalten in einem Maße, daß später aufgehellt werden konnte, der Rex, der Nazi, der Preuße, doch nach dem Warum konnte er im Frieden nicht befragt werden. Barthel und L. meldeten sich enttäuscht ab. Aber Barthel kam dennoch ums Leben, er geriet als Heeresartillerist in Mähren in die letzten Kanonaden, seitdem fehlt von ihm jede Spur. Seine Mutter stand jahrelang nach dem Krieg jeden Abend am Bahnhof, ihr Junge stieg nicht aus dem Zug. Darüber verlor sie den Verstand und verlosch. L. träumte hundertmal die gleiche Geschichte: Achim war wieder da, war schon lange da und wohnte im alten Haus und hatte sich verwunderlicherweise nicht bei ihm eingefunden. Allmählich wurden diese Träume seltener, Mitte der fünfziger Jahre blieben sie aus.

       3

      Vom Sommer 1942 an trug er die grünweiße Schnur des Fähnleinführers und Achselklappen und eine silberne Litze um die Mütze wie ein Offizier. Jetzt hörten hundertzwanzig Jungen auf sein Kommando, das heißt, sie hätten hören sollen. Aber zwanzig bis dreißig hörten außerordentlich ungern auf ihn und einige überhaupt nicht. Er probierte den simplen NS-Trick: Ein paar Rauhbeine ernannte er zu Jungenschaftsführern, prompt reagierten sie ihre Energien nicht mehr gegen ihn, sondern gegen ihre ehemaligen Kameraden ab. Etliches, das bisher zum Dienstbetrieb gehört hatte, starb ab: Sommerlager, Wochenendfahrten, dafür fehlte es an Lebensmitteln, an Schuhen. Bezugsscheine für Uniformstücke wurden an die ausgegeben, die sie am dringendsten brauchten, vor allem an die Führer natürlich, und alle aus L.s Klasse trugen den Winter über Hitlerjugendhosen, auch Andrießen, der es im Jungvolk nicht zu Führerehren gebracht hatte und nun unfroh ein rotweißes Schnürchen in der HJ trug. Er konnte sich nicht vorm Dienst drücken, was er liebend gern getan hätte, denn dann hätte er nicht Fußball spielen dürfen beim Mittweidaer Fußballclub 1899, was er mit Leidenschaft und Befähigung betrieb. Sah er sich auf dem Posten des National-Linksaußen als Nachfolger eines Pesser, Urban oder Arlt?

      Die Schule spielte eine immer kläglichere Rolle. Längst zweifelte niemand aus dieser Klasse daran, daß nun auch sie für diesen Krieg noch zurechtkämen, und das lange vor dem Abitur. Da lohnte es nicht mehr, sich anzustrengen, und alle Lehrer drückten beide Augen zu, außer dem Rex, der das volle Pensum verlangte: Cäsars gallisches Kriegstagebuch wurde übersetzt in flottes Wehrmachtsberichtsdeutsch, terra hieß Gelände. Ob der Deutschlehrer wirklich meinte (wie er nach dem Krieg feilbot), er erwecke demokratische Gedanken, wenn er die Große Französische Revolution ausführlich behandelte? Aber bei einem Appell in der Aula philosophierte er über den verfluchten Satz, daß es süß sei, für das Vaterland zu sterben.

      In diesem dritten Kriegsjahr wurde häufiger gestorben, immer öfter war jemand dabei, den L. kannte, ein Schüler aus einer höheren Klasse, ein ehemaliger Jungvolkführer, bekannt als großartiger Geigenspieler oder Mathematik-As oder Handballgröße oder Schürzenjäger, sie fielen während der Frontbewährung als Fahnenjunkerunteroffiziere oder danach als Leutnants oder erstickten in ihrem zerbombten U-Boot. Verluste im Jahrgang zweiundzwanzig, im Jahrgang dreiundzwanzig, der Jahrgang vierundzwanzig rückte ein. Die Hälfte der Jungen in seiner Klasse gehörte dem Jahrgang fünfundzwanzig an, unter ihnen wurde aus immer aktuellerem Grund diskutiert, zu welcher Waffengattung sie sich melden sollten. L. sehnte sich nicht in die Lüfte und wollte weder in einem Schiffsrumpf noch in einem Panzer eingesperrt sein, aber die brave alte Infanterie, in der schon Großvater und Vater gedient hatten, erschien ihm zu simpel, also meldete er sich zu den Panzergrenadieren. Reserve-Offizierswerber wollte er werden, Offizier für die Dauer des Krieges, dann wollte er Landwirtschaft studieren. Denn ein paarmal hatte er Ferienwochen auf einem Hof in Pommern verlebt, wo Verwandte aus der Linie des Albert L. wohnten, dort hatten es ihm Pferde und Roggenfelder angetan. Auch mit Schmalz gebackene Kuchen, auch geräucherte Gänsebrüste. Es ging die Rede, den dreihundert Jahre lang im Familienbesitz gewesenen, 1928 verschluderten Hof zurückzuerwerben. Das konnte er sich vorstellen: Erbhofbauer in Pommern. Aber erst mußte dieser Krieg gewonnen werden. Daß er ihn überleben würde, stand für ihn fest.

      Den Blitzsiegen schloß sich verteilter Schlagabtausch an, dann prasselte es hageldicht; 1943 wurde spürbar, daß die anderen am längeren Hebel saßen. Niederlagen um Stalingrad und im Kaukasus, Halbgott Rommel konnte Nordafrika nicht halten, Amerikaner und Engländer landeten in Italien, Hitlers Busenkumpan Mussolini stürzte ab, die Offensive von Kursk rannte sich fest, Radarstrahlen enttarnten die U-Boote, weit mehr Bomben fielen jetzt auf Deutschland als auf England. L. saß am Radio, sah die Wochenschau, las Zeitung. Er lauschte durch das Pfeifen der Störsender hindurch so gut es ging dem Londoner Rundfunk und angeblichen Soldatensendern, ganz selten drang Radio Moskau durch. Er hörte die Namen deutscher Soldaten, die in Gefangenschaft geraten waren, und die Namen befreiter sowjetischer Orte; Fakten über Fakten schlugen auf ihn ein, die beweisen sollten, daß Hitler den Krieg entfesselt und verloren hatte. Längst nicht alles glaubte er, preßte aber immer wieder sein Ohr an den Lautsprecher, gierig auf verbotene Frucht. Im Sommer 1943 wurden die Rationen arg gekürzt, obwohl Göring versichert hatte, von jetzt an ginge es dank eroberten Raumes nur noch aufwärts. Da war L. endlich selbst betroffen, nun hieb ihm der Krieg auf den Magen. Vom Sommer 1943 an war der Hunger sein immerwährendes Problem für die nächsten fünf oder sechs Jahre. In allen Büchern, die er später schrieb, spielt Essen eine lustvolle Rolle.

      Nachts heulten nun auch in Mittweida die Sirenen. Über den Hydrierwerken um Leipzig und Halle flammte der Horizont rot und gelb. Nach nächtlichem Alarm begann die Schule eine Stunde später. Fast jeden Nachmittag war Dienst: