Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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Matratzen. L. wäre vor Mittag nicht munter geworden, Gietzel rüttelte ihn mitten in der Nacht. Sie horchten hinaus, Panzer dröhnten vorbei, Schritte klapperten, nicht allzu fern tackte ein Maschinengewehr. Da schoben sie hastig ihre Räder auf die Straße und reihten sich ein in die Flucht. Brand warf roten Schein zwischen die Häuser. Pferdewagen, Soldaten, Sturmgeschütze – ohne ein Wort und ohne Befehl hastete aus Malacky hinaus, was laufen, fahren konnte. Zwischen ihnen schoben sie ihre Räder, lauschten auf das Maschinengewehrfeuer in ihrem Rücken, in ihrer Flanke. Im Freien merkten sie, daß die Nacht nicht völlig dunkel war, stiegen auf und fanden aus dem Pulk hinaus, fuhren über eine leere Straße, durch ein Dorf. Am Straßenrand ballte sich eine Truppe, schwarze Schatten dicht beieinander, schweigend, ein Zug, noch ein Zug, eine Kompanie. Als Gietzel und L. vorbei waren, flüsterten sie von Rad zu Rad, ob das wohl Rotarmisten gewesen wären, für möglich hielten sie es. Später bauschte L. diese Szene auf: Er hätte leise russische Worte gehört, Flüche, man habe sie offenbar selbst für Russen gehalten. Aber damals zweifelte er, argwöhnte nur, und dann geschah nichts mehr bis zur Marchbrücke vor Dürnkrut, dort wachte ein freundlicher Posten unter einer Zeltplane, der ihnen bereitwillig den Weg wies. Nach Wien hinunter? Nach Böhmen hinüber? Gute Fahrt wünschte er mit heller Stimme, freute sich, daß er wieder zweien den Weg in die Heimat zeigen konnte.

      Unvergleichliche Fahrt. Seit einem Jahr war ihr Tag zerhackt gewesen durch eine Kette von Befehlen, jetzt konnten sie rasten, treten, absteigen, schieben, wie sie wollten. Wegweiser: Iglau, Prag. Eine Burg prunkte auf einem Bergkegel, sie hätten sie besichtigt, wenn es nicht zu strapaziös gewesen wäre, die Räder hinaufzuschieben, und zu leichtsinnig, sie unten stehenzulassen. Sie klopften an Bauernhäuser, baten um Brot und bekamen Wurst, Kuchen, Milch, auch von Tschechen. Auf der Ladefläche eines Lastwagens sparten sie die Mühe, die Steigungen vor Iglau hinaufzuschieben, dort schliefen sie in einem Wehrmachtsheim, und als sie am Morgen auf die Straße traten, regnete es in Strömen. Da zeigten sie in der Bahnhofskommandantur ihre Marschbefehle und erzählten ihre Geschichte: Aus der Gegend von Olmütz kämen sie und müßten schnell zumindest nach Prag. Ihre Fahrräder, Tarnjacken, vielleicht die Forsche ihrer Jugend überrumpelten die Unteroffiziere, Feldwebel. Vielleicht glaubten diese Männer mit den Sturmabzeichen und Eisernen Kreuzen, diese abgebrühten Hasen, die alles kannten und alles wußten, vielleicht glaubten sie diese Story, denn es sind die Neunzehnjährigen überall, die sich als Fallschirmjäger, Ledernacken, Kamikazeflieger, Einmanntorpedofahrer melden; Winkelried und der Gardeschütze Matrosow waren neunzehn, falls deren Geschichten nicht ausgedacht sind von cleveren Frontberichterstattern. Und weil man mit Neunzehnjährigen fast alles machen kann und die Feldwebel und Unteroffiziere das wußten – denn auch sie waren neunzehn gewesen und hatten gegen Engeland fahren wollen und Frankreich niedergeworfen, bis sie in Rußland steinalt geworden waren, und wer von ihnen vierundzwanzig war, gehörte zu einer anderen Generation und wußte, daß in zwei Wochen der Krieg zu Ende war, der argwöhnte, daß es dann haarig zugehen könnte inmitten der Tschechen, der verspürte nicht den Ehrgeiz, jemanden aufs Kreuz zu legen – so ließen sie die beiden Kampfgierigen in den Zug steigen, der überfüllt war wie alle Züge in der eng gewordenen Festung Europa und dessen Passagiere unablässig davon sprachen, was sie mit Tieffliegern erlebt oder über sie gehört hatten.

      Prag war voller Leben und Trubel und voller deutscher Soldaten. Wer hatte in einem Wehrmachtsheim dünnes Bier vor sich und einen Teller mit Brot und saurer Gurke und sogar Wurst? Es waren die beiden Gefreiten, die in Prag abhanden gekommen waren, zwei der Freiwilligen von Plauen, der todesmutigen Rangerkandidaten, die beizeiten den Zug verpaßt hatten, nun friedlich frühstückten, sich interessiert anhörten, was in Malacky und Jablonove geschehen war, und die Frechheit besaßen zu sagen: »Schade, daß wir nicht dabei waren!« Ihre Story war nicht ganz klar: Sie bekämen Lebensmittelmarken und Sold von einer Wehrmachtsstelle in Prag, noch sollte entschieden werden, wohin sie geschickt würden, und es wäre für sie hochinteressant, authentisch zu erfahren, daß der Türkenberg im Eimer war, also müßten sie zurück nach Plauen, und die Zeit bis dahin verbrachten sie in Wehrmachtskinos, Wehrmachtsheimen und Gaststätten. »Bleibt mit hier«, rieten sie, »Prag ist prima.« Aber Gietzel dachte: Ein knapper Tag bis Dux. Und L. dachte: Ein überlanger Tag bis Mittweida. Immerhin waren sie so klug, ihre Marschbefehle nach Schönsee vorzuzeigen und zu behaupten, sie führen stracks dorthin. Der Abschied war frostig.

      Am Abend hockten sie in einem klapprigen Zug, der bis Kralup fuhr. Auf Zugbänken schliefen sie und stiegen auf die Räder, sobald es hell wurde. Es begann der Tag der größten sportlichen Leistung, die L. je vollbrachte. Eine wunderbar warme Sonne stieg auf über der Landstraße nach Komotau, über Äckern und Saaten und den Wäldern der Hopfenstangen. Am hohen Vormittag bog Gietzel ab, Dux entgegen, sie schüttelten sich die Hände und versprachen, sich in einer Woche zwölf Uhr mittags im Hauptbahnhof in Eger wiederzutreffen. Sie wünschten sich gute Tage.

      Mittags stieg er in Komotau vom Rad und schob es auf den Kamm des Erzgebirges hinauf. Einmal marschierten ihm Männer in Parteiuniform entgegen, Spaten und Hacken geschultert, sie hatten Panzersperren gebaut. Da fühlte er sich beklommen: Man rechnete also damit, der Feind könnte bis ins Erzgebirge vordringen? War es dann nicht gleichgültig, ob er von Ost oder West kam? Kein schlechtes Gewissen packte ihn, daß er sich Urlaub nahm, er hatte ein Argument: Jedem Soldaten, der an die Front geschickt wurde, stand Abstellungsurlaub von vierzehn Tagen zu. Niemand konnte ihm jetzt diesen Urlaub bewilligen, folglich nahm er ihn sich selbst.

      Vier Stunden lang schob er sein Rad, es wurde Nachmittag darüber. Keilberg und Fichtelberg sah er zur Linken und blickte zurück in die Weite des Egertals. Wind strich hier oben, bald mußte er die sächsische Grenze erreichen. Zwei Polizisten lungerten an der Straße, fragten, woher er komme, wohin er wolle, grämliche ältere Männer, offenbar gesonnen, ihr Scherflein zum Endsieg beizutragen, indem sie einen Deserteur schnappten. Eine neue Geschichte erfand er: Im Egertal wäre der Verkehr zusammengebrochen, denn bei Falkenau hätten die Amerikaner am Mittag eine Brücke zerbombt. Er schlage deshalb einen Bogen über das Gebirge, um von Chemnitz aus mit dem Zug weiterzufahren. Da forderten die Polizisten ihn in ihr Dienstlokal, und als sie sich in der Polizeiwache von Sebastiansberg gegenübersaßen, probierte einer von ihnen einen läppischen Trick: »Sie sind am dritten März fünfundzwanzig geboren?« – L. fühlte sich obenauf: »Am vierundzwanzigsten Februar sechsundzwanzig.« Er beantwortete Fragen nach seiner bisherigen Einheit, dem Tag seiner Einberufung. Aber da hakten sich die Polizisten fest: Er stamme aus Mittweida, seine Eltern lebten dort? Und dorthin wolle er? Sein Wunsch sei logisch, verständlich. Aber er ging ihnen nicht auf den Leim, sondern beharrte auf seiner Geschichte: Nach Chemnitz wolle er, es führe kein anderer Weg nach Bayern. Aus dem Isergebirge komme er, er sei Werwolf und wolle in seinen neuen Einsatzraum. Eine halbe Stunde lang hin und her, Mittweida oder nicht, dann gaben die Polizisten klein bei: »Wir können Ihnen nichts beweisen.« Er bekam sein Soldbuch zurück und stieg aufs Rad, kreuzte die sächsische Grenze, kaute Speck und trank Wasser aus einem Bach. Er jagte nach Marienberg hinunter, beneidete Gietzel: Der saß längst zu Hause; fürchtete, die Polizisten von Sebastiansberg könnten ihre Kollegen in Mittweida benachrichtigen: Paßt auf, ob ein gewisser Loest kommt! Er trat in die Pedale, das Kinn auf den Lenker herunter, Heimfahrt, Friedensfahrt. Leer lagen die Straßen an diesem Abend, kein Auto traf er und keine Streife. Auf der Höhe von Dreiwerden hielt er an. Ohne Verdunklung in dieser Kriegsnacht hätte er jetzt die Lichter seiner Heimatstadt gesehen.

      In dieser Nacht flogen britische Bomber über Mitteldeutschland und weckten Sirenen auch die Bewohner Mittweidas. Manche gingen in die Keller, manche traten vor die Häuser, horchten, schauten, andere blieben in den Betten. Alfred Loest stellte sich vors Haus, begrüßte Schatten, die aus den Nebenhäusern traten. Schein am nordwestlichen Horizont: Espenhain, Böhlen, Leuna, dort fielen Bomben wie in vielen Nächten. Da schob jemand ein Fahrrad neben ihn und sagte: »Guten Abend, Herr Loest.« Keine Verwunderung, kein Erkennen, Alfred L. erwiderte den Gruß, hörte das Entwarnungszeichen und wandte sich seinem Haus zu. Er konnte die Tür nicht schließen, das Vorderrad eines Fahrrades klemmte dazwischen.

      Zwei Stunden lang saßen sie am Tisch, Vater, Mutter, Schwester und der heimgekehrte Sohn. Umarmungen, Muttertränen. Hastiger Bericht, hastiges Essen, dann versteckte der Vater Fahrrad, Karabiner und Handgranaten. Erst mal ausschlafen, morgen in Ruhe beraten – ihn hatte niemand gesehen? An die Polizisten von Sebastiansberg dachte der Gefreite L., wog die Gefahr