Boat People. Sharon Bala

Читать онлайн.
Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



Скачать книгу

Flüchtlingsgesetz ist also ganz schön launisch, dachte ­Priya. Umso wichtiger wäre es, einen Experten hinzuzuziehen. Dann aber hätte er niemanden, dem er seine Weisheit predigen könnte.

      Dieses eine muss man begreifen, sagte Gigovaz, im Einwanderungsgesetz können die Richtlinien und ihre Ausführung weit auseinanderklaffen. Er löste die Hände aus ihrer Umklammerung und hielt ihr diesen Abstand demonstrativ vor Augen. Wenn es um Flüchtlinge geht, hat unser Land eine gespaltene Persönlichkeit.

      Dreihundert Menschen an Bord eines Schiffes, das rund um die Welt im Kollisionskurs auf Kanada zuschaukelt. Sie wurden gesichtet, sagte Gigovaz. Geheimdienste, Satelliten, Sichtungsberichte aus internationalen Häfen. Wochenlang haben sie allesamt gewartet. Jetzt sind die Leute hier.

      Und was wird aus ihnen?, fragte Priya. Ich meine, werden sie bleiben dürfen?

      Eine Lautsprecheransage wies die Passagiere noch einmal an, ihre mitgeführten Haustiere in den Autos zu lassen. Gigovaz fixierte den Lautsprecher an der Decke, bis die geisterhafte Stimme verstummte.

      Mein allererster Klient war ein Rohingya. Wissen Sie, wer die Rohingya sind?

      Als Priya kopfschüttelnd verneinte, erhob Gigovaz seine Zeigefinger, die wie zwei Kirchtürme nach oben wiesen, und dann brachte er die Spitzen zusammen.

      Das ist eine Minderheit in Myanmar – Muslime in einem buddhistischen Land. Staatenlos und unterdrückt. Ibrahim Mosar. Er hatte keine rechte Hand mehr. Brandflecken von Zigaretten auf der ganzen Brust.

      Priya zuckte zusammen und Gigovaz sagte: Ich war heißblütig und ungehalten wie jeder andere junge Flüchtlingsanwalt, und hier war mein Klient, ruhig und gelassen. Inschallah, Mr. Gigovaz, sagte er immer. So Gott will.

      Que será, será, sagte sie. Vermutlich eine Möglichkeit, sein Schicksal zu akzeptieren.

      Wir tun unser Bestes, sagte Gigovaz. Unsere Klienten tun ihr Bestes. Alles andere liegt an …

      Er hob seine Hände so, als balancierte er eine Servierplatte.

      Allah?, fragte sie.

      Dem Entscheider, sagte Gigovaz. Er griff blind mit einer Hand unter seinen Sitz. Sie näherten sich dem Fährhafen.

      Und was ist aus Ibrahim geworden?, fragte Priya.

      Gigovaz war aufgestanden und hielt seine Aktentasche in der Hand. Der Antrag wurde abgelehnt. Sie haben ihn zurückgeschickt.

      FROH, HIER ZU SEIN

      Die Einwanderungsbeamten verteilten Bananen und Wasser und sammelten Ausweispapiere ein. Mahindan hatte alles in seinem Koffer, in einer versiegelten Plastiktüte – Geburtsurkunden, Personalausweise, Sellians Impfbescheinigung. Er stand im Menschengewirr, hielt Sellian an der Hand und wartete, bis man ihn aufrief. Plötzlich gab es ein wildes Gedränge, Ranga humpelte mit Höchstgeschwindigkeit heran, winkte ihm zu, als wären sie alte Freunde. Als einer der Aufsichtsbeamten seine Papiere anforderte, blickte Ranga hilfesuchend zu Mahindan hinüber, zog dann aber einen zerfledderten Ausweis aus seiner Tasche. Mahindan wandte sich irritiert ab.

      Als er an der Reihe war, übergab Mahindan stolz seine Papiere, wohl wissend, wie sorgfältig er sich auf diesen Moment vorbereitet hatte. Dieses eine hatte er jedenfalls richtig gemacht. Sie nahmen ihm auch den Koffer ab. Als aber Sellian anfing zu weinen, erlaubte ihm der Beamte mit den blauen Augen, die kleine Ganescha-­Figur herauszunehmen, und er klopfte Sellian mit der Hand im lila Handschuh freundlich auf die Schulter. Mahindan starrte traurig auf seinen zerbeulten alten Hartschalenkoffer mit den stabilen Schnappverschlüssen aus Messing und den ärmlichen Schätzen darin – ein Hochzeitsalbum, Chithras Sterbeurkunde, seine Haus- und Garagenschlüssel. Das war alles, was von seinem Hab und Gut übrig geblieben war. Aber er sagte sich, dass er etwas besaß, das viel kostbarer war. Sicherheit. Hier. Hier konnte man atmen.

      Männer und Frauen wurden getrennt und angewiesen, sich in geordneten Reihen aufzustellen. Den Erwachsenen wurden Handschellen und Fußfesseln angelegt. An der Sorgfalt, mit welcher der Sicherheitsbeamte die beiden Enden der Schellen und Fesseln zusammenfügte, um ja nicht in die Haut zu kneifen, erkannte Mahindan, dass der Mann dies ungern tat.

      Nur auf kurze Zeit, versicherte Mahindan seinem Jungen, zu unserer eigenen Sicherheit.

      Es gab nicht genügend Tamil-Dolmetscher, und die Schutzmasken, die die Kanadier trugen, machten es schwer, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Mahindan konzentrierte sich auf die Augen und war überrascht von all den Farben, den Schattierungen von Blau, den grünen Flecken, den unterschiedlich tiefen Brauntönen. Die einzigen weißen Menschen, die er bisher gesehen hatte, waren Arbeitskräfte der Vereinten Nationen, und an die wollte er jetzt nicht denken.

      Mahindan hatte sich Kanada immer als ein Land der Weißen vorgestellt, aber jetzt bekam er auch dunkle Augen zu sehen, Chinesen und Japaner und Schwarze und andere, die vielleicht aus Indien oder Bangladesch stammten. Es war ein Ort für alle.

      Ranga machte sich an ihn heran. Endlich sind wir in Sicherheit, sagte er und kratzte gedankenlos an einer langen Narbe, die ihm quer über eine Wange lief.

      Mahindan sah ihn finster an und wich ihm aus. Jedes Mal, wenn er und Sellian sich auf dem Schiff umdrehten, stand er da mit seinem gelähmten Bein. Direkt hinter ihnen, wenn sie bei der Essensausgabe standen und ihre Ration holten; direkt neben ihnen, wenn er zur Nacht seine Schlafmatte ausrollte.

      Ein Polizist bellte irgendetwas in sein Funkgerät. Ein Rot-Kreuz-Helfer redete nachdrücklich mit den Händen. Mahindan hörte unvertraute Laute, harte, gutturale Konsonanten, die flach, einer nach dem andern, aufklatschten. Irgendwann würde das auch seine Sprache sein. Englisch. Eine neue Sprache für ein neues ­Zuhause.

      Sein Großvater hatte Englisch gesprochen. Er war zum Studium nach London gegangen und hatte als Beamter in Colombo gearbeitet, bis Singhalesisch zur alleinigen Amtssprache erklärt wurde und damit seine Beamtenlaufbahn endete. Es war der alte Koffer seines Großvaters, den sie ihm jetzt weggenommen hatten.

      Beamte und Freiwillige in Gummistiefeln und Uniformen verständigten sich laut rufend mit angegriffenen Stimmen und überanstrengten Gesten. Möwen kreisten kreischend über ihren Köpfen. Dieser Wirrwarr erinnerte Mahindan an ihre Gefangennahme in Sri Lanka. Das war am Ende des Krieges, als die sri-lankische Armee die Tamilen zusammengetrieben hatte. Es gab allerdings einen Unterschied: Hier hatten sie nichts zu befürchten, und selbst Sellian sah sich die fremde Landschaft und die Reihen von Bussen eher neugierig als verängstigt an.

      Mahindan glaubte, dass sie bald einsteigen würden. Er stand bei den Männern und versuchte vergeblich, von Ranga wegzukommen. Die Schlangen wurden immer länger. Mahindan nickte einer Familie zu, die er aus dem Gefangenenlager kannte. Diese Leute aber bemerkten ihn nicht, oder sie vermieden den Augenkontakt absichtlich. Als sie in Sri Lanka an Bord gingen, hatte es ihn überrascht, so wenige seiner Kunden auf dem Schiff anzutreffen. All die endlosen Tage auf dem Meer, und sie hatten kein einziges anderes Schiff gesehen. Vielleicht war es das Beste für ihn, dass sie nicht hier waren; es war gut, sich von allem zu lösen. Trotzdem fragte er sich: Sind sie an Land zurückgelassen worden? Ist ihr Schiff gekentert? Sind sie im Meer ertrunken? Er merkte, wie seine Zähne anfingen zu klappern. Um sich wieder zu fangen, fokussierte er seine Gedanken auf Sellian. Wir sind in Sicherheit.

      Seit einigen Stunden schon waren sie an Land, aber immer noch schwankte in seinen Beinen das Meer. Bei dem Gedanken an die ersten schlimmen Tage auf dem Schiff, an die sturmgepeitschten Wellen, an die penetrante Übelkeit tagein, tagaus, schwor er sich: Nie wieder.

      Er hätte sich gern hingehockt, um die schmerzenden Fußsohlen zu entlasten, aber die Fesseln machten es unmöglich. Alle schwiegen, selbst die Kinder schafften es, dank Essen und Trinken, sich still zu verhalten. Hoffnung lag in der Luft.

      Sellian reichte ihm ein Saftpäckchen. Möchtest du, Appa?

      Nein, Baba, sagte Mahindan. Trink du es aus.

      Lila Saft schoss durch den Strohhalm. Sellian sog in kurzen, hastigen Zügen, seine Augen schossen nach links und rechts. Mahindan betrachtete ihn liebevoll und erleichtert. Er schlurfte seitwärts nach rechts, legte